Zerstörter Staudamm in der Ukraine: Land unter
Die Sprengung des Kachowka-Staudamms fällt zusammen mit dem erwarteten Start der ukrainischen Offensive gegen Russland. Die Folgen sind unabsehbar.
Am 5. Juni gingen ukrainische Einheiten an mehreren Frontabschnitten im Gebiet Donezk bereits zum Angriff über. Sie eroberten nahe der seit vielen Monaten umkämpften Stadt Bachmut Gebiete zurück, und an der südlichen Front in Richtung Mariupol durchbrachen sie mit Spähpanzern eine russische Verteidigungslinie, rückten mehrere Kilometer tief in russisch besetztes Gebiet vor und nahmen mehrere Ortschaften ein. „Dies könnte der Beginn des Tages aller Tage sein“, twitterte der ukrainische Militärjournalist Ilia Ponomarenko am Abend in Vorfreude.
Mitten in der Nacht ging es tatsächlich los – aber anders. Der russisch besetzte gigantische Kachowka-Staudamm am Fluss Dnipro brach zusammen, höchstwahrscheinlich als Ergebnis einer Sprengung. Seitdem ergießen sich riesige Wassermassen flussabwärts Richtung der Großstadt Cherson, die nun unter Wasser gesetzt wird. Eines der Horrorszenarien, die seit Kriegsbeginn im Februar 2022 als ultimative Eskalationsstufe des russischen Angriffskrieges befürchtet werden, droht Wirklichkeit zu werden, eine gigantische ökologische Katastrophe ist bereits sicher.
„Eines der größten Kriegsverbrechen und unserer Zeit und ein Terrorakt“, kommentierte Ilia Ponomarenko das jetzt. Aus seiner Sicht will Russland mit der Sprengung des Dammes die ukrainische Armee daran hindern, den Dnipro vom ukrainisch kontrollierten Nordufer auf den russisch besetzten Süden zu überqueren – ein denkbares Kernelement einer umfassenden Gegenoffensive, um Russlands Armee aus dem Süden der Ukraine zu verjagen. Ähnlich analysierten das später offizielle ukrainische Stellen und westliche Militärbeobachter.
Empfohlener externer Inhalt
Zerstörung der Ernte
„Es ist nicht ihr Land, also plündern, zerstören und überfluten sie es lieber und lassen kein Haus intakt. Es wird Jahrzehnte dauern, bis die Ukraine sich von den Barbaren erholt“, schrieb Ponomarenko. Der ukrainische Regierungsberater Anton Geraschtschenko wies darauf hin, dass die Fluten auch wichtige landwirtschaftliche Gebiete der Ukraine unter Wasser setzen und die bevorstehende Ernte zerstören. „Der Süden der Ukraine ist eines der wichtigsten Agrargebiete der Welt“, schrieb er. „Die Zerstörung des Kraftwerks wird das Land fluten, die Bewässerungssysteme zerstören – als Ergebnis werden weniger Lebensmittel angebaut und exportiert und die globale Ernährungskrise wird sich verschärfen. Russland wird die Welt weiter mit Lebensmittelterrorismus erpressen.“
Der Kachowka-Damm ist ein gewaltiges Betonbauwerk aus den 1950er Jahren, 30 Meter hoch und 3,2 Kilometer breit, Teil von Stalins ambitioniertem Wiederaufbau- und Industrialisierungsprogramm für die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Talsperre gehört zu dem gleichnamigen Wasserkraftwerk mit einer Kapazität von 357 Megawatt. Gut 80 Kilometer flussaufwärts von der Hafenstadt Cherson staut sie den Dnipro auf einer Länge von 240 Kilometern auf, der Stausee dahinter ist 2155 Quadratkilometer groß und enthält, wenn er voll ist, rund 18,2 Kubikkilometer Wasser. Das ist im Vergleich nicht viel – der Bodensee enthält 48 Kubikkilometer, weil er sehr viel tiefer ist – aber mehr als genug, um eine gigantische Katastrophe anzurichten, wenn das Wasser sich unkontrolliert Richtung Cherson ergießen kann.
Das Tal am Unterlauf des Dnipro im Süden der Ukraine selbst ist zum Glück recht breit, sodass sich die Wassermassen einigermaßen verteilen können. Bereits kurz nach dem gebrochenen Damm weitet es sich auf 4 Kilometer, bei Cherson sogar 6 Kilometer. Am flachsten und breitesten ist das Tal am östlichen beziehungsweise südlichen Ufer, das Russland besetzt hält. Es entsteht nun durch die Flut ein gigantischer neuer See, der die Ukraine auf Abstand hält, eine neue Verteidigungslinie für die russischen Angreifer aus Wasser.
Die Talsperre von Kachowka ist noch aus anderen Gründen von zentraler militärstrategischer Bedeutung. Zum einen liegt das russisch besetzte Atomkraftwerk Saporischschja rund 150 Kilometer flussaufwärts von Kachowka direkt am Stausee. Es wird daraus mit Kühlwasser versorgt. Wenn der Wasserstand sinkt, könnte das die Kühlung gefährden. Noch geht die UN-Atomaufsichtsbehörde IAEA allerdings davon aus, dass es für die Kühlung des AKWs ausreichend Wasser gibt, da es auch bei einem Absenken des Wasserpegels im See über eigene Reserven verfügt.
Lebensader des Nord-Krim-Kanals
Zum anderen speist der Stausee den Nord-Krim-Kanal, der seit den 1950er Jahren Wasser aus dem Dnipro auf die mit eigenen Wasservorräten unterversorgte Krim bringt. Nach der russischen Besetzung und Annexion der Krim 2014 hatte die Ukraine diesen Kanal gesperrt. Als am 24. Februar 2022 der russische Großangriff auf die Ukraine begann, gehörte Nowa Kachowka nicht von ungefähr zu den ersten Angriffszielen. Die russischen Soldaten, die blitzartig aus der Krim nach Norden bis an den Dnipro vorstießen, besetzten Nowa Kachowka bereits am selben Nachmittag. Der Krimkanal wurde umgehend wieder geöffnet. In den Tagen darauf überquerte das russische Militär auch an anderen Stellen den Fluss und nahm unter anderem die Großstadt Cherson ein.
Als die Ukraine im Herbst 2022 mit der Rückeroberung dieser Gebiete begann, wurde die Wasserkraftanlage Kachowka zum russischen Faustpfand. Ukrainische Präzisionsschläge, um die Nachschubwege der russischen Armee auf das nördliche Dniproufer zu unterbrechen, trafen auch die Straßenbrücke auf dem Damm. Die Ukraine und Russland warfen sich gegenseitig vor, die Sprengung der Talsperre zu planen, um die Stadt Cherson unter Wasser zu setzen. „Russische Terroristen“ hätten den Damm „vermint“, um ihn sprengen und damit eine Katastrophe anrichten zu können, warnte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski am 20. Oktober 2022 in einer Videoansprache vor den Staats- und Regierungschefs der EU.
Nachdem sich Russland im November schließlich aus Cherson zurückzog, soll es mit kontrollierten Sprengungen den Damm beschädigt haben, um die Ukraine daran zu hindern, auf ihm den Fluss nach Süden zu überqueren. Anders als mehrfach angekündigt, räumten die russischen Truppen den Ort Nowa Kachowska damals aber nicht. Sie behalten bis heute die Kontrolle über den Ort und damit auch die Kontrolle über Kraftwerk und Damm.
Je konkreter in den vergangenen Monaten die Vorbereitung der ukrainischen Gegenoffensive wurde, desto konkreter wurde auch die Sorge, was Russland mit dem Kachowka-Damm anstellen könnte. Monatelang war der Wasserpegel im Stausee gesunken, auf nur noch knapp über 14 Meter im Februar statt der üblichen rund 16 Meter. Dann ließen die russischen Besatzer ihn offenbar wieder abrupt steigen. Mitte Mai wurde ein Pegelstand von bis zu 17,5 Metern gemessen, der See lief zeitweise sogar über. Der Wasserdruck auf die Staumauer könnte dadurch größer geworden sein, als er sein darf. Selbst wenn dies und nicht eine Sprengung der Hauptgrund für den Dammbruch sein sollte, wären dafür die zuständigen russischen Stellen verantwortlich.
Historisches Vorbild
Gegen Überdruck und technische Probleme als Ursache für den Dammbruch sprechen allerdings die übereinstimmenden Berichte über eine gewaltige Explosion in der Nacht, ebenso die am Dienstag verbreiteten Bilder von dem zerstörten Damm. „Seit über einem Jahr kontrolliert Russland den Damm und das Kraftwerk Kachowka“, erklärte Selenski am Dienstagnachmittag. „Es ist physisch unmöglich, ihn irgendwie von außen zu sprengen durch Beschuss. Er wurde von den russischen Besatzern vermint. Und sie haben ihn gesprengt.“ Er spricht vom „größten menschengemachten Umweltdesaster in Europa seit Jahrzehnten“.
Die Zerstörung des Staudamms hat ein historisches Vorbild. 1941 sprengte die Rote Armee den Damm des Saporischschja-Stausees, um die herannahenden Truppen der nationalsozialistischen Wehrmacht am weiteren Vordringen zu hindern. Eine mehrere Meter hohe Flutwelle soll sich damals durch das Tal des Dnipro ergossen haben, mehrere Zehntausend Menschen kamen ums Leben, laut einigen Quellen waren es sogar mehr als 100.000 Opfer, obwohl der Saporischschja-See wesentlich weniger Wasser enthält als der nun betroffene Kachowkaer Stausee. Die Deutschen bauten den Damm wieder auf, nur um ihn 1943 erneut zu zerstören, um die zurückdrängende Armee der Sowjetunion aufzuhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend