Bahnfahren in Corona-Zeiten: Der Mann mit der Maske

Wer am Wochenende ICE fuhr, erlebte den Unterschied: Auf dem Bahnsteig noch Misstrauen, im Zug ist Corona vergessen. Wäre da nicht dieser Nachbar.

Ein Schaffner hebt neben einem ICE eine rote Kelle.

Abfahrt nach Leipzig! Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Auf meiner BahnApp werden drei rote Männchen angezeigt. Das bedeutet: sehr hohe Auslastung. Das überrascht mich. Ich wähnte mich schon vollkommen allein im Großraumabteil des ICE nach Leipzig. Jetzt aber ist der 17.30-Uhr-Zug am Freitagnachmittag komplett voll, der von 18.30 auch. Es werden Ersatzverbindungen angezeigt, die allesamt anderthalb Stunden länger brauchen. Also buche ich schnell den Zug um 16.30 Uhr trotz der roten Männchen und einen Sitzplatz. Das würde ich normalerweise nicht machen.

Ich pendle häufig zwischen den beiden Städten, mein Freund und meine Familie leben in Leipzig. Aber in Zeiten der Pandemie ist es anders. Nach langen Minuten vor dem Kleiderschrank entscheide ich mich für den großen Koffer – man weiß ja nicht, welche Eilmeldung am nächsten Morgen auf dem Handydisplay wartet. Ob irgendwann Bundesländer abgeriegelt werden oder der Bahnverkehr eingestellt wird. Ich packe also einen großen Stapel Klamotten, viele Bücher und übrig gebliebene Lebensmittel wie drei Bananen und einen Brokkoli ein. Gleich fühl ich mich besser. Irgendwie vorbereitet.

Der unterirdische Bahnsteig am Hauptbahnhof ist voll. Die Menschen versuchen trotzdem, weit auseinanderzustehen. Man beäugt sich. Man wartet. Ich merke, dass auch ich mich misstrauisch umschaue. Eine Schaffnerin und ein Schaffner von der Deutschen Bahn warten ebenfalls auf den Zug. In rührender Hilfsbereitschaft desinfizieren sie sich gegenseitig die Hände.

Der Zug fährt ein. Jetzt ist es doch vorbei mit dem misstrauischen Abstand. Die Menschen bilden hektisch Trauben um jede Zugtür. Ich lasse mich lässig zurückfallen, habe ja reserviert. Als ich in Waggon 7 vor Platz 138 stehe, merke ich, dass die Reservierungsanzeigen im Zug nicht funktionieren und jemand auf meinem Platz sitzt.

Der Mann starrt angestrengt aus dem Fenster in das Nichts des schwarzen Tunnels. Ich wäge kurz ab, ob ich ihn darauf hinweisen solle, dass er auf meinem Platz sitzt, setze mich dann aber doch einfach neben ihn. Für einige Minuten bin ich damit beschäftigt, das Szenario durchzuspielen, wenn jemand käme, der den Platz reserviert hat, auf dem ich jetzt sitze.

Frühling gegen Corona

Corona habe ich vergessen. Die anderen Reisenden wohl auch. Der Zug fährt zu spät los. Einige Reihen vor mir streiten sich eine Frau und ein Mann lauthals. Eine doppelte Sitzplatzreservierung. Die Schaffnerin mit den desinfizierten Händen kommt und schlichtet.

Der Mann schleicht mit gebeugtem Kopf schnell in Richtung Waggon 8, während die Frau sich siegreich auf ihrem Sitzplatz niederlässt. Die Sonne scheint. Ich schaue aus dem Fenster auf die schüchtern-grünen Felder, und mich überkommt ein Bedauern: dass das Leben jetzt zum Erliegen kommt, passt nicht mit dem frühlingshaften Erwachen der Natur zusammen.

Da bückt sich mein Sitznachbar abrupt und kramt eine blaue Maske aus seinem Rucksack. Nervös streicht er sie sich über den Kopf vor Mund und Nase. Ich merke, wie Empörung in mir aufsteigt. Vielleicht bin ich ihm zu sehr auf die Pelle gerückt, als ich meinen Kopf zu seiner Seite gedreht habe, um aus dem Fenster zu schauen, das er verdeckt, weil er auf meinem reservierten Fensterplatz sitzt.

Da steht er unvermittelt auf und schaut mich an. Um seine Augen bilden sich viele Fältchen, anscheinend lächelt er unter seiner Maske. Er zeigt auf den Gang, ich mache Platz. Jetzt merke ich, dass der Zug in den Leipziger Bahnhof einrollt. Ich lächle verlegen. Die Maske war wohl doch nicht meinetwegen.

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Marlene Militz, geboren 1997 in Leipzig, Studium der Kunstwissenschaften in Berlin, Venedig und London.

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