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Wissenschaftler über Kinderleistungssport„Kinder wollen etwas können“

Leistungssport im Kindesalter bedeutet hartes Training. Der Sportwissenschaftler Alfred Richartz betont aber auch die Sicht der Eltern und die Rolle der Übungsleiter.

Ist das Erleben des Kindes im Leistungssport nicht auch abhängig vom Erleben der Eltern? Foto: dpa
Interview von Markus Völker

taz: Herr Richartz, haben Sie Kinder?

Alfred Richartz: Nein, leider nicht.

Würden Sie Eltern raten, Kinder in den Leistungssport zu schicken?

Wenn das Kind keinen Spaß am Training hat, dann würde ich natürlich nicht empfehlen, das Kind dahin zu zwingen.

Welche Gründe sprechen dafür?

Kindern macht es richtig Spaß, irgendetwas zu können, auch etwas mit ihrem Körper zu können: „Guck mal, Mama, Papa, was ich gerade gemacht habe.“ Das ist einer der wichtigsten Motoren für Kinder, sich mit Leistung auseinanderzusetzen. Die eigene Kompetenz zu erleben, ist ein menschliches Grundbedürfnis.

Kinder wollen sich vergleichen und auch besser sein als andere.

Im Interview: Alfred Richartz

ist Professor am Institut für Bewegungs- und Sport­pädagogik in Hamburg. Er hat sich mit chronischen Belastungen von Kindern im Leistungssport beschäftigt.

Ja, einerseits ist es der Vergleich mit anderen. Auf der anderen Seite wollen sie auch etwas können, was sie als Herausforderung empfinden. Wenn Kinder auf dem Spielplatz das Klettergerüst sehen, dann fragen sie nicht: Mama, heb mich da hoch. Sie wollen selber rauf. Das muss also nicht immer ein sportlicher Wettbewerb sein. In bestimmten Sportarten wie dem Turnen oder der Rhythmischen Sportgymnastik gibt es ja einen sehr frühen Leistungssporteinstieg. Da gibt es sehr viele Bewegungen, die Kinder sagen lassen: Wow, das sieht toll aus, das möchte ich auch können.

Aber gerade in diesen Sportarten gibt es auch sehr früh hohe Belastungen und Drill.

Das kommt aufs Training an. Es gibt Trainerinnen und Trainer im Leistungssport, die das pädagogisch exzellent machen – auch wenn man das vielleicht nicht erwartet. Es gibt aber, wie in jeder pädagogischen Profession, auch Trainerinnen und Trainer, die es weniger gut oder sogar schlecht machen. Die ganze Bandbreite gibt es im Leistungs- wie im Breitensport – es kommt also darauf an, zu unterscheiden und nicht alles in einen Topf zu werfen.

Das hängt also jeweils ab von der individuellen Kompetenz?

Ja.

Welche Erfahrungen haben Sie in Ihren Untersuchungen gemacht?

Wir haben geschaut, wie belastet sind Kinder und Jugendliche im Leistungssport unter dem Gesichtspunkt von chronischem Stress. Eine hohe zeitliche Trainingsbelastung führt im Kindesalter in der Tendenz nicht zu erhöhtem chronischen Stress. Das sind natürlich Durchschnittsangaben. Man muss trotzdem immer fragen: Wie geht es jedem einzelnen Kind? Ich empfehle den Eltern: Achten Sie auf Ihr Kind! Wie erlebt es den Sport? Welche Signale sendet es?

Ist das Erleben des Kindes im Leistungssport aber nicht oft auch abhängig vom Erleben der Eltern?

Wir haben die Kinder gefragt. Zum Beispiel: Meine Eltern möchten, dass ich besser bin im Sport. Oder: Ich glaube, meine Eltern sind mit meinen sportlichen Leistungen nicht zufrieden.

Und?

Auch in leistungsorientierten Gruppen, in Talentschulen des Deutschen Turner-Bunds, bejahen das nur fünf Prozent der Kinder.

Nur fünf Prozent, die elterngesteuert sind?

Diese Interpretation geht mir zu weit. Das sind Kinder, die das Gefühl haben, ihre Eltern erwarten von ihnen, dass sie die Leistung verbessern.

Und 95 Prozent folgen ihrem freien Spieltrieb?

Hm, frei und Spiel, so einfach funktioniert das im Leistungssport nicht mehr, da geht es schon um andere Ziele. Man kann sich aber dennoch frei fühlen, wenn man mit den Zielen des Leistungssports übereinstimmt und sagt: Ja, ich möchte so gut abschneiden in diesem Wettkampf, wie ich es irgend kann. Wenn ich dafür diese extreme Beweglichkeit haben muss, dann nehme ich das auf mich, auch wenn’s wehtut.

Ist es nicht zu früh, wenn Sechsjährige, etwa im Turnen oder der Sportakrobatik, fast schon auf Leistungssportniveau trainieren?

Auch im Wasserspringen oder der Sportgymnastik ist ein Einstiegsalter von fünf Jahren nicht unüblich. Wenn die Kinder freiwillig dahin gehen, wenn sie Spaß daran haben, wenn die Trainer auf die Kinder eingehen und ein gutes Verhältnis, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihnen haben, wenn das Training in unterstützendem, positivem Ton vor sich geht, wenn die Trainerinnen und Trainer eine gute Wahrnehmung für die Gefühle der Kinder haben und darauf angemessen reagieren können, wenn Training ohne Einschüchterung, Lautstärke und Strafen abläuft, dann wüsste ich nicht, was dagegen einzuwenden wäre. Ich bin allerdings kein Mediziner. Unter welchen Umständen welche Trainingsbelastungen zu orthopädischen Folgeschäden führen, das festzustellen ist Aufgabe anderer Wissenschaftsdisziplinen. Ich bin Sozialwissenschaftler.

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taz am wochenende

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Reicht denn nicht Breitensport für Kinder völlig aus? Muss es überhaupt Leistungssport sein?

Eltern und Kinder sind frei darin, sich zu entscheiden, welcher Sport für sie richtig ist. Ich wüsste nicht, warum man Leistungssport für Kinder verbieten sollte. Die Kinder, die das machen, haben auch sehr intensive positive Erlebnisse. Und das Interesse der Eltern bedeutet ja nicht immer, dass sie nur Druck machen. Es ist auch ein Zeichen der Zuwendung, wenn sie bei jedem Training dabei sind und das Kind viermal die Woche zum Training fahren.

Hat sich die Rolle der Eltern in den letzten zwei, drei Jahrzehnten verändert?

Die Rolle der Eltern insgesamt in der Gesellschaft hat sich geändert. Es gibt eine viel größere emotionale Nähe und einen kleineren hierarchischen Abstand, überdies eine starke Abnahme von Gewalt im Austragen von Konflikten. Diese veränderte Beziehung finden wir natürlich auch im Sport.

Es gibt im jugendlichen Leistungssport sexuelle Übergriffe, vereinzelt Medikamentenmissbrauch. Müsste man nicht sagen: Liebe Eltern, Finger weg vom Leistungssport?

Nein, das halte für eine völlig falsche Herangehensweise. Die Risiken existieren. Wir wissen, dass sexuelle Übergriffe praktisch überall passieren können, wo Kinder in Obhut sind. Die Konsequenz kann nur sein, von allen Institutionen zu verlangen, dass sie ihren Fürsorgepflichten gerecht werden und Präventionsmaßnahmen implementieren. Die Deutsche Sportjugend hat hervorragende Materialien zur Prävention von sexuellem Missbrauch erstellt. Ob die Vereine das immer praktisch umsetzen, ist eine andere Frage.

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7 Kommentare

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  • Genau das ist ein entscheidendes Problem:

    "Unter welchen Umständen welche Trainingsbelastungen zu orthopädischen Folgeschäden führen" ...

    Vor 2 Hintergründen:



    - Als Turnen noch eine Massenbewegung war und als gesund galt (alles lange her), gab es dort den Frauen-Stufenbarren (seit 1952) und den Schwebebalken noch nicht.

    - Es gibt heute kaum noch Turnvereine des Breitensports. Die wenigen Turnvereine, die übrig geblieben sind, betreiben fast ausnahmslos Leistungssport, d. h. alleinige Ausrichtung des Trainings auf Wettkampferfolge (2-3 Termine die Woche, in Kauf nehmen problematischer Verletzungen, beim Turnen sind das z. B. chronifizierte Sehnenscheidenentzündungen).

  • Auch Breitensport ist Leistungssport, in der Kreisliga genau wie in der Bundesliga.

    Halt nur mit weniger Aufwand und dementsprechend geringerer Leistung.

    Was man kritisch sehen kann und sollte, ist der Hochleistungssport, das ist aber eine ganz andere Geschichte.

    Trainieren, dadurch besser zu werden und dieses besser geworden sein auch durch den objektiven Wettkampferfolg bescheinigt zu bekommen ist eine wichtige Erfahrung und befördert eine hohe Eigenmotivation, etwas, was ja immer gefordert wird.

    Und im Endeffekt ist es auch egal, ob man die Meisterschaft in der Kreisliga, der Landesliga oder der Bundesliga holt, gewinnen macht Spaß, der Weg dahin geht aber durch das Tal unzähliger Rückschläge.

    • @Peterbausv:

      Schonn.

       

      Später aber - die verhinderten Kreismeister - meist gar nicht mal so -

      Ungefährlich. Woll!;)

  • En passant! Was bitte soll das denn geben! Apologie pur - bin ja 'n SozWiss. nur - oder was?!

     

    Na Servus.

    Danke - daß das mal klargestellt ist.

     

    "Hm, frei und Spiel, so einfach funktioniert das im Leistungssport nicht mehr, da geht es schon um andere Ziele. Man kann sich aber dennoch frei fühlen, wenn man mit den Zielen des Leistungssports übereinstimmt und sagt: Ja, ich möchte so gut abschneiden in diesem Wettkampf, wie ich es irgend kann. Wenn ich dafür diese extreme Beweglichkeit haben muss, dann nehme ich das auf mich, auch wenn’s wehtut.…"

    Klar - da gab's mal Mitte der 70er die erschreckende Serie im Stern über deformierte Körper Leistungsturnerkinder!

    Aber ich bin ja nur SozWiss. Newahr.

    Not my cup of tea!

     

    Tja - was sind die Ziele des Leistungssports &gerade bei Kindern?!

    "If you want to build charakter?" das ist mit der Großstudie - von Ohilvie/Tutko!

    Unwiderlegt ad acta - "Try something - else!" Das schon mal geklärt!

    &

    "What makes them tick?"

    Dem will unser Proband ausgerechnet -

    "Ist das Erleben des Kindes im Leistungssport aber nicht oft auch abhängig vom Erleben der Eltern?

    Wir haben die Kinder gefragt. Zum Beispiel: Meine Eltern möchten, dass ich besser bin im Sport. Oder: Ich glaube, meine Eltern sind mit meinen sportlichen Leistungen nicht zufrieden.

    "Und?"

    "Auch in leistungsorientierten Gruppen, in Talentschulen des Deutschen Turner-Bunds, bejahen das nur fünf Prozent der Kinder.…ff"

     

    Also. Mit der Befragung von Kindern zu Leibe rücken!

    Da könnte es sich als Handikap unseres Forschers erweisen - eben keine zu "haben."

    Boahaft formuliert - schon die ollen Römer - haben die Geschäftsfähigkeit bei Kindern nicht als gegeben angesehen. Der Beweiswert von Befragungen von Kindern über ihre Motive Antriebe etc genau - dürfte scharf gegen null.

    kurz - Selbst mir ab 14/15 als Leistungssportler Rudern - sind meine wahren & teilweise ziemlich zweifelhaften Motive & Antriebe erst im weit fortgeschrittenen Erwachsenenalter klar geworden.

    • @Lowandorder:

      Klargestellt sei - daß ich für mich diese Zeit bis 20 gar nicht missen möchte.

      Im Gegenteil - als an vielfältigen Erfahrungen reichen Teil meines Lebens betrachte.

       

      Nur habe ich meinen gut sportlichen Kindern - die heute noch weiter verschärfte negative Konotierung des Systems Leistungssport mit u.a. der Konkurrenzorientierung bis hin zur Tendenz zur Körperfeinlichkeit via Überlastung etc & Übersteigerung der Individualität bis hin zur Einübung von Asozialität deutlich vor Augen geführt!

      &

      Sie haben sich ihre Begeisterung für Sport & die Freude daran bis heute bewahrt - gerade ohne die deutlichen Vereinseitigungen & Verwerfungen!

      Im ohnehin mehr als zweifelhaften -

      System Leistungssport!

  • Unsere Talente sind verschieden. Gemeinsam ist uns allen, dass es in unseren Leben Zeiten gibt, in denen wir uns selbst und anderen beweisen müssen, dass wir etwas richtig gut können. Für diese Zeiten muss eine Gesellschaft verschiedene Angebote unterbreiten.

     

    Das ist wie mit dem Schreiben. Wir alle sollten lesen und schreiben lernen. Damit wir es in und mit der Gesellschaft, in der wir leben, leichter haben – und sie es mit uns. Schriftsteller werden (wollen) sollten allerdings nur solche Leute, die ein gewisses Talent besitzen, eine Anlage, die sich entwickeln kann – und die für andere erkennbar ist.

     

    Dieses Talent kann nicht durch Elternehrgeiz ersetzt werden. Und es kann manchmal auch weh tun. Dann nämlich, wenn die eigenen Bedürfnisse und die der Umwelt nicht zusammen passen. Für einen Schriftsteller, der sich ein Problem „von der Seele geschrieben“ hat, kann es extrem schmerzhaft sein, nicht verstanden und kritisiert zu werden.

     

    Sollte man also etwas gegen die Schriftstellerei haben? Ich finde: Nein. Eine Welt ohne Schriftsteller wäre eine traurige Welt. Und eine Welt ohne Spitzensportler wäre auch traurig. Vielleicht nicht für mich, aber doch für ziemlich viele andere Leute, die ich kenne und schätze. Auch so schon ist das Orientieren in einer Welt, in der für Geld täglich gelogen wird, nicht immer leicht.

     

    Übrigens: Ausschließlich um des Geldes oder des Ruhmes willen zu schreiben, ist genau so wenig sinnvoll, wie ausschließlich um des Geldes oder des Ruhmes willen zu turnen, zu laufen, zu singen, zu malen oder Politik zu machen. Geld und Ruhm lassen die Grenzen zwischen zu wenig, genau richtig und zu viel nur all zu leicht verschwimmen, weil sie quasi unendlich sind.

     

    Wer sich an den eigenen Gefühlen und zugleich an den Gefühlen andere (!) orientiert, ist besser gegen Gier geschützt. Und das ist wichtig, weil Gier so gut wie immer negative Folgen hat. Für eine selbst und auch für andere. Manchmal gleich, viel öfter aber mit Verspätung.

  • Was soll denn diese Frage --> "Reicht denn nicht Breitensport für Kinder völlig aus? Muss es überhaupt Leistungssport sein?"

    Das sind doch grundverschiedene Dinge, ob Sport betrieben wird um des Sport willens oder um des Erfolg willens. Insofern müssen das alle für sich selbst abwägen, was gewollt ist. Das hat meines Erachtens nichts mit ausreichen oder dergleichen zu tun.