Zivilcourage in Deutschland: Einschreiten oder wegducken?
Tugce Albayrak schritt ein, als andere bedroht wurden. Ihr Tod zeigt, wie wichtig Zivilcourage ist – aber auch, wie gefährlich sie mitunter sein kann.
Hätte sie am frühen Morgen des 15. November keinen Hunger bekommen, wäre die 22-jährige Tugce Albayrak nicht bei McDonald’s in Offenbach eingekehrt. Wären zu dieser Zeit nicht zwei halbwüchsige Mädchen, von Zeugen als blond und sturzbetrunken beschrieben, auf der Toilette im Erdgeschoss von einem jungen Mann belästigt worden, hätte Tugce Albayrak nicht getan, was sie getan hat.
Wenn sie nicht die Hilferufe der beiden Mädchen gehört und eingegriffen hätte, hätte sie ihren 23. Geburtstag noch feiern können. Der Täter Sanel M. (18) streckte Albayrak vor der Filiale mit einem Schlag nieder; sein Opfer stürzte so unglücklich, dass es aus dem Koma nicht mehr erwachen sollte. Hätte, wäre, wenn. Der Konjunktiv kann grausam sein.
Ob es sich so zugetragen hat, wovon die Polizei bisher ausgeht, wird sich noch zeigen müssen. Das Überwachungsvideo vom Parkplatz zeigt den echauffierten Täter, den sein Kumpel kaum bändigen kann. Es zeigt Tugce Albayrak, unbeeindruckt und umringt von Freunden. Sanel M. hat den Schlag gegen die Schläfe eingeräumt, seitdem schweigt er in Untersuchungshaft.
In Offenbach trauerten Tausende um das Opfer, in der ganzen Republik gab es Mahnwachen für die junge Studentin aus Gelnhausen. Sie galt als „perfekt integriert“, Lehrerin für Deutsch und Ethik hatte sie werden wollen. Ihr Vater bezeichnete sie in seinem Schmerz als „Märtyrerin“, und das scheint nicht zu hoch gegriffen. Sogar ihre Organe kamen noch anderen Menschen zugute, sie war Inhaberin des entsprechenden Spendeausweises.
Derzeit prüft das Bundespräsidialamt, ob Albayrak posthum das Bundesverdienstkreuz verliehen werden soll. So wie damals Dominik Brunner, der an einem Münchener S-Bahnhof unter ähnlichen Umständen zum Opfer einer Gewalttat wurde und nach seinem Tod vom damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler zum „Zeichen der Dankbarkeit aller mitfühlenden Menschen in Deutschland für die Menschlichkeit, die Hilfsbereitschaft und die Zivilcourage“ geehrt wurde. Wenn es im säkularen Staat etwas gibt, das einer Heiligsprechung am nächsten kommt, dann ist es das Bundesverdienstkreuz.
Entscheidung in Sekunden
Wenn aber das Martyrium ein Tod für eine Sache ist und die Märtyrerin ein „Blutopfer“ für einen Glauben – welche Sache und welcher Glauben ist damit gemeint? Wofür genau ist Tugce Albayrak gestorben? Die Petition zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes auf change.org hat bereits 65.000 Unterstützer und ist interessant begründet. Albayrak habe die Ehrung verdient, weil sie „eingeschritten ist, als viele weggeschaut haben“.
Zugleich habe „diese junge Frau gezeigt, dass Rückgrat und Eintreten für andere nicht einfach ist“, dass also dieses Eintreten für andere auch tödlich enden kann. Diese Ambivalenz macht den Fall so brisant, münden alle Sonntagsreden zur Zivilcourage am Ende doch in eine Frage, die jeder für sich allein und womöglich binnen Sekunden beantworten muss: Einschreiten oder wegducken?
„Schauen Sie bei kritischen Situationen nicht weg“, rät die Polizei: „Sprechen Sie andere Menschen an, suchen Sie sich Verbündete. Gemeinsam können Sie stärker auftreten. Überschätzen Sie Ihre Möglichkeiten nicht. Bringen Sie sich nicht selbst leichtsinnig in Gefahr!“ Aber wie, bitte, bringe man sich denn sonst in jene Gefahr, die jede Konfrontation mit einem möglichen Gewalttäter darstellt? Mit Nahkampfausbildung oder Elektroschocker, vorsichtshalber? Wo waren die „anderen Menschen“, die „Verbündeten“?
Es ist wohl eine Charakterfrage, ob man sich einmischt. Tugce Albayrak hat diesen Charakter gezeigt. Ihr war das Einschreiten eine Selbstverständlichkeit, für die sie einen viel zu hohen Preis gezahlt hat. Ihr Handeln beschämt, weil wir alle sein sollten wie sie – während ihr Tod zugleich eine gute Begründung dafür liefert, warum wir es im Zweifelsfall nicht sind.
Gekränkter Machismo
Daher auch die quasireligiöse Überhöhung, die Albayrak derzeit in der Öffentlichkeit erfährt. Als „Heldin“ wird sie bezeichnet und in sozialen Medien sogar als „Engel“, der zärtlich mit dem Vornamen angesprochen wird, weil er zur Familie gehört. In dieser Erzählung ist sie die „gute“, weil vollendet assimilierte Tochter einer türkischer Familie; eine, die unsere Werte besser verinnerlicht hat als wir selbst.
Im gleichen Maße sinkt der polizeibekannte Täter in unseren Augen herab und verwandelt sich in das Böse schlechthin. Sitzt da in seiner JVA Wiesbaden, sagt kein Wort. Ein muslimischer „Bubi“ (Bild) vom Balkan, gewaltbereit und überdies in seinem Machismo gekränkt von einer selbstbewussten Frau. Als „Transe“ soll er Albayrak beschimpft haben, weil es eben nicht sein kann, dass eine zierliche Frau den Mumm hatte, ihn zurechtzuweisen.
So kocht nun jeder sein Süppchen. Der Bundespräsident Joachim Gauck prüft, die Medien fordern Zivilcourage, und der Hessische Landtag hat sich „einmütig dafür ausgesprochen, Gewalt gegen und Diskriminierung von Frauen entschiedener zu bekämpfen“. In einschlägigen Foren wird bereits eifrig der Verlust eines „wertvollen Lebens“ bedauert, während wertlose Menschen „wie Sanel M. frei herumlaufen und bei Gelegenheit auch töten dürfen“. Dabei spielen weder Geschlecht noch Herkunft eine Rolle. Tugce Albayrak steht sinnbildlich für das Glücken, Sanel M. exemplarisch für das Scheitern unserer Gesellschaft.
Zivilcourage? Die beiden Mädchen, denen Albayrak zu Hilfe eilte, haben sich bis heute nicht als Zeuginnen gemeldet. Sie bleiben weggeduckt, vorsichtshalber.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Fortschrittsinfluencer über Zuversicht
„Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“