Zeitalter der Desinformation: Auf dem Boden der Realität
Sich der Wahrnehmung der Wirklichkeit zu verweigern, stößt an eine absolute Grenze: den Tod – durch Polizeigewalt und durch die Pandemie.
A n einem Punkt sollten wir Donald Trump dankbar sein. Seine besonders bei Wahlkampfauftritten deutlich erkennbare brutal direkte Art, seine unvermittelte Übersetzung eines genauso machistischen wie autokratischen Bauchgefühls in Sprache, legt Dinge offen, die sonst verschleiert werden: Die post-truth-society hat das Ruder übernommen. „Wer so viel testet“, agitierte er in Tulsa in einer halbleeren Halle, „wird mehr Fälle finden. Deshalb habe ich meinen Leuten gesagt, dass sie langsamer testen sollen.“
Nun ist diese Selbstermächtigung nicht neu. Trump ist der restlos narzisstisch entfesselte Gestalter seines Universums. Vermutlich glaubt er tatsächlich daran, dass weniger Tests weniger Fälle bedeuten. Während allerdings bei unzähligen Tweets und Behauptungen Seiner Hoheit noch Streit entbrennen konnte, während noch debattiert wurde, was wirklich war, ist Trump den Weg restloser Simulation diesmal zu Ende gegangen. Er macht keinen Hehl daraus, dass politisch nützliche Zahlen von der Zählung und nicht von der Wirklichkeit abhängen. An genau diesem Punkt ergibt es keinen Sinn mehr, Trumps Aussagen mit irgendeiner Wirklichkeit abzugleichen. Er hat sie kassiert.
Die Debatte um Fakten versus alternative Fakten, die selbst schon einigermaßen irre war, gehört also bereits der Vergangenheit an. Trump – nicht als Person, sondern als Repräsentant eines verwirrenden politischen Spiels und eines düsteren Zeitgeists – hebt die Trennung von Zeichen und Bedeutung vollständig auf. Er entkoppelt das Gesagte und politisch Wirksame von jedem Bezug auf ein Äußeres, auf eine Wirklichkeit hin. Während also noch gestritten und unterschiedlich „bewiesen“ werden konnte, wie viele Leute tatsächlich bei seiner feierlichen Inthronisierung anwesend waren, hat Trump dieses Spiel zwischen faktisch und alternativ-faktisch beendet.
Sicher, eigenwillig gewichtet, verdreht oder gelogen wurde schon immer. Das ist Teil des politischen und öffentlichen Geschäfts. Gegenwärtig allerdings muss sich die Lüge nicht mehr verstecken. Sie entfaltet ihre Wirkung und wird im Hochgeschwindigkeitsgeschäft des Medialen, also der Informationsgesellschaft, umgehend verstoffwechselt. Ihr Status als Lüge oder Verdrehung geht in der Masse der Fiktionalisierungen unter. Es ist machtpolitisch nicht mehr relevant, was stimmt und was nicht. Die Praxis des Behauptens einerseits und die Tatsache unterschiedlicher Realitäten, die mehr von der Wahl der Youtube-Kanäle und Telegram-Gruppen abhängt als von irgendeiner Wirklichkeit, hat das politische Spiel substanziell geändert. „Heutzutage funktioniert die Abstraktion nicht mehr nach dem Muster der Karte [oder] des Begriffs“, schrieb der französische Philosoph und Medientheoretiker Jean Baudrillard vor einigen Jahrzehnten. „Vielmehr bedient sie sich verschiedener Modelle zur Generierung eines Realen ohne Ursprung“, also „eines Hyperrealen.“
Jahrgang 1979, ist Soziologe an der Universität Jena und veröffentlichte zuletzt „Am Anfang war die Information. Digitalisierung als Religion“ im Verbrecher Verlag.
Beschäftigung für alle
Selten war es so einfach, die eigene Meinung gegen logische oder sachliche Einwände abzudichten. Die einen feiern schließlich die dreiste Selbstermächtigung von Trump und Co.und reden sich beharrlich ein, dass noch der dümmste Tweet die Wahrheit speche. Seine Macht ist ihre Macht, sie müssen nur daran glauben. Die anderen regen sich auf und weisen genauso beharrlich auf Widersprüche und Falschaussagen hin. Am Ende sind alle beschäftigt. Die „unerträgliche Gleichzeitigkeit des Seins“ übernimmt und provoziert „information rage“, einen Informationswahn, wie Bernhard Pörksen die Gereiztheit der Gegenwart umschreibt.
Trump ist in vielerlei Hinsicht Kind seiner Zeit – genauso wie Verschwörungsideolog*innen und Coronaleugner*innen. Jeweils sättigt sich ihre Argumentation, wenn man es denn so nennen will, aus einer von der Informationstheorie vorbereiteten Zirkulation reiner Zeichen. Die Zeichen gelten als Beleg für Zeichen, die als Beleg für Zeichen gelten, und so weiter. Während die einen Todesstatistiken deuten und die anderen Corona zur „leichten Grippe“ herabstufen, gibt es auch jene Freaks, die, ohne es zu wissen, das Problem unmittelbar benennen.
Dieser fast schon anmutige Facebook-Kommentar samt zweier Antworten spricht Bände: „Ich habe herausgefunden“, heißt es ganz im Modus der Selbstermächtigung, dass „es sich bei einem ‚Virus‘ um eine Information handelt. Virus = Information. Eine Information kann man schlecht beweisen.“ Von diesem Moment an ist jede Aussage möglich, sie muss nur als Information prozessiert werden können. Um eine reine Information weiterzugeben, heißt es weiter, brauche es einen „Träger, das kann eine Zelle, ein Mensch, ein Tier, ein Buch, eine CD oder ein Radio sein. Ohne diese Mittel keine Information.“ Ein anderer User entgegnet: „Ich habe gelesen: Virus heißt Gift“, was beinahe logisch den Einwand zur Folge hat: „Ja, aber kann eine Information kein Gift sein?“
Was Trump zum Höhepunkt treibt und die herrliche Gleichsetzung von Information und Virus ermöglicht, gerät mit Corona gleichzeitig ins Wanken. Oder anders: Die Realität kehrt als tödliches Virus zurück und zeigt schmerzhaft, dass alle Verbindungen zwischen Politik oder Wissen und Wirklichkeit gekappt wurden. Soziale Missstände, Ausbeutung und Klassenherrschaft, wie wir sie nicht nur in den USA beobachten können, lassen sich (und das ist schon bedrückend genug) ideologisch immer noch einfangen und zum Beispiel als Freiheit umdeuten. Das Spiel der Zeichen ermöglicht es. Die Leute müssen nur daran glauben. Mit dem Tod selbst allerdings haben die postfaktischen Agitator*innen so ihre Schwierigkeiten.
Die Coronapandemie wird häufig als Zäsur verhandelt, ökonomisch, sozial und politisch. Der Ausgang ist bekanntlich offen. Die Frage ist möglicherweise, ob sie einer Zäsur in der Ordnung des Wissens oder des Medialen Vorschub leistet. Vielleicht kehrt mit dem Virus etwas Wirklichkeit zurück in den politischen Alltag. Vielleicht ist es fortan nicht mehr ganz so effektiv, mit lautem Gebrüll und endlosen Superlativen Politik zu machen.
Es gibt Indizien dafür und dagegen. Einerseits war die Coronapolitik der Bundesregierung von einem überraschenden Maß an Plausibilität und Sachlichkeit geprägt. Nicht ohne Fehler, selbstredend, und nicht bereit, die Fundamente einer Herrschaft des Reichtums tatsächlich anzutasten. Und dennoch waren andere Wege denkbar, wie Brasilien, die USA und teils Großbritannien gezeigt haben. Andererseits kehrte der ohrenbetäubende Lärm des Kampfs um Aufmerksamkeit schnell zurück. Sobald die Wirklichkeit des Virus etwas Luft hinter die Maske ließ, schepperte es schreiende Zeichen ohne Gegenstand. Da war im Kontext der Ereignisse von Stuttgart von „Zivilisationsbruch“ und „Reichskristallnacht“ die Rede.
All das gehört zur alten Ordnung des Postfaktischen, in der fast beliebige Ereignisse zur Simulation der letzten Schlacht erhoben und entsprechend ausgebeutet wurden. Kein Tag vergeht ohne Superlativ, ohne „eine neue Qualität der Gewalt“ und ähnliches Geschwätz. Mir scheint jedoch, dass mit Corona mehr und mehr Leute des wüsten Gebrülls der Seehofers, Hildmanns oder Broders überdrüssig sind, dass sie den Modus Operandi durchschaut haben und vor allem genervt sind.
Schließlich zeigt so ein Virus, dass auch mediale Zeichen nur von Belang sind, wenn sie irgendeine Verbindung zur Wirklichkeit haben. Nicht zufällig stolpert Trump, wie der Schweizer Reporter und Publizist Constantin Seibt analysiert hat, genau dann, wenn es nicht um ihn geht, wenn die rassistische Wirklichkeit der Polizeigewalt in aller Brutalität zutage tritt und gleichzeitig ein Virus als Realität vernünftige Politik verlangt. Nicht das mediale Geschrei und seine Widerlegung bringt Trump ins Wanken, sondern der Einbruch der Wirklichkeit.
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