: „Wir sind der Zucker im deutschen Tee“
Murat Kayman war CDU-Mitglied und hat den muslimischen Dachverband Ditib als Jurist vertreten. Heute kritisiert er sowohl die Partei als auch die Institution. Hier spricht er über sein Aufwachsen in Lübeck, türkische Rückkehrillusionen und fehlendes Mitgefühl für Juden nach dem 7. Oktober
Von Jan Feddersen (Gespräch) und Nadine Schwickart (Foto)
Nah am Rhein liegt die Wohnung von Murat Kayman und seiner Frau, sie leben in Köln, beschaulich in einem bürgerlichen Viertel auf dem Weg nach Bonn. Der Jurist hat die „Alhambra-Gesellschaft“ mitgegründet, die sich als säkular und plural versteht und Muslime als selbstverständlichen Teil der deutschen Gesellschaft ansieht. In den sozialen Medien und mit seinem Blog zählt Kayman zu den schärfsten Kritikern islamistischer Verharmlosung – glaubwürdig deshalb, weil er bis 2017 als Justitiar für den türkischen Verband Ditib tätig war. Für das Gespräch bittet Murat Kayman ins Wohnzimmer. Es gibt, von seiner Frau vorbereitet, delikaten Kuchen und Kaffee.
taz: Herr Kayman, Sie wohnen schon seit vielen Jahren in Köln. Das hört man gar nicht. Sie klingen eher norddeutsch.
Murat Kayman: Ich bin in Lübeck zur Welt gekommen und dort zur Schule gegangen. Lübeck war immer meine Heimat. Irgendwie hat es sich nicht ergeben, hier am Rhein diese Sprachfärbung anzunehmen.
taz: Grüßen Sie hier mit „Moin“?
Kayman: Nein, das nicht, gelegentlich bei Whatsapp oder in SMS, aber das ist der Gruß in jeder Lebenslage, den ich aus Lübeck kenne.
taz: Was mochten Sie an Lübeck?
Kayman: Es gibt einen Text von Kurt Tucholsky. Sinngemäß schreibt er: Je weiter man in den Norden reist, desto stärker riecht die Luft nach Salz und Jod. Unsere Familienausflüge nach Travemünde …
taz: … ein einst mondänes Bad an der Ostsee vor den Toren Lübecks …
Kayman: … hießen für mich, das Wasser rauschen und plätschern zu hören. Heimat!
taz: Badeten Sie auch?
Kayman: Nein, da war ich verwöhnt von den Badeurlauben in der Türkei in den Sommern meiner Kindheit. Das Wasser klar und warm – das war schon ein anderer Schnack als die eher kalte Ostsee an der Grenze zur damals noch existierenden DDR.
taz: Wann sind Ihre Eltern nach Lübeck gekommen?
Kayman: Mein Vater 1969, meine Mutter zwei Jahre später. Wir waren eine typische türkische Gastarbeiterfamilie. Mein Vater hat in einer Metalldruckgussfirma gearbeitet, am Ende als Vorarbeiter an den Druckgussmaschinen. Meine Mutter war zunächst Hausfrau, arbeitete dann in einem Schuhgeschäft.
taz: Viele der sogenannten Gastarbeiter, etwa Italiener, die bei VW in Wolfsburg arbeiteten, wollten nach einigen Jahren wieder in ihre alte Heimat zurück. Ihre Familie nicht?
Kayman: Doch, besonders Anfang der achtziger Jahre, als Rückkehrprämien versprochen wurden. Ich erinnere mich an eine Szene, als vor der Wohnung eines befreundeten Paares ein Möbelwagen stand, vollgepackt mit deren Hab und Gut, Kartons noch und noch. Aber wir blieben, obwohl es hieß, eines Tages würden auch wir unsere Zelte in Lübeck abbrechen.
taz: Warum blieben Sie?
Kayman: Das Leben! Meinem Vater ging es auf der Arbeit gut, meiner Mutter auch, und wir Kinder, meine Schwester und ich, waren einfach Lübecker Kinder. Aber die Rückkehrillusion, wie ich sie nenne, blieb. Bei uns wurde am Abendbrottisch auch hin und wieder darüber gesprochen, aber wir hatten keine Perspektive in der Türkei.
taz: Gab es politische Gründe zum Bleiben?
Kayman: Indirekt, ja. In Deutschland konnte man als Arbeiter damals gut Geld verdienen, die medizinische Versorgung war gut, der Alltag konnte ruhig sein. Deutschland, das hieß, Geld zurücklegen zu können, und das hat meine Familie auch. Türkei, das war auch Unsicherheit – alle zehn Jahre ein Militärputsch. In Deutschland hatten meine Eltern Zukunft.
taz: Und Sommer für Sommer wurde das Auto für den großen Heimaturlaub gepackt?
Kayman: Klar, dafür musste das Jahr über gespart werden. Meine Eltern konnten auch in eine kleine Wohnung in der Türkei investieren, aber im Sinne des Vermögensaufbaus hat sich das nie rentiert. Sie sagten uns, das Geld haben wir in unsere Kinder gesteckt.
taz: Inwiefern?
Kayman: Wir konnten zur Schule gehen, Bildung war ein ganz hoher Wert. Meine Mutter und mein Vater sprachen bis an ihr Lebensende nicht gut Deutsch, aber wir wurden klar angehalten, die Sprache zu lernen. Einmal, das merkte meine Mutter genau, fielen meine Noten in Französisch ab. Und was machte sie? Organisierte Nachhilfe, ließ nicht nach. Erfolgreich.
taz: Waren Sie gut in der Schule?
Kayman: Es ist mir nie schwer gefallen. Unsere Grundschule war echt multikulti. Ein paar Türkenkinder, ein Mädchen aus Griechenland … Später auf dem Gymnasium war ich das einzige türkische Kind in meinem gesamten Jahrgang. Bei mir stellte sich nie die Frage, ob ich wegen mangelnder Deutschkenntnisse den Stoff nicht schaffe. Wobei das nicht von Beginn an so glatt ging: In der Kindergartenzeit habe ich mich geweigert, Deutsch zu sprechen. Türkisch, nur Türkisch sollte es sein. Keine Ahnung warum, aber das änderte sich, ohne dass ich das als Zwang erinnere.
taz: Ein türkisches Kind in der Minderheit?
Kayman: Ja, eindeutig. Aber das spielte keine Rolle. Ich wurde gefördert, wie andere auch. Vor allem durch Lehrerinnen. Dass ich zu einer Minderheit gehöre, merkte ich erst auf dem Gymnasium. In der Grundschule waren alle irgendwie gleich.
taz: Gab es auf dem Gymnasium rassistische Sprüche?
Der Mann
Murat Kayman, geboren 1973, ist Jurist und Publizist sowie Mitgründer des Vereins Alhambra Gesellschaft. Er studierte Rechtswissenschaften und war anschließend als Rechtsanwalt in Lübeck und Hamburg tätig. Von 2014 bis 2017 arbeitete er als Syndikusanwalt des muslimischen Dachverbandes DITIB in Köln. 2017 trat er von seinen dortigen Ämtern zurück.
Die Projekte
Er ist Co-Host des „Dauernörgler“-Podcasts und veröffentlicht regelmäßig Blogtexte zum Thema Islam in Deutschland. Aktuell arbeitet er im Projekt „Muslim Debate 2.0“ der Alhambra Gesellschaft. 2021 erschien sein Buch „Wo der Weg zur Gewalt beginnt – Muslimische Vorstellungen von Überlegenheit, ihre Wirkung auf Extremismus und Terror und was wir dagegen tun können.“
Kayman: Hin und wieder, aber nicht so, wie man es heute rassistisch nennt. „Türkenjunge“ … oder so, ja. Alles nur auf dem Schulhof, nicht fundamental gegen mich als Person. So wie sich Kinder untereinander bezeichnen, wenn sie sich streiten und den anderen treffen wollen. Das hatte nichts an und für sich zu bedeuten.
taz: Waren Sie das erste Kind Ihrer Familie, das eine höhere Schulbildung bekam?
Kayman: Nein. Aber der erste, der einen Universitätsabschluss schaffte. Wahr ist, dass ich das Gymnasium als Ausnahmesituation empfand: ein Kind aus der Arbeiterschicht unter Jugendlichen, deren Väter meist nicht in einem Industriebetrieb arbeiteten. Heute ist das in den Schulen anders, da ist niemand mit meinem familiären Hintergrund die Ausnahme.
taz: Weshalb sind Sie Jurist geworden?
Kayman: Was hätte es sonst als Studium geben können? Ich war immer für die Sache der Gerechtigkeit, ich wollte etwas gut machen, schlichten, nicht machtlos sein. Die Juristerei war das Richtige. Es sollte nicht so sein, wie ich es aus Erzählungen anderer Menschen hörte: Im Ausländeramt irgendwas klären müssen, und dann triezt einen der Sachbearbeiter. Sagt nicht „Adresse“, sondern „Anschrift“, weil das ein schwierigeres Wort ist.
taz: Wie Ihr Vater in einem Industriebetrieb zu arbeiten, kam für Sie nicht in Frage?
Kayman: Eine Erinnerung hierzu: Mein Vater musste in seiner Arbeit nachts öfters raus, um die Gussöfen für den Tagesbetrieb anlaufen zu lassen. Ich durfte hin und wieder mit. Ein Pförtner des Betriebs fragte ihn mal, warum er seinen Sohn mitgebracht habe. Er antwortete: Damit er sieht, was sein Vater arbeitet und was sein Kind nicht machen soll.
taz: Die Geschichte Ihrer Familie ist die einer Familie aus der Arbeiterklasse, eine, die Millionen andere hierzulande ähnlich erzählen können. Und doch stand immer Ihre Herkunft im Vordergrund, es ging um „Ausländer“, ja um „Muslimisches“?
Kayman: So wurden wir wahrgenommen.
taz: Ist das ein Grund, weshalb sehr viele Menschen, die zur türkischen Community zählen, dem autokratischen Recep Erdoğan zuneigen? Wenn der türkische Präsident nach Deutschland kommt, mobilisiert er Massen zu Kundgebungen.
Kayman: Es gibt in der türkischen Community etwas, was ich als vererbte Rückkehrillusion bezeichne. Der Glaube, dass irgendwann die Rückkehr wie in ein gelobtes Land bevorsteht. Und zu diesem gelobten Land gehört heutzutage ein autokratischer Präsident wie Erdoğan.
taz: Weshalb konnte Erdoğan so populär werden?
Kayman: Mit seiner Rhetorik einer Türkei, die – mit ihm als Alleinherrscher – vermeintlich wieder zur einstigen Größe und Macht des Osmanischen Reiches aufsteigen wird. In der Gefolgschaft zu ihm werden sie Teil dieser Utopie von Größe und Macht.
taz: Das kann es doch nicht allein sein, oder?
Kayman: Das andere, darüber wird nicht gern gesprochen, hat mit einem kollektiven Minderwertigkeitsgefühl zu tun: Wir sind in Deutschland nicht so viel wert wie alle anderen. Das wird einem ja auch nahegelegt: Sie sind seltsam, sie essen komisch, sie riechen anders … In der Türkei, der Heimat ihrer Vorfahren, geht es ihnen anders. Da sind sie die wohlhabenden Verwandten aus Deutschland, für die einer wie Erdoğan der große Führer ist, der sie mit groß macht.
taz: Das demokratische Gefüge der Türkei ist in vielerlei Hinsicht zerstört. Das Justizsystem ist korrupt, öffentliche Kritik an Erdoğan führt leicht zu Inhaftierungen. Sehen das die Erdoğan-Anhänger nicht?
Kayman: Die politische Realität wird vielfach ausgeblendet. Ein erschütternder Befund, aber so ist es. Dass in Deutschland vieles für die Angehörigen der türkischen Community besser werden könnte, klar, das stimmt. Aber dieses Land, mein Land, hat ein funktionierendes demokratisches System, eine bunte Gesellschaft, die Menschen wie mir Teilhabe und Engagement ohne Angst ermöglicht. Das hat nicht das Gewicht, das es verdient.
taz: Es gibt in Deutschland einen gesellschaftlichen Rechtsruck, die AfD feiert Erfolge. Das macht Ihnen keine Angst?
Kayman: Wir sind mit einem Gefühl aufgewachsen, dass die demokratische Grundordnung unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sei. Dass die zwölf Jahre faschistische Diktatur eine seltsame Verirrung gewesen sind, für die wir nie wieder empfänglich sein können. Nun zeigt sich, dass dem nicht so ist und wir uns für die Demokratie einsetzen und sie verteidigen müssen.
taz: Sie setzen sich seit Langem für die Interessen türkischstämmiger Bürger und Bürgerinnen ein – aber nicht mehr in der Ditib, dem Religionsverband der türkischen Community. Warum?
Kayman: Ich habe mich, als ich noch in Lübeck lebte, in die dortige Stadtgesellschaft eingebracht. Fragen der Religion haben mich schon in der Schule stark interessiert. Lieber als in den Ethikunterricht wollte ich in den evangelischen Religionsunterricht. Das war spannender, die ethischen Unterweisungen fand ich fade und eher beliebig. Mich kriegte eher, dass ich im Religionsunterricht als muslimischer Schüler willkommen war und jede Frage stellen konnte.
taz: Und Sie kamen als muslimisches Kind nicht in Zweifel?
Kayman: Im Gegenteil, ich konnte dort alle Themen denken – und blieb, wie ich es heute bin, gläubiger Muslim. Ich hatte außerdem allen Schutz durch meine Familie. Als kleines Kind ging ich in die Koranschule, aber nur kurz. Wir mussten auswendig lernen und wurden hart bestraft, wenn wir etwas nicht richtig wussten. Meine Eltern, volksfrömmig wie sie waren, warmherzig auch in religiösen Dingen, holten mich da raus.
taz: Und wie kamen Sie zur Ditib?
Kayman: Als Jurist, der ich nach meinem Studium dann war, fiel ich den oberen Funktionären auf: Der kann sich für unsere Interessen auch rechtlich einsetzen. Das habe ich viele Jahre getan, war zur Islamkonferenz der Bundesregierung eingeladen – und war für viele Ditib-Kritikerinnen wie Necla Kelek, Seyran Ateş oder andere Mitglieder, die auf Säkularisierung pochten, bestimmt kein Freund.
taz: Wem neigten Sie damals politisch zu?
Kayman: Ich war Mitglied der CDU. Religionspolitisch kam diese Partei mir am nächsten. Das hat sich später geändert.
taz: Wann?
Kayman: Nachdem der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch Anfang 1999 seine Kampagne gegen die rot-grüne Bundesregierung und ihr Gesetz zum Doppelpass ins Werk setzte. Eigentlich war das eine Aktion, bei der man, wie es hieß, „gegen Ausländer“ unterschreiben konnte. Das war für mich ein Schock, das war nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen mit dem, was ich politisch und kulturell wollte.
taz: Und die Ditib?
Kayman: Die hatten ihre Interessen, die ich ja als Justitiar mittrug. Aber ich fand es immer weniger überzeugend, dass eine Religionsgemeinschaft in Deutschland aus der Türkei geleitet wird. Ich wurde ein unsicherer Kantonist und wurde schließlich quasi abgeschoben, in die Abteilung für Bestattungsfragen, für Belange von Menschen der türkischen Community, deren gestorbene Angehörige in die Türkei überführt werden sollten. Schließlich bin ich gegangen, weil ich nicht auf Geheiß der in Ankara ansässigen Leitung andere Mitglieder ausspitzeln wollte, die sich dem Kurs Erdoğans nicht fügen wollten.
taz: Hatte Ihr Weggang noch andere Gründe?
Kayman: In der Tat war und ist es problematisch, dass viele in der Ditib Deutschland nicht als ihre Heimat ansehen wollen. Muslimisch und Deutsch – das seien zwei Paar Schuhe. Mein Verständnis ist anders: Ich setze mich dafür ein, dass meine Religion in Deutschland gelebt wird, ohne ausländischen Einfluss und letztliche Autorität.
taz: Für welchen Islam stehen Sie? Wie sähe ein zeitgenössischer Islam aus?
Kayman: Für einen sehr individuellen. Meine Erfahrungen mit den kollektiven Dimensionen meiner Glaubensgemeinschaft schwächen meinen Glauben. Ich kann ihn also nur als einen sehr persönlichen Glauben bewahren. Die größte Herausforderung für uns Muslime ist es gegenwärtig, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie wir mit jenen umgehen wollen, die nicht so glauben wollen wie wir. Ohne eine Antwort, die sich jeder Abwertung und Anfeindung enthält, wird es uns nicht gelingen, unseren Glauben als etwas zu leben, das diesem Land etwas Positives zu bieten hat.
taz: Das Argument gegen Sie lautet, dass Sie sich der „deutschen Leitkultur“, eine Chiffre, die auch der heutige Kanzler Friedrich Merz vor 20 Jahren in die Debatte einführte, nicht unterwerfen wollen.
Kayman: Ich bevorzuge ein Sprachbild meiner Eltern: Wir sind als vormals türkische Gastarbeiter der Zucker im deutschen Tee. Wir süßen das Deutsche, wir gehören deshalb so dazu wie alle anderen auch. Das Türkische löst sich langsam auf, aber verändert dabei auch das Deutsche. Das ist für die deutschen und türkischen Puristen gleichermaßen eine Herausforderung.
taz: Mit historischem Blick ließe sich sagen: Andere Gruppen von „Gastarbeitern“, Einwanderern, wurden auch krass als nichtdeutsch gelabelt, verachtet und respektlos behandelt – Italiener, Spanier, Jugoslawen. An deren Speisen indes erkennt man, dass sie angekommen sind: Pizza, Paella, Ćevapčići. Der Döner ist heute das in den jungen Generationen beliebteste Fastfood, eine Erfindung aus der türkischen Community in Deutschland.
Kayman: Ob das mit arabischem Essen auch gelingen wird, halte ich für offen. Wir haben eine Situation, in der arabische Einwanderer nur als „Ausländer“ verhandelt werden, nicht als deutsche Staatsbürger in spe.
taz: Demografisch hat unser Land gar keine andere Wahl, das weiß auch die Union: Es werden mittelfristig jede Menge Einwanderer, mithin Neudeutsche gebraucht, oder?
Kayman: Das ist bestimmt so, alle Zahlen sagen das. Aber das ändert nichts daran, dass das Muslimische und das Demokratische noch viel zu oft als Gegensatz gedacht werden. Mein Islam, mein Glauben ist so viel wert wie der christliche oder der jüdische Glauben. Das ist kein Gegensatz, darauf muss ich bestehen. Mir macht der deutsche Diskurs Sorgen, der völkische Vorstellungen bedient und sich interessanterweise mit vielen Vorstellungen Erdoğans deckt.
taz: Der Krieg in Gaza wühlt die arabische Community auf. Wie beurteilen Sie die Demos und Proteste gegen Israel, gegen Jüdisches, auch in Deutschland? In manchen Kommentaren zu Ihren Posts steht, Sie seien ein „Verräter“.
Kayman: Ich bin, muss ich zugeben, nicht erklärungs-, aber ratlos. Die fehlende Empathie nach dem 7. Oktober mit Juden und Jüdinnen, ob in Israel oder nicht, finde ich unfassbar. Stattdessen gab es starke Sympathien für die Hamas.
taz: In Berlins Bezirk Neukölln wurde Baklava verteilt.
Kayman: Schockierend, ja. Die tonangebenden muslimischen Communitys sitzen in der Falle: Ihnen fehlt es an Mitgefühl mit den Opfern des 7. Oktober 2023. Sie warnen vor antimuslimischen Vorbehalten …
taz: … die es ja auch gibt, nicht wahr?
Kayman: Sie sprechen von „antimuslimischen Rassismus“ sogar, aber ohne die stark wachsende Gewalt gegen jüdisches Leben zu erwähnen. Viele sitzen einem Wahn auf: Sie würden sich darüber freuen, wenn Israel nicht mehr existiert. Und sie versuchen diese innere Haltung mit den unterschiedlichsten ideologischen Argumenten zu rationalisieren und zu rechtfertigen, um sich besser zu fühlen. Dieser Weg endet aber in der Akzeptanz oder gar der stillen Huldigung des Terrors gegen Juden.
taz: Viele aus der muslimischen Community kennen Menschen in Gaza, sie wollen das israelische Vorgehen dort nicht hinnehmen.
Kayman: Diese Verbundenheit mit den Menschen in Gaza verdient wahrgenommen und geteilt zu werden. Dass das nicht oder zu wenig passiert, hat mit dem Versagen der muslimischen Communitys und ihrer Repräsentanten unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 zu tun: Denn viele aus der jüdischen Community in Deutschland kennen Menschen in Israel, einige der Geiseln der Hamas sind auch deutsche Staatsbürger. Das fehlende Mitgefühl in der muslimischen Community ihnen gegenüber spiegelt sich in dem, was Muslime heute als fehlende Empathie mit den Menschen in Gaza beklagen.
taz: Ihre Eltern, Herr Kayman, sind wo begraben?
Kayman: In Lübeck, ihrer zweiten Heimat, an dem Ort, so sagten sie, wo sie von ihren Kindern besucht werden können. Und so ist es, so wird es sein.
Jan Feddersen, Jahrgang 1957, taz-Redakteur und Kurator vom taz lab wie der taz Talks, wuchs in Hamburg auf. Sein Vater hatte viele Kollegen, die als Arbeitsmigranten nach Deutschland gekommen waren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen