Winter in Gaza: Leben im durchnässten Zelt
Am Wochenende wurden die Menschen in Gaza von schweren Unwettern getroffen. Hilfsgüter sind rar, Hunderttausende Familien in Not. Zwei berichten.
K hawla Khadrs Füße sind nass. An dem schwarzen Plastik ihrer Schlappen klebt Schlamm. Auch an ihren Zehen und am Saum ihres langen dunklen Kleides. „Das Wasser“, sagt sie, „steht uns bis an den Eingang.“ Sie bleibt neben ihrem Zelt stehen, auf einem halbwegs trockenen Fleckchen Boden, zwischen mit Regenwasser gefüllten Pfützen und eben dem klebrigem Schlamm, rötlich wie der Sand, auf dem sie ihr Zelt einmal aufbaute.
Schon eine Weile lebt sie dort, südwestlich von Deir-al-Balah, mit ihren beiden Söhnen und ihrer Tochter, erzählt sie. Ursprünglich stammt die Familie aus Beit Hanun, ganz im Norden des Gazastreifens, an der Grenze zu Israel. Seit Oktober 2023 sind sie vertrieben, mehrfach, quer durch Gaza, bis in dieses Camp nahe Deir-al-Balah. Ihr Mann lebt nicht mehr, erzählt sie, er sei beim Versuch getötet worden, Hilfsgüter zu erhalten. Die Verantwortung für die kleine Familie liegt nun ganz bei ihr.
Schon im Sommer ist das Leben im Camp schwierig: Wenn die Sonne auf die Zeltplanen herunterbrennt, heizen sie sich auf. Und es ist kaum möglich, sie frei von Sand zu halten, die trockenen Partikel dringen durch jede Ritze, haften an der Haut und den Schuhen.
Im Winter aber, mit dem Absinken der Temperaturen, dem Aufkommen von Wind und Regen, wird das Leben im Camp wirklich unangenehm: „In der Nacht wachen die Kinder auf, sie weinen, weil Regenwasser in das Zelt läuft“, sagt die 38-Jährige. „Wir haben nur zwei dünne Matratzen und Decken“, erzählt sie weiter, „und nun ist alles durchnässt.“
„Meine finanzielle Situtation erlaubt das nicht.“
Am Wochenende traf der erste heftige Regenfall dieses Winters den Gazastreifen. Und damit auch die Hunderttausenden Vertriebenen, die dort in Zelten und improvisierten Behausungen ausharren. Über 13.000 Haushalte waren betroffen, schreibt das katarische Medium AlJazeera.
Dass die Zelte voll mit Wasser laufen, ist nur ein Problem von vielen. Khadr erzählt, ihr Zelt habe sie von einem Verwandten geliehen. Doch nun hat es Löcher. An einer Seite versucht sie, die Plane ihrer Behausung wieder über eine improvisierte Stange zu stülpen. Doch ein Riss erschwert das Unterfangen. Sie denke darüber nach, ein neues Zelt zu kaufen, sagt sie. Doch die Preise seien zu hoch: „Meine finanzielle Situtation erlaubt das nicht.“
Für den Rest der Woche soll es noch einmal sonnig und warm werden. Aber nachts kühlt es bereits herunter. Und spätestens im Dezember kehrt auch in Gaza der Winter ein.
Zelte sind dort derweil Mangelware und entsprechend teuer. Mindestens 1.000 Schekel – also etwa 260 Euro – muss man für eines bezahlen. Üblicher sind Preise um die 2.000 Schekel, ungefähr 520 Euro. Nach Angaben der israelischen Behörde Cogat, die für die Verwaltung der besetzten palästinensischen Gebiete zuständig ist, wurden im Oktober insgesamt 2.681 Tonnen sogenanntes „Shelter Equipment“ – also Ausrüstung für Notunterkünfte – nach Gaza hineingelassen.
Die Krise, die der Regen auslöste, war absehbar
Nicht viel, gemessen an einer Bevölkerung von zwei Millionen Menschen, von denen nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) 90 Prozent im Laufe des Krieges mindestens einmal vertrieben wurden. Und vor dem Hintergrund, dass UN-Angaben zufolge mehr als 80 Prozent der Gebäude in Gaza beschädigt oder zerstört sind.
Dem Medienbüro im Gazastreifen zufolge, das von dem Hamas-Mitglied Ismael al-Thawabta geleitet wird, seien mehr als 288.000 Familien von einer „Shelter-Krise“ betroffen, könnten sich also nicht angemessen unterbringen. Und die Internationale Organisation für Migration meldete bereits Ende Oktober: Etwa 1,5 Millionen Menschen bräuchten dringend Hilfe bei der Unterbringung, während kaum mehr Güter dafür auf den Märkten verfügbar seien.
Dazu gehören nicht nur Zelte, sondern auch Planen, die zwischen Bäumen oder Wänden gespannt oder auf Stöcke gestützt den Regen abhalten können. Oder mit denen sich die Böden der Zelte auslegen lassen.
Die Krise, die der Regen nun in Gaza auslöste, war absehbar: Immer wieder hatten Hilfsorganisationen Israel angerufen, mehr Güter zur Unterbringung der Menschen in den Gazastreifen passieren zu lassen. Diesen Aufruf haben sie nun wiederholt – und sprachen dabei von 250.000 Familien in Not.
Fast alles kostet Geld im Gazastreifen
Es sei frustrierend, dass man seit der Annahme des Friedensplans des US-Präsidenten Donald Trump so viel Zeit verloren habe, sagte etwa Jan Egeland, Generalsekretär des Norwegian Refugee Council (NRC). Denn in dem 20-Punkte-Plan des US-Präsidenten war eigentlich festgehalten worden, dass wieder mehr Hilfslieferungen den Gazastreifen erreichen sollen – mindestens auf dem Niveau der vorangegangenen Waffenruhe im Frühjahr 2025.
Die Zahlen der Cogat zeigen aber das Gegenteil: Im ganzen Oktober – am 10. des Monats begann offiziell die Waffenruhe und damit die erste Phase des Trump-Plans – kamen nur etwa 38.700 Tonnen Güter nach Gaza. Davon stammten fast 14.700 aus dem privaten Sektor – sind also Güter, für die die Menschen auf den Märkten im Gazastreifen bezahlen müssen. Zur Erinnerung: Im Februar 2025, während der letzten Waffenruhe, waren es fast 300.000 Tonnen.
Auch Khawla Khadr und ihrer Familie mangelt es an allem: „Manchmal bekommen wir Hilfsgüter und einmal am Tag erhalten wir Essen bei einer nahen Moschee“, sagt sie. Das reiche aber kaum. Neulich habe ihre blinde Schwester, die gerade bei ihr wohnt, sich Linsen zu essen gewünscht. „Ich konnte nicht mal eine Zwiebel finden, um sie mit den Linsen anzubraten“, sagt sie. Und auch keine Zitrone, um deren sauren, frischen Saft über die deftigen Linsen zu pressen.
Ein Einkommen habe sie seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr. Neulich habe ihr jemand 200 Schekel gegeben, erzählt sie, für die Kinder. Das Geld war schnell wieder weg.
Fast alles kostet Geld im Gazastreifen: Was auf dem freien Markt verfügbar ist, aber auch Hilfsgüter, die teils ebenso auf den Märkten verkauft werden. Und auch das Sandstück, auf dem Khadrs undichtes Zelt steht, kostet Miete: Sie bezahlt etwa 250 Schekel, sagt sie, etwa 65 Euro. Dabei sei der Boden lehmhaltig. Auch das trägt dazu bei, dass das Wasser nicht abläuft. „Wir haben versucht, ein anderes Stück Land zu finden“, sagt sie, „aber es gibt nichts.“
„Die Geräusche der Wellen waren beängstigend“
Ahmed Abu Eid hat ein Stück Land gefunden, für das er nicht bezahlen muss. Denn es liegt ganz nah am Meer, direkt am Strand, in der Nähe des Hafens von Chan Yunis. „Durch die Gnade Gottes haben wir in den vergangenen Tagen die starken Winde und den Regen überlebt“, sagt er. Das Wasser des Meeres sei immer weiter den Sand des Strands hinaufgestiegen – doch er hatte vorgesorgt, erzählt er. „Wir haben Sandbarrieren aufgeschüttet, um das Zelt zu schützen.“
„Ich hatte keine Angst vor dem Regen“, sagt er. „Nur vor dem Wasser des Meeres, dass es ansteigt und unseren Zeltplatz völlig überschwemmt. Die Geräusche der Wellen waren beängstigend“, sagt er.
Sein Zelt habe er im Februar gebaut, für sich und seine achtköpfige Familie: die Ehefrau, die fünf Söhne und die Tochter. Für 1.200 Schekel, also etwa 315 Euro, habe er Planen und Holz gekauft. Doch die brennende Sonne im Sommer und der scharfe Wind, der vom Meer nach Gaza hineinweht, habe an seiner Behausung gezehrt. Jetzt regne „es an allen Ecken hinein“, sagt er.
Als der Regen vor einigen Tagen zu fallen beginnt, stellt er kleine Plastikcontainer unter die Löcher. Und versucht, die Matratzen der Familie so ins Zelt zu legen, dass sie von der Nässe verschont bleiben. Das gelingt halbwegs, doch zerstört das eindringende Regenwasser etwa die Schulbücher seines Sohnes. Er sei froh, dass das Zelt immerhin nicht zusammengebrochen sei. „Dann hätten wir gar keine Unterkunft mehr“, sagt er.
Der Regen ließ auch seine Einnahmequelle versiegen
Wie auch Khadr überlegt Abu Eid, ein neues Zelt zu kaufen. Doch die Preise, sagt er, seien signifikant gestiegen. Eine Plastikplane koste nun 300 Schekel, also etwa 80 Euro. Und für seine Konstruktion brauche er drei davon. Das Geld habe er nicht.
Denn der Regen hat auch seine einzige Einnahmequelle versiegen lassen: Vor einiger Zeit hatte er sich einen kleinen Lehmofen gebaut, darin Brot gebacken und es verkauft. Doch in der Nässe lässt sich der Ofen nicht betreiben. Und auch das Holz, das er sowohl für den Ofen als auch die private Kochstelle der Familie braucht, ist durchnässt. Und lässt sich nicht anzünden. „Also haben wir nichts gekocht“, sagt er.
Ahmed Abu Eid
Dass der Regen die privaten Zelte und Behausungen der Menschen beeinträchtigt, ist das eine. Und dann ist da noch die sanitäre Situation.
Im Zeltcamp, in dem Khawla Khadr lebt, gibt es eine notdürftig eingerichtete Toilette. „Wir haben versucht, sie mit Plastikplanen zu schützen, aber es half nichts“, sagt sie. Für Abwasser werden – in Anbetracht einer nahezu zerstörten Infrastruktur – oft Gruben gegraben. Das ist schon im Sommer ein Problem, weil es etwa das Grundwasser verunreinigt. Im Winter nimmt mit der Regenmenge auch die Wahrscheinlichkeit einer Kontaminierung zu.
Der erste Winter, den sie in einem Zelt verbringen
Auch die Stromversorgung wird schwieriger: Khadr und auch Abu Eid haben in ihren Zelten logischerweise keinen eigenen Stromzugang. Ihre Smartphones laden sie an kommerziellen Ladepunkten. Diese werden oft mit Solarpanelen betrieben. Fünf Shekel am Tag, umgerechnet ungefähr 1,30 Euro, koste sie das, sagt Khadr. Mit dem Ausbleiben der im Sommer so strahlenden Sonne könnte auch das künftig teurer werden.
Was ihm für die nahe Zukunft am meisten Angst mache, sei die Kälte, sagt Abu Eid. „Wir werden ihr begegnen müssen ohne Bettzeug und warme Decken, ohne irgendeine Möglichkeit zu heizen“, sagt er.
Den letzten Winter, erzählt er, habe er in seinem Haus verbracht, in Abasan, östlich von Chan Yunis. Doch das ist nun Teil der gelben Zone, die weiterhin unter Kontrolle des israelischen Militärs steht und von den Palästinenserinnen und Palästinensern nicht betreten werden darf. So ist es im Waffenruheabkommen erst einmal vereinbart. Es sei der erste Winter, den er und seine Familie in einem Zelt verbringen, sagt er. Und fragt: „Wenn die Situation jetzt im November zu Beginn des Winters schon so ist – wie soll das dann noch werden?“
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