Wissenschaftlerin über Insektensterben: „Wir müssen umdenken“
Um die Insekten zu retten, fordert Viola Clausnitzer eine Kehrtwende in der Landwirtschaft. Kleinere Betriebe sollen gefördert werden.
taz: Frau Clausnitzer, am Montag wurde der „Aktionsplan für den Insektenschutz und Insektenerholung“ veröffentlicht. Viele der Maßnahmen werden schon lange gefordert. Warum gibt es nun einen neuen Rettungsplan?
Viola Clausnitzer: Es muss endlich zu einer Umsetzung kommen. Durch den Straßen- und Hausbau wird in Deutschland täglich eine Fläche von 100 Fußballfeldern versiegelt, also asphaltiert. Dazu kommt die Landschaftszerstörung durch die industrielle Landwirtschaft, die Vergrößerung von Ackerflächen, bei der Hecken und Wegränder verschwinden. Die Insekten brauchen diesen Lebensraum. Das ist alles bekannt, hat aber nie zu Konsequenzen geführt, weil Interessenverbände aus Landwirtschaft, Bau- und Chemieindustrie dafür gesorgt haben, dass das nicht richtig publik gemacht wurde. Der Plan sorgt dafür, dass mehr Leute ihre Finger in die Wunde legen.
Glauben Sie, dass die Maßnahmen jetzt umgesetzt werden? Die Lobby hat kein Interesse daran, etwas zu ändern. Große Konzerne wie die BASF werden nicht in diese Richtung arbeiten wollen. Aber es findet langsam ein Umdenken statt, der Druck auf die Politiker steigt. Ich persönlich kann jedoch nicht abschätzen, wie schnell der Hebel umgelegt wird.
Aber können Sie abschätzen, ob das Insektensterben noch aufgehalten werden kann?
Ja. Noch können wir den Rückgang aufhalten oder zumindest verlangsamen. Was wir nicht wissen ist, wie schnell nach der Umsetzung der Maßnahmen eine Erholung eintritt. Es gibt Bereiche, die wir nicht ganz durchschauen. Deshalb braucht es mehr Forschung.
Sollten wir dem Plan nicht folgen: Welches Szenario erwartet uns?
Das ist schwer abzuschätzen. Ökosysteme sind sehr komplex. Man kann schlecht sagen, was passiert, wenn man ein einzelnes Bauteilchen heraus nimmt. Aber einige Resultate kennen wir schon aus anderen Ländern. In Südostasien beispielsweise müssen manche Plantagen bereits per Hand bestäubt werden, weil es zu wenige Insekten gibt.
Droht das auch der deutschen Landwirtschaft?
Möglicherweise ja. Wir bemerken den Rückgang vor allem bei den Fluginsekten, die Bestäubung betreiben. Das sind verschiedene Bienen- und Wespenarten, aber auch Käfer. Vielleicht spüren es die Obstbauern also schon. Aber das Insektensterben wird oft von Wettergeschehnissen überlagert. Wenn Spätfrost kommt und die Ernte geringer ausfällt, kann man das nicht auf das eine oder andere zurückführen.
Wie beeinflussen Herbizide wie Glyphosat die Insekten?
Glyphosat ist ein Herbizid und tötet rasch und sehr effizient Pflanzen und Mikroorganismen. Dies ist ein Eingriff in Ökosystem, der über Nahrungsnetze auch Auswirkungen auf alle anderen Lebewesen hat, also auch Insekten und Vögel. Man vermutet weiterhin, dass Tiere, Insekten und unter Umständen auch der Mensch Glyphosat aufnehmen und der Stoff ihre Gesundheit beeinträchtigt.
Wie viel Zeit haben wir noch?
Die unmittelbaren Maßnahmen müssen sofort, also innerhalb der nächsten fünf Jahre, umgesetzt werden, um nicht etliche Arten zu verlieren. Dazu gehört auch die Reduzierung der Giftmasse, also der Pestizide. Mittelfristige Maßnahmen, die vor allem die Forschung betreffen, sind auf die nächsten 20 Jahre ausgelegt. Wir wissen von vielen Arten noch nicht, wieso sie zurückgehen und ob Faktoren wie Mikroplastik oder die Hormonbelastung von Gewässern eine Rolle spielt. Die langfristigen Maßnahmen gehen über diesen Zeitraum hinaus und sollen zukünftig Standard werden, zum Beispiel der Aufbau von globalen Monitoring Programmen.
Wer muss handeln?
Es braucht eine europaweite, drastische Kehrtwende in der Landwirtschaftspolitik. Ich will nicht mit dem Finger auf einzelne Landwirte zeigen und sagen: „Die sind schuld.“ Es ist die Politik, die in den letzten Jahren vorwiegend die industrielle Landwirtschaft gefördert hat. Das hat dazu geführt, dass immer mehr kleine Betriebe schließen mussten und nur die großen überleben. Da müssen wir umdenken. Aber dazu gehört auch ein gesellschaftlicher Umbruch. Menschen, die weniger Fleisch essen und dafür mehr bezahlen wollen. Dann kann sich auch ein Betrieb mit zehn oder 20 Schweinen halten.
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