Wirtschaftskrise im Libanon: Kein Frieden ohne Brot
Die Preise steigen inflationär, die Währung verfällt, viele verlieren ihren Job. Die neue Regierung hat die Hoffnung auf Reformen nicht erfüllt.
P reisschilder gibt es schon lange keine mehr an den Regalen in libanesischen Geschäften. Wer hier einkaufen geht, legt die Waren in einen Korb und steht dann nicht an der Kasse, sondern erst mal an einem Warenscanner an. Jede Packung scannen die Kund*innen einzeln ein, um den Preis zu erfahren. Erst dann entscheiden sie über den Kauf. Die Entscheidung fällt schwer, denn im Libanon steigen die Preise für Milch, Medikamente, Küchengeräte oder Möbel fast täglich. So schnell, dass die Händler*innen nicht hinterherkommen, alle Waren neu auszuzeichnen. So weiß niemand, ob der Preis an diesem Tag ein Schnäppchen ist oder völlig überteuert.
Der Libanon durchlebt die schwerste Wirtschaftskrise in seiner nicht einmal hundert Jahre jungen Geschichte. Ein maroder Staatshaushalt und das Coronavirus haben dazu geführt, dass das libanesische Pfund in acht Monaten mehr als 80 Prozent an Wert verloren hat. Internet und Strom fallen über Stunden hinweg aus; entweder ist das Benzin für die Generatoren, die sonst die Stromausfälle überbrücken, ausgegangen oder die Motoren der Generatoren sind überhitzt.
Dieser Text ist vor der Explosion in Beirut am 4. August 2020 entstanden.
Durch den Währungsverfall und das Ausbleiben der Kundschaft mussten Cafés, Restaurants, Bars und Einzelhändler schließen: Bereits vor Corona haben mindestens 25.000 der 150.000 Beschäftigten im Gastrogewerbe ihre Arbeit verloren. Mehr als 60 Prozent der Metzgereien gaben in den letzten Wochen auf, weil sich die Bevölkerung kein Fleisch mehr leisten kann. Tausende verloren ihre Jobs.
Amani Hashem, 28 Jahre alt, ist eine davon. Fünf Jahre arbeitete sie im renommierten Uniklinikum der Amerikanischen Universität der Hauptstadt. „Ich hatte mich freiwillig für die Coronastation gemeldet“, erzählt die Mutter eines dreijährigen Kindes. Und obwohl die Familie versuchte, ihr den Job auszureden, nahm sie das Risiko aus Überzeugung für den Beruf in Kauf. „An einem Freitag konnte ich mich plötzlich nicht mehr am Computer einloggen“, berichtet sie, „so habe ich erfahren, dass ich entlassen wurde – wegen des Coronavirus und der Finanzkrise.“
Über 800 Angestellte auf mittlerer Führungsebene sowie Elektriker und Pfleger*innen des Krankenhauses wurden gekündigt. Hashem kritisiert, dass die Verwaltung weiterhin üppige Gehälter beziehe, während das einfache Personal den Job verlor. „Das ist unmoralisch und unfair“, sagt. sie. „Die Universität ist der Libanon im Kleinen: Die Verwaltung stiehlt Geld, und die hart arbeitenden Menschen leiden.“
Gegen die Misswirtschaft ihrer Regierung gingen im Herbst vergangenen Jahres Hunderttausende auf die Straßen. Sie kritisierten ihre Politiker für Klientelismus und Korruption; forderten eine Revolution, den Rücktritt der Regierung, eine unabhängige Übergangsregierung und Neuwahlen.
Die Proteste blieben friedlich
Die Menschen hatten die alte Elite, die seit Ende des Bürgerkrieges vor 30 Jahren an der Macht festhält, satt. Während ihr Ministerpräsident in den Schlagzeilen war, weil er einem Model umgerechnet etwa 13,5 Millionen Euro überwiesen hatte, sahen sich die Libanes*innen gezwungen, teure Generatoren zu bezahlen, um die täglichen Stromausfälle zu überbrücken. Die nationale Elektrizitätsgesellschaft weist ein jährliches Defizit von fast 1,7 Milliarden Euro im Jahr auf. Der Strom fiel bereits vor der Krise mindestens drei Stunden am Tag aus. Die Menschen leiden unter nicht trinkbarem Leitungswasser, explodierenden Mieten und horrenden Telefongebühren.
Die Wut darüber entlud sich in friedlichen Protesten. Erstmals zeigten sich Jung und Alt, Arme und Menschen aus der sehr kleinen Mittelschicht vereint, auch über konfessionell-politische Grenzen hinweg. Muslimische Sunniten und Schiiten, maronitische Christen oder Drusen schwangen die libanesische Flagge – eine Seltenheit in einem Land, in dem die Regionen mehrheitlich von einer der 18 anerkannten Religionsgemeinschaften geprägt sind.
Keine Aufbruchstimmung mehr
Auch die 57-jährige Lya Sabban ging mit ihrer Tochter am 29. Oktober 2019 gemeinsam auf die Straße. „Die Regierung und die Politiker aller Konfessionen haben uns Angst eingeflößt. Sie haben es geschafft, die Menschen anhand ihrer Religionen zu spalten“, erklärte sie damals. „Doch jetzt ist es Zeit, dass wir uns von dieser Angst befreien.“
Die friedlichen Proteste erinnerten an eine Party: Ghettoblaster auf Autodächern und DJs auf provisorischen Bühnen beschallten öffentliche Plätze mit Musik, es gab Zuckerwatte, Eis und Maiskolben zu kaufen. Am 29. Oktober 2019 verkündigte Ministerpräsident Saad Hariri seinen Rückzug. Im Januar formierte sich die neue Regierung.
Doch die Aufbruchstimmung ist verflogen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warnt, dass Millionen Menschen der Hunger droht.
Ein Besuch in einem Supermarkt in Beirut vor ein paar Wochen. Die Regale sind leergefegt, Mehl ist ausverkauft. Zwei Frauen vergleichen die Preise von Sonnenblumenöl. Menschen drängen sich an den Kassen, trotz möglicher Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus. Am nächsten Tag soll Brot um 30 Prozent teurer werden – und auch andere Lebensmittel könnten im Preis nach oben schnellen, weil die lokale Währung stetig an Wert verliert. Die Menschen hamstern, weil die Preise durch die Inflation wöchentlich steigen. Ein Kilo Fleisch kostet Ende Juli knapp 30 Euro, eine Packung Milch 3 Euro.
Die meisten Lebensmittel müssen importiert werden. Eigentlich kein Problem, denn das libanesische Pfund ist offiziell zu einem festen Kurs an den US-Dollar gekoppelt. Das heißt: Für 1 Dollar gab es 1.500 Pfund. Das sollte Währungsstabilität garantieren, die Menschen nutzen den Dollar im Alltag als Zahlungsmittel. Doch seit vergangenem Jahr gehen die Dollarscheine in den Reserven der Zentralbank aus, weil die Anleger*innen das Vertrauen in den korrupten Staat verloren haben. Die Folge: Banken geben keine Dollar mehr aus, die Menschen kommen nicht mehr an die stabile Währung. Auch die Händler*innen müssen Dollar für einen höheren Umtauschkurs erwerben – und so kommt es, dass die Preise steigen.
Inzwischen kostet der Dollar rund 8.000 Pfund auf dem Schwarzmarkt. Menschen, die ihre libanesischen Konten in Dollar führen, bekommen nur Pfund ausgezahlt – zu einem Kurs von 3.900 Pfund. So kommt es, dass Währungschaos herrscht: Die Mieten dürfen offiziell nicht angehoben werden und sind mit der Rate von 1.500 Pfund zu 1 Dollar berechnet; ebenso Rechnungen von Behörden oder Anwaltskanzleien. Auch Gehälter werden in der niedrigen, offiziellen Rate überwiesen. Geschäfte suchen sich ihre Rate selbst aus – sie rangiert zwischen 3.000 und 8.000 Pfund.
Ein Leben in der Inflation heißt: mit Hunderttausenden oder Millionen Pfund kalkulieren, um das Essen, die Miete oder die Stromrechnung zu bezahlen. Bei der Anschaffung eines Schreibtisches, von Glühbirnen oder Ladegeräten mit dem Händler feilschen, weil der tatsächliche Wert unklar ist.
LibanonDas Land, mit Grenzen zu Syrien und Israel, ist so groß wie Hessen und hat ungefähr 6 Millionen Einwohner*innen. Die Zahl ist ungenau, da durch den Krieg viele Syrer*innen ins Land geflüchtet sind – und sich unregistriert in Camps aufhalten.
Bürgerkrieg
Noch immer ist der Frieden fragil. 1990 diktierten die Milizenführer einen Frieden „von oben“ und unterzeichneten ein Friedensabkommen. Gleichzeitig erließen sie ein Amnestiegesetz, das Kriegsverbrechen oft ungesühnt ließ.
Klientelismus
Die Oligarchie entzieht durch Korruption Geld und gibt es in kleineren Portionen an ihre jeweilige Gemeinschaft zurück. Politische und wirtschaftliche Elite sind eng verknüpft. Nur ein Prozent der Reichen profitiert von einem Viertel des gesamtwirtschaftlichen Einkommens. Die unteren 50 Prozent sehen davon nur 10 Prozent. Eine breite Mittelschicht fehlt. (Quelle: World Inequality Lab für 2016).
Historischer Schuldenberg
Der Libanon muss also nicht nur die schwierige Coronakrise meistern, sondern außerdem den Währungsverfall stoppen und den historisch gewachsenen Schuldenberg angehen. Die Staatsschulden betragen mehr als 80 Milliarden Euro – das sind knapp 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Wie ist dieser Berg historisch gewachsen?
Nach dem Ende des Krieges blieb eine kleine Gruppe ehemaliger Warlords an der Macht. Sie teilten den öffentlichen Sektor – etwa die Energiebehörde, das Telekommunikationsnetz, das Geschäft mit der Wasserversorgung – untereinander auf, erklärt Bassel Salloukh, Politikprofessor an der libanesisch-amerikanischen Universität. „Die konfessionell-politische Elite hat die Ressourcen, die Finanzen und die Institutionen des Staates genutzt, um sich entweder zu bereichern oder Arbeitsplätze und Positionen für ihre Anhänger zu schaffen“, sagt er. „Das hat dann zu einem aufgeblähten öffentlichen Sektor geführt und ist der Hauptgrund dafür, warum der Libanon in der Nachkriegszeit Milliarden über Milliarden an Dollar ausgegeben hat, ohne eine Infrastruktur aufzuweisen.“
Dinge, die dem Gemeinwohl dienen – öffentliche Parks, mit Steuergeldern geförderte Theater oder Nahverkehr: nicht vorhanden. Das Land ist durch und durch privatisiert. Diese neoliberale Politik geht auf den Multimilliardär und einstigen Ministerpräsidenten Rafik Hariri zurück.
Der sunnitische Politiker gründete nach dem Krieg zum Wiederaufbau Beiruts beispielsweise eine Aktiengesellschaft – deren Hauptaktionär er selbst war. Das Projekt sollte das Interesse von ausländischen Investoren wecken. Die legten ihr Geld auch gerne an, denn die libanesischen Privatbanken zahlten zweistellige Zinserträge aus und verliehen das Geld gegen noch höhere Gebühren weiter an die Zentralbank, die es wiederum an den Staat gab.
„Bankiers hatten schon immer den größten Einfluss auf die Wirtschaftspolitik im Libanon“, erklärt der Aktivist und Politikanalyst Nizar Hassan. „Politiker halten Anteile an Banken, und die meisten Minister, die wir nach dem Bürgerkrieg hatten, waren Bänker. Die Politik der Zentralbank bevorzugt das Interesse der Banken. Generell sind Bankiers die neue Bourgeoisie, die nach dem Bürgerkrieg zur herrschenden Elite wurde.“
Die Politik unter Rafik Hariri setzte darauf, dass sich das Geld durch Anlagen und Investitionen in Immobilien vermehre. Doch dies schafft weder exportierbare Güter noch Arbeitsplätze. „Die Wirtschaft dürfte den Leuten nicht den Anreiz geben, ihr Geld auf ein Konto zu verfrachten und dort liegen zu lassen“, sagt Hassan. „Wir sollten sie ermutigen, das Geld im produktiven Sektor zu investieren. Aber wer das so macht, ist dumm dran, weil es mehr Geld bringt, das Geld zur Bank zu bringen und Zinsen zu kassieren.“
Ein Technokratenkabinett
Ein Umdenken in der Politik blieb aus. Mit den Protesten hofften die Libanes*innen auf eine unabhängige, technokratische Regierung, die Reformen durchsetzt. Stattdessen bekamen sie im Januar eine Regierung unter dem ehemaligen Bildungsminister Hassan Diab. Sein Kabinett hat Technokrat*innen in Ministerposten gebracht, aber es sind keine unabhängigen Expert*innen, wie es die Demonstrierenden gefordert hatten.
Stattdessen sind auch sie mit der alten Elite verbandelt: Die Regierung wird hauptsächlich von der schiitischen Hisbollah und ihren Verbündeten getragen. Die Hisbollah ist eine politische Partei und militärische Organisation, die finanziell vom Iran unterstützt wird. Sie sieht sich als Vertreterin des Irans, als Widerstandsbewegung gegen Israel und wehrt sich gegen jeglichen Einfluss des Westens in der Region.
Dennoch hat Regierungschef Diab einen Rettungsplan entworfen und sich damit an den in Washington ansässigen Internationalen Währungsfonds gewandt – mit der Bitte um knapp 9 Milliarden Euro. Im Gegenzug sind unter anderem weniger Staatsausgaben, die Restrukturierung der Schulden und des Bankensektors vorgesehen. Doch die Verhandlungen mit dem Währungsfonds laufen seit Monaten, ohne Ergebnis.
Unter anderem weil die Regierung keine einheitlichen Zahlen zur Höhe der Verschuldung vorlegen konnte. Ein hoher Beamter des Finanzministeriums und ein Berater, der für den Libanon mit dem IWF verhandelt hatte, sind bereits zurückgetreten. Sie kritisieren, dass die politische Führung nichts tue, um die Krise beizulegen.
Verhandlungen mit dem IWF
„Es gibt dieses Durcheinander in den Verhandlungen mit dem IWF, weil die politische Elite sich sträubt, Reformen anzugehen“, sagt Politikwissenschaftler Salloukh. Der Währungsfonds verlange normalerweise eine Währungsabwertung, die Reduzierung des öffentlichen Sektors, Privatisierungen oder einen ausgeglichenen Haushalt. „All das erscheint der konfessionell geprägten Elite wie politischer Selbstmord.“
Die Lösung der Krise ist für Salloukh eigentlich simpel: den Staatshaushalt zu kürzen, indem der aufgeblähte öffentliche Sektor verkleinert wird. „Doch das würde die Basis des klientelistischen Systems zerstören.“
Während die politischen Verhandlungen über neue Gelder andauern, wandelt sich das Bild auf den Straßen. Nur noch wenige Menschen protestieren, sie haben zu große Überlebenssorgen und sind frustriert. Bei den wenigen, die noch auf die Straße gehen, dominiert die Wut gegen den Staat und die Banken.
Beliebte Kriegsrhetorik
Vor ein paar Wochen blockieren im Süden der Hauptstadt junge Männer mit Motorrädern die Straße. Vor ihnen liegen ein paar brennende Reifen. Einer der Jungs ist Ali, der seinen Nachnamen nicht nennen mag. Er erzählt, dass er Sunnit sei und sich den im Oktober gestürzten Regierungschef Hariri zurückwünscht. Er hegt einen Groll gegen die derzeit tonangebende Hisbollah: „Die einzige Lösung derzeit ist ein blutiger Krieg. Ich sage nicht, dass wir ihn wollen, aber wenn die Hisbollah ihn möchte, dann sind wir bereit.“
Woher kommt diese Kriegsrhetorik? „Sie ist eine Folge des langen Bürgerkriegs und der Konflikte, die wir in den letzten Jahren erlebt haben“, sagt die Politikanalystin Zeina El-Helou. „Und die aktuelle wirtschaftliche und finanzielle Situation ist auch nicht förderlich für den sozialen Frieden. Die Unruhen sind eine logische Folge: Ohne Brot wird es keinen Frieden geben.“
Freiwillige springen ein, um Lebensmittel an Bedürftige zu verteilen. Längerfristig kann der Hunger im Libanon aber nur durch systematische Reformen gestillt werden. Rachel Bahn, Professorin für Nahrungsmittelsicherheit, schlägt vor, „einerseits das soziale Sicherheitsnetz auszuweiten, um sicherzustellen, dass Menschen, die unter die Armutsgrenze fallen, nicht hungern müssen. Andererseits sollte man auf längere Sicht darüber nachdenken, wie die libanesische Landwirtschaft und ihre Wirtschaftszweige gefördert werden können.“
Es gibt bereits einige Investor*innen sowie lokal erfolgreiche Projekte, vor allem beim Anbau von Obst und Gemüse. Der Libanon ist zwar klein, bietet aber fruchtbaren Boden für Bananen, Kirschen, Oliven, Tomaten, Gurken und Paprika. Doch mit einer Verstärkung des lokalen Nahrungsmittelanbaus allein ist es wegen des Wassermangels nicht getan. Für einen Weg aus der Krise braucht es eine Umstrukturierung des politischen Systems im Libanon.
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