Zeitschrift „Sinn und Form“ in der DDR: Kultur unterm geteilten Himmel
Wie haben die Schriftsteller in der DDR diskutiert? Im nun online gestellten Archiv der Zeitschrift „Sinn und Form“ kann man das nachlesen.
Die Kulturgeschichte des Staatssozialismus bestand – ebenso wie seine Wirtschaftspolitik – in einer von der eignen Dynamik angetriebenen Pendelbewegung zwischen Liberalisierung und panischer Rückkehr zur reinen Lehre. Kriegskommunismus – Neue Ökonomische Politik – Stalinismus – die Chruschtschow-Reformen – neue Orthodoxie unter Breschnew – Perestroika.
Es ist die Gangart eines Weltgeistes, der mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß steht. Die Kultur – und vor allem die Literatur – folgte den Ausschlägen des sozialistischen Perpetuum mobile oft mit Verzögerung.
Die jetzt erfolgte Digitalisierung und Zugänglichmachung der Jahrgänge 1949–1991 von Sinn und Form – der bedeutendsten Kulturzeitschrift der DDR – bietet, neben vielen literarischen Überraschungen und Genüssen, die Chance, den Lenin-Stalin-Chruschtschow-Breschnew-Gorbatschow-Shuffle auf Deutsch und auf hohem intellektuell-künstlerischen Niveau nachzuverfolgen.
Was sich besonders deshalb lohnt, weil Kultur neben dem Sport das einzige Gebiet ist, auf dem die DDR unbestreitbare (und zum Teil bis heute weiterwirkende) Hochleistungen hervorgebracht hat – eine Tatsache, die als wenig bedachter Elefant im Raum vielleicht auch im Hintergrund der derzeitigen Debatten über die so unterschiedlichen DDR-verstehen-Bücher von Dirk Oschmann, Katja Hoyer und Steffen Mau eine verschwiegene Rolle spielt.
Vergangenheit: Vor 75 Jahren, 1949, wurde die Zeitschrift „Sinn und Form“ gegründet, Peter Huchel war der erste Chefredakteur. Zum Jubiläum wurden für Digital-Abonnenten soeben die DDR-Jahrgänge zugänglich gemacht. Infos: www.sinn-und-form.de
Gegenwart: Herausgegeben von der Berliner Akademie der Künste, erscheint die Zeitschrift weiterhin vierteljährlich. Chefredakteur ist Matthias Weichelt. Die aktuelle Ausgabe enthält u. a. Texte von Dacia Maraini, Julien Gracq, Isabel Fargo Cole, Cécile Wajsbrot und Mircea Cărtărescu.
Ein zusätzlicher Reiz der Lektüre kommt dadurch zustande, dass sich die jeweiligen Wendungen und taktischen Manöver der DDR-Kulturpolitik in den Texten und der Zusammenstellung der Hefte eben fast nie offen aussprechen, sondern sozusagen detektivisch erraten werden müssen. Hinter vielen dieser – so gut wie immer brillanten wie gesondert aufpoliert wirkenden – Lesestücke steckt eine politische Absicht.
Naturgedichte als Versuchsballons
Naturgedichte sind zu verstehen als ideologische Versuchsballons; oder lesbar als kulturpolitische Repliken. Ein Lektüre-Tauchgang mit dem Digitalarchiv von Sinn und Form ist erst komplett, wenn man neben dem Laptop die monumental-dreibändige DDR-Kulturgeschichte Gerd Dietrichs aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht liegen hat. Die Erlebnisse auf diesem jetzt möglich gewordenen Lektüre-Ausflug in ein untergegangenes Land sind stereoskopischer Natur.
Alles beginnt 1949 im Zeichen der „Volksfront“-Idee einer „antifaschistischen Demokratie“ – und mit dem leicht skurrilen, zugleich linksbildungsbürgerlichen und für eine illusionär missverstandene „Sowjetkultur“ offenen Mischmilieu, für das Heinrich Mann stand. Er war als Präsident der Ostberliner Akademie der Künste vorgesehen; ein Funktionärsschicksal, vor dem ihn 1950 sein Tod bewahrt hat. Dagegen machte den großen, von Jorge Luis Borges bewunderten Lyriker Johannes R. Becher – allgegenwärtiger Sinn-und-Form-Autor und nach dem Juniaufstand 1953 Kulturminister – die Lebenslüge seiner sozialistischen Offizialexistenz psychisch kaputt.
Denn schon längst vor dem XX. Parteitag hatte er verstanden, dass jene von ihm zu repräsentierende „antifaschistische“ Bürgerlichkeit nur eine Fassade derselben Mafia war, die er im Moskauer Hotel Lux während der Emigration kennengelernt hatte, dem Unterbringungsort zahlreicher aus aller Welt nach Moskau geflüchteter Kommunisten, aus dem die stalinistische Geheimpolizei allnächtlich angebliche Verräter abholte und den üblichen Folterungen, Verhören, Selbstbezichtigungen (und schließlich fast immer dem Gulag) zuführte. Bechers Confessio „Selbstzensur“, geschrieben 1956 (zwei Jahre vor seinem Tod), erschien freilich erst 1990 in Sinn und Form: „Ich ahnte nicht nur, ich wußte!“
Polemiken gegen Bertolt Brecht
Der Theoriepapst dieser bürgerlich-„antifaschistischen“ Phase ist Georg Lukács gewesen, dessen Plädoyers für eine marxistische Umdeutung der bürgerlichen Literatur des 19. Jahrhunderts in fast jedem Heft dieser Jahrgänge auftauchen. Die prominenteste Zielscheibe der linksbürgerlich-marxistischen Fraktion aber – eine der vielen Überraschungen des jetzt möglichen Archivzugangs – war Bertolt Brecht, dessen episches Theater unter schwerstem Formalismusverdacht stand.
Vor allem Fritz Erpenbeck, der Großvater der Bookerpreisträgerin, polemisierte in Theater der Zeit gegen ihn, in Sinn und Form hielten Hans Mayer und Ernst Fischer dagegen. Lukács stürzte 1956 nach seiner Verwicklung in den ungarischen Aufstand. Er erscheint erst 1990 wieder – mit einem Interview – in Sinn und Form. Dafür tritt Brecht, von Becher protegiert, als der „marxistische Klassiker“ in den Vordergrund und ist von da an auch posthum nicht mehr wegzudenken aus Sinn und Form.
1956 war überhaupt ein Schlüsseljahr. Freilich ein widersprüchliches: Entstalinisierung, Ungarn-Aufstand, Verhaftung von Wolfgang Harich und Werner Janka vom Aufbau-Verlag, die Rückkehr der Dresdener Beutekunst aus dem Moskauer Puschkin-Museum, erste Aufmerksamkeit für Peter Hacks, Heiner Müller und Heinar Kipphardt, Brechts Tod, der Beginn der Kaltstellung der Sinn-und-Form-Prominenzautoren Ernst Bloch, Ernst Fischer und Hans Mayer, das Sonderheft über Bertolt Brecht im Januar 1957. Die SED versuchte dem Tauwetter in Moskau gerecht zu werden, ohne in einen Strudel à la Budapest zu geraten.
Die einschneidendste Veränderung des Ungarn-Jahrs für Sinn und Form, wo der große Lyriker Peter Huchel seit 1949 als Chefredakteur zuverlässig die intelligenten, zukunftsträchtigen und folglich heterodoxen Beiträge zu all diesen Entwicklungen publiziert hatte, war der große Parteieingriff von 1957. Er leitete die lang andauernde Entmachtung Huchels ein, der sich parallel zu derjenigen Johannes R. Bechers vollzog. Endgültig ersetzt wurde er erst 1963, und zwar durch den hochgebildeten Dogmatiker Wilhelm Girnus.
Ein Heft lässt staunen
Huchels Abschiedsnummer, die letzte des Jahres 1962, vereinte Hans Mayer, Bertolt Brecht, Paul Celan, Jean-Paul Sartre, Ernst Fischer, Werner Krauss, Ilse Aichinger, Giannis Ritsos, Sean O’Casey, Günter Eich (mit dem Gedicht „Verlassene Staffelei“) und enthält erschütternd traurige Gedichte des scheidenden Chefredakteurs. Wolfgang Harich saß damals noch im Zuchthaus. Dass ein solches Heft in der DDR erscheinen konnte, lässt staunen.
Das Abschiedsjahr Peter Huchels 1963 hat in der DDR-Literaturgeschichte – und auch in derjenigen von Sinn und Form – dann allerdings zugleich auf ähnliche Weise eine neue Epoche eingeleitet wie das Jahr 1959 in der BRD, wo mit Grass’ „Blechtrommel“, Bölls „Billard um halbzehn“, Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ und mit der Übernahme des Suhrkamp-Verlags durch Siegfried Unseld sich ein international beachteter literarischer Urknall ereignet hatte.
Nach dem – offiziell allerdings nie deklarierten – Scheitern des Bitterfelder Wegs („Greif zur Feder Kumpel! Die sozialistische deutsche Nationalkultur braucht dich!“) zog nun die DDR nach, freilich weniger mit jener sozialistischen Nationalkultur aus der Feder des parteiamtlich aufgerufenen Kumpels, sondern stattdessen mit international beachteten Büchern, die tatsächliche Realitäten und lebendige Menschen schilderten und sich wirklichen Problemen stellten: Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“, Strittmatters „Ole Bienkopp“, „Levins Mühle“ von Bobrowski, „Die Spur der Steine“ von Erik Neutsch und Hermann Kants „Aula“.
Wilhelm Girnus, der seltene Fall eines hochintelligenten und literarisch sensiblen politischen Betonkopfs, entfaltete seit 1963 in Sinn und Form ein Feuerwerk junger DDR-Lyrik und richtete den Blick der Zeitschrift in den kommenden Jahrzehnten konsequent weltliterarisch aus: Kaum irgendwo sonst erschienen auf Deutsch so viele so gut ausgesuchte und übersetzte Texte aus Afrika, Asien und Lateinamerika wie in Sinn und Form. Und Girnus pflegte besonders das Genre des Gesprächs. Heft 1/1967 verzeichnet seinen außerordentlich bösartigen und eleganten Verriss der „Ästhetik“ Georg Lukács’.
Intellektuell scharf geschossen
Es wurde intellektuell scharf geschossen in Sinn und Form – und durchaus kontrovers, wenn es politisch nicht um die Essentials ging. Ein gutes Beispiel dafür ist die staunenswert ausführliche, tiefenscharfe und bis in den Vergleich verschiedener Übersetzungen hinein wohlinformierte Polemik Friedrich Dieckmanns gegen die „Coriolan“-Aufführung – und überhaupt die museale Verknöcherung – des Berliner Ensembles im letzten Heft 1965. Mit diesem bemerkenswerten Text begann die Sinn-und-Form-Karriere des ältesten und heute noch bedeutendsten Beiträgers der Zeitschrift.
Ein anderes Verdienst Wilhelm Girnus’ ist die behutsame und gescheite Rehabilitierung der von Lukács seinerzeit kurzerhand der „Zerstörung der Vernunft“ zugeschlagenen Frühromantik durch den Jenaer Germanisten Claus Träger. Mit der Veröffentlichung der „Unvollendeten Geschichte“ Volker Brauns im Jahr 1975 vollends scheint Girnus wirklich etwas gewagt zu haben, nämlich die Probe auf Honeckers Ansage, solange man von den festen Positionen des Sozialismus ausgehe, könne es keine literarischen Tabus geben.
Freilich konnte niemand, der Brauns Geschichte einer Zerstörung junger Liebender durch Parteiherrschaft und Geheimdienst auf sich wirken ließ, daran zweifeln, dass mit diesem Land etwas sehr Grundlegendes nicht in Ordnung war. Das „Unvollendete“ dieser Geschichte, die sozialistische Hoffnung auf Einsicht der Macht und guten Ausgang trotz des Augenscheins, blieb Behauptung; und schon im folgenden Jahr, dem der Biermann-Ausbürgerung nach dessen Kölner Konzert, schwang das Pendel dann eben auch zuverlässig wieder in die illiberale Richtung. Und der anklagende Finger wies gen Westen: Heft Nr. 3 1976 enthält Bernd Jentschs Aufsatz über „Das Gedicht als strafbare Handlung“: der Lyriker Frank Geerk war in Basel wegen Blasphemie angeklagt, nicht aber verurteilt worden.
Unfreiwillige Komik
Interessanter als dieser DDR-Whataboutism ist die Diskussion über Irmtraud Morgners „Trobadora Beatriz“-Roman, mit dem sich der literarische Feminismus damals nicht nur im Osten, sondern auch unter meinen damaligen Genossinnen im westlichen Marxistischen Studentenbund Spartacus und deren Liebhabern entfaltete.
Was sonst noch bleibt nach ein paar Tagen subjektiven Surfens in diesem Archiv: Entdeckungen wie die der Bücher des großen nature writers Hanns Cibulka, eine Beethoven-Hymne Rudolf Bahros in einer Art Klopstock-Ton, eine Stalin-Elegie Johannes R. Bechers, die man in seiner unfreiwilligen Komik als subversiv zu verstehen geneigt ist. Aber man findet in jeder Nummer etwas Unerwartetes und Hochinteressantes.
Unter den beiden letzten DDR-Chefredakteuren vor 1990 – Paul Wiens und Max Walter Schulz – nimmt Rückwärtsgewandtes und Memoirenartiges überhand. Während in Moskau greise Parteisekretäre einander die Stafette der Staatsmacht sozusagen von Totenbett zu Totenbett übergeben, scheint die Zukunftskraft des Ideologischen auch in den Heften von Sinn und Form zu erlahmen. Unter Sebastian Kleinschmidt liest man schon in einem anderen Land in einer anderen Zeitschrift.
Es bleibt aber vor allem auch: eine fortwirkende Institution. Die neue Blüte von Sinn und Form in der vereinigten Republik ist einer der Beweise dafür, dass das untergegangene sozialistische Deutschland auf dem Gebiet der Kultur am lebendigsten gewesen ist. Jedenfalls war sie allein auf dem Gebiet der Kultur frei von der auftrumpfenden Unsicherheit, die ihre offizielle Selbstdarstellung bis zuletzt so wenig einleuchtend gestaltete. Die Digitalisierung ihrer Backlist ist das beste Geschenk, das die Zeitschrift Sinn und Form sich und uns für die kommenden Jahre gemacht hat.
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