piwik no script img

Wohlfeile Vorwürfe in Corona-KriseFür eine Handvoll Likes

Tobias Schulze
Kommentar von Tobias Schulze

Im Netz ereifert sich eine Social-Distance-Army über Menschen, die rausgehen. Dabei ist Solidarität gefragt.

Klare Ansage: T-Shirts in einem Modeladen in Berlin Foto: Pierre Adenis

F ür den Fall einer Ausgangssperre in Deutschland müssten sich die Behörden über die Durchsetzung keinen Kopf machen. Eine Armada von Hobby-Epide­mio­logen stünde bereit, um den Gesundheitsämtern Verstöße gegen das Ausgangsverbot zu melden. Die antiviröse Bürgerwehr hat ihre Arbeit präventiv ja schon aufgenommen: Auf Facebook und Twitter ereifert sich ein digitaler Mob über Menschen, die trotz der Corona-Krise gelegentlich ihr Zuhause verlassen und Freizeit unter freiem Himmel verbringen. Die Social-Distance-Army gefällt sich in Belehrungen, Beleidigungen und Befehlston – und hat dabei jedes Gefühl für Umgangston und Verhältnismäßigkeit verloren.

Zum einen liegt dem die Fehlannahme zugrunde, jede einzelne Minute an frischer Luft beschleunige die Ausbreitung der Epidemie. Dabei betonen Exper­t*in­nen ausdrücklich, dass unter Wahrung gewisser Vorsichtsmaßnahmen ein Spaziergang im Freien nicht nur ungefährlich ist, sondern sogar die Abwehrkräfte stärkt – und das selbst in kleinen Gruppen.

Zum anderen zeugt die rigorose Freiluft-Kritik von einem Mangel an Einfühlungsvermögen für diejenigen, denen die totale Isolation aus diversen Gründen Probleme bereitet: weil sie alleine leben oder mit vielen Familienmitgliedern auf engem Raum, weil sie plötzlich arbeitslos sind oder Homeoffice und Kinderbetreuung vereinbaren müssen, weil sie in dunklen Hinterhäusern wohnen oder an lauten Hauptstraßen, weil sie psychische Probleme haben oder einfach nur ein bisschen länger brauchen, um sich an den tiefsten Einschnitt ins öffentliche Leben zu gewöhnen, den sie jemals erlebt haben.

Solidarität ist in der Krise gefragt. Solidarität heißt, Corona-Partys auf dem Spielplatz zu vermeiden. Solidarität heißt, das Rad zu nehmen statt den Bus. Solidarität heißt, selbst zu Freun­d*in­nen zwei Meter Abstand zu halten. Solidarität heißt aber auch, Empathie füreinander aufzubringen und unterschiedliche Bedürfnisse grundsätzlich zu achten. Und Solidarität heißt nicht, die Krise zu nutzen, um das eigene Selbstwertgefühl mit wohlfeilen Tweets aufzupolieren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Tobias Schulze
Parlamentskorrespondent
Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.
Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • Top. Nix hinzuzufügen.

  • 0G
    00677 (Profil gelöscht)

    "Social-Distance-Army"? Wohl unausrottbar, die deutsche Blockwartmentalität!

  • Viele von uns lieben und brauchen die Bewegung in der freien Luft. Und bei angemessenem - distanziertem - Verhalten dürfte das auch wenig riskant und eher gut für 'die Gesundheit' sein.

    Leider scheint es jedoch darauf hinauszulaufen - wie schon der Kommenator HELMUT



    FUCHS zutreffend befürchtet hat - daß wir demnächst alle auf diese Freude: den Spaziergang an Luft und Sonne verzichten müssen, weil eine nicht unbedeutende, sich (irrtümlich) sicher fühlende Minderheit sich nicht um angesagten Vorsichtsmaßnahmen schert.

    Auch in den hiesigen Parks: Gruppen eng auf eng, gemeinsamer Sport und Tanz, selbst eine hippe Party mehrerer Familien um einen aufgebauten Tisch mit Buffet fand (vorletztes Wochende) im nahegelegenen Park statt.

    Das wird nicht leicht.

    • @Weber:

      Leider scheint es wirklich darauf hinauslaufen, dass eine Ausgangssperre notwendig wird.

      Corona-Partys kann ich auch nicht nachvollziehen, allerdings fängt es schon kleiner an: Dass viele Leute sich nicht an den empfohlenen Abstand halten. Das stresst zumindest mich sehr. Wenn ich in das kleine Wäldchen in unserem Viertel will, um spazieren zu gehen, muss ich erst einige Straßen hinter mich bringen, wo meist niemand entgegenkommendes sich die Mühe macht auszuweichen oder Abstand zu halten. Dabei wäre es ganz einfach und im eigenen Sinn. Also laufe ich hin und zurück Slalom und meine Laune wird immer schlechter. Oder ich bin wieder die, die bei der Kassenschlange um Distanz bittet. Genießen tue ich das Besserwissen sicher nicht, fühle ich eher verzweifelt. Ich verstehe solche Leute einfach nicht..

  • Danke für diesen Kommentar!

  • Hab ich da was nicht mitbekommen?

    Ich zumindest habe noch keine Beschimpfungen mitbekommen, die sich generell auf Menschen beziehen, die sich draußen aufhalten. Draußen sein ist gut und richtig.

    Aber ich habe gestern hier in München mitbekommen, wie gesellig eng es da zuging. Da war eben kein solidarischer Abstand. Sondern Gruppen auf Picknickdecken, dicht aneinander. Und es waren eben nicht nur einzelne, die sich so mischten.

    Ich will auf draußen in den nächsten Tagen nicht verzichten müssen, weil es zu viele gibt, die eben nicht mithelfen, die Verbreitung zu verlangsamen, sondern letztlich durch Unvernunft und Übermut strengere Maßnahmen provozieren.

    • @Helmut Fuchs:

      Richtig, ich finde die Pauschalisierung im Artikel entspricht überhaupt nicht der Forderung nach Solidariät.



      Ich habe nirgendwo einmal gelesen, dass an der frischen Luft sein zum Problem gemacht würde.



      Zumal in Berlin, wo viel Platz ist, geht das - solange man nicht jeden Tag einkaufen geht.



      Genauso pauschalisierend wir "Solidarität" gegen "hamstern" diskutiert.



      Es ist sinnvoll, für eine gewisse Zeit Vorräte zu haben und angesichts der überall eingeführten Lock downs auch völlig rational. Dass das nicht immer ohne Probleme geht - ist doch völlig klar.



      Aber wir leben eben nicht im Krieg, die Regale sind morgen wieder voll und die angeblichen "Hamsterer"



      müssen nicht in engen Regalen mit anderen in Kontakt kommen und schonen die Kassiererinnen, die Einräumerinnen und viele andere!

      500 büchsen Bohnen ist sicher zuviel, aber Vorräte sind absolut normal.

      Auch die vielen Menschen mit besonderen Bedingungen, Alter, Vorerkrankung, Behinderungen, Inkontinenzen etc. pp müssen unbedingt Vorräte anlegen, weil sie sich nicht sicher sein können, dass sie nicht durch andere gefährdet sind, die draußen rumlungern. Am Landwehrkanal, womöglich wie geschehen, in Schutzanzügen, die anderswo gebraucht werden, Coronaparties feiern muss definitiv aufhören, denen muss man das auch sagen/schreiben dürfen!

    • @Helmut Fuchs:

      Sie werden aber künftig auf Freiheiten verzichten müssen, weil sich einige asozial verhalten. Und Tobias Schulze redet das schön.

  • Ein entspannter und sympathischer Kommentar in Zeiten von Hysterie und Aufregung.