Wild im Teutoburger Wald: Der Bielefelder Mufflon-Streit
Seit Jahrzehnten will ein Waldbesitzer die Wildschafe auf seinem Grund abschießen. Die Stadt hat kaum noch Möglichkeiten, das zu verhindern.
Empfohlener externer Inhalt
Die Mufflons leben hier schon seit über fünfzig Jahren. Verbreitet waren die Wildschafe vor allem auf Sardinien und Korsika. Man wollte die Tiervielfalt im Teutoburger Wald vergrößern, also wurden sie 1962 im Nordwesten Bielefelds angesiedelt.
Nun soll die Herde ab August abgeschossen werden. Das haben die Waldbesitzer vor Gericht erstritten. Zu hoch sei der wirtschaftliche Schaden, den die Mufflons an den Bäumen verursachen würden.
Im Wald am Bielefelder Stadtrand geht es nicht nur um zwölf Mufflons. Es geht darum, was mehr wiegt: Das Leben eines Baumes oder das eines Tieres. Und es geht um einen Konflikt, über den in der Forstwirtschaft viel gestritten wird: Muss man einen Wald bewirtschaften oder soll man ihn einfach in Ruhe lassen?
Immer, wenn Walther Baumann die Mufflons sieht, zählt er nach. Erst heute Morgen, es ist der Montag dieser Woche, waren sie auf dem Feld vor seinem Fenster. Oft tauchen sie hier morgens auf, Baumann filmt sie jedes Mal mit seinem Smartphone. „Eins, zwei, … zwölf.“ Alle da. Niemand hat heimlich über Nacht eins abgeschossen. Auch die vier kleinen Lämmer sieht er an diesem Morgen. Die Jungtiere erkennt man immer besonders gut, weil sie so herumhüpfen, sagt Baumann.
Für das Leben der Mufflons setzt sich nicht nur Walther Baumann ein. Zusammen mit seinem Freund Rainer Kötter, einem Computeringenieur aus Bielefeld, hat er eine Petition für den Erhalt der Mufflons gestartet. Über 130.000 Leute haben unterschrieben.
Der Bürgermeister der Stadt, Pit Clausen, stellte sich im Januar 2020 in einem Hoodie mit aufgedrucktem Mufflon-Kopf vor die Wahlkampf-Kameras. Die zwölf Tiere bewegen die Stadt seit fast zehn Jahren. Da klagten die Waldbesitzer erstmals für den Abschuss der Tiere. In Deutschland gibt es nur etwa 8.000 Tiere. Anders als Rehe rennen Mufflons nicht sofort weg, wenn sie Menschen sehen.
Das Haus von Walther Baumann hat sein Großvater 1934 an den Waldrand gebaut. Als die Mufflons hier angesiedelt wurden, war Baumann elf Jahre alt. Früher, sagt er, war direkt hier oben im Wald eine Futterstelle. Sein Vater wäre immer mit ihm dort hingegangen. Irgendwann hätten sich die Tiere so an Walther Baumann gewöhnt, dass sie ihm das Futter aus der Hand gefressen hätten.
Schaden: 5.000 Euro pro Jahr
Rainer Kötter und Walther Baumann stehen vor dem Haus am Waldrand. Die Rollen sind verteilt. Baumann ist der Kopf der Mufflon-SchützerInnen, er kennt den Wald, er kennt die Tiere. Kötter bringt die Leute zusammen. Er pachtete eine Hütte im Wald, wo sich die TierschützerInnen trafen, betreut Facebook-Gruppen und die Petition auf change.org.
Der Wald gehört einer Stiftung der Familie Klasing. Die Klasings sind eine alte Bielefelder Verlegerfamilie. Otto Klasing ist 77 und im Vorstand der Familienstiftung. Er wohnt nicht in Bielefeld, sondern in Hamburg, aber als er ans Telefon geht, weiß er schon, worum es geht. Viele rufen ihn wegen der Mufflons an. Er bittet um etwas Zeit, er will Dokumente heraussuchen. Die seien auf seinem Computer, der habe noch Windows 7, deshalb dauere das ein wenig.
„Ich fühle mich dem Erbe meiner Vorfahren verpflichtet“, sagt Otto Klasing. Sein Ur-Urgroßvater habe den Wald gekauft.
Einmal im Jahr träfe sich der Familienclan zur einer Waldbegehung in Bielefeld. Sie alle seien diesem Wald emotional stark verbunden, sagt Klasing. „Wir wollen die Naturvielfalt dieses Waldes schützen.“ Das sei ihm wichtiger als das Leben von zwölf Tieren.
Die Mufflons, sagt er, würden unzumutbare Schäden am Wald verursachen. Es gibt mehrere Gutachten, die bestätigen, dass die Mufflons „schälen“. Heißt: Die Tiere ziehen mit ihren Schneidezähnen die Baumrinde in Streifen ab. Junge Bäume können davon absterben.
Ein Gutachter hat die finanziellen Schäden durch die Mufflons auf 5.000 Euro pro Jahr geschätzt. 2019 bot ein Jäger den Klasings an, diese Schäden für fünf Jahre zu bezahlen, sodass die Mufflons nicht abgeschossen werden. Die Stiftung lehnte ab. Die Familie wollte einen vielfältigen Wald, hieß es damals.
Die Familienstiftung der Klasings ist nicht gemeinnützig. So steht es auf der Webseite des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen. Vor allem sei das Geld für alleinstehende, unverheiratete Töchter gedacht, sagt Otto Klasing. Und auch, dass er an seine eigene Altersvorsorge denken müsse. Die Klasings sehen ihren Wald als Wirtschaftsfaktor.
Dem Wald sieht man an, dass jemand mit ihm Geld verdienen will. Manche Stellen sehen aus wie Plantagen für Weihnachtsbäume. Dicht an dicht gepflanzte Fichten, unten sterben Äste schon ab, weil ihnen der Nebenbaum keinen Platz lässt.
Walther Baumann läuft durch den Wald. Es ist kühl. Baumann ist froh darum. Erst im Januar hatte er einen Herzinfarkt. „Der Arzt hat gesagt, ich soll mehr im Wald herumlaufen.“ Rainer Kötter geht voraus. Ein Ast hängt im Weg. Kötter hebt ihn hoch, sodass Baumann sich nicht bücken muss.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Eigentlich ist Baumann von Beruf Bauingenieur. Aber seit der Kindheit sei der Wald seine Leidenschaft, sagt er. Der alte Förster des Waldes hätte ihm viel beigebracht. „Wild gehört in den Wald“, das sei dessen Credo gewesen.
Rehe und auch die Mufflons – all diese Tiere müsse man im Wald leben lassen. Sie fressen Unkraut und Gestrüpp vom Boden weg, sodass neue Bäume in Ruhe wachsen können. Der Förster lebt nicht mehr, sagt Baumann. Und der Neue sehe das ganz anders.
Baumann zeigt auf die wilden Brombeeren am Boden und auf die Brennnesseln, die so hoch am Rand des Trampelpfads stehen, dass man auf seine Arme aufpassen muss. „So was frisst Wild eigentlich weg, aber hier gibt es ja kaum Wild mehr.“ Je mehr Gestrüpp am Boden wächst, desto schwerer hätten es kleine Bäume.
Das Urteil ist letztinstanzlich
Seit Jahren existiere ein scharfer Abschussplan für die Rehe im Klasingschen Wald. Heißt: Jedes Tier, das dem Jäger vors Visier kommt, wird getötet. „Die sagen, sie wollen hier einen vielfältigen Wald und deshalb keine Mufflons. Den vielfältigen Wald machen sie sich mit ihrem Abschusswahn selbst kaputt“, sagt Baumann.
Während Baumann von den Klasings redet, spielt Kötter mit seinen großen Händen an einer Hummel herum, die in einer Blüte am Wegrand sitzt. Er nimmt sie in die Hand, die Hummel kugelt sich in den Handflächen des Computeringenieurs. „Die ist ja richtig besoffen vom Nektar“, sagt er lachend. „Man muss den Wald einfach nur in Ruhe lassen“, sagt Kötter. Er zitiert Peter Wohlleben, Deutschlands bekanntesten Förster, dessen Buch „Das geheime Leben der Bäume“ zum Weltbestseller wurde. Wohlleben setzt sich dafür ein, dass Wälder wieder mehr sich selbst überlassen werden. Keine künstliche Anpflanzung, keine scharfe Bejagung und keine Kahlschläge.
„Wald ohne Wild geht nicht“, sagt Herbert Linnemann. Er ist Leiter der Abteilung Forsten und Chef des Tierparks in Bielefeld. Linnemann ist im Streit um die Mufflons so etwas wie das ruhige Gewissen. Er verstehe beide Seiten, sagt er. Aber er verstehe nicht, warum zwölf Tiere die Vielfalt eines Waldes bedrohen sollen.
Dass die Mufflons Bäume beschädigen, sei unumstritten, sagt Linnemann. Das hätten die seit ihrer Ansiedlung gemacht. An alten Eschen sieht man im Wald noch die Wunden. „Die sind aber so verwachsen, dass man daran sieht, dass die Mufflon-Bisse keinen Abschuss rechtfertigen“, so der Stadtförster. Er sagt aber auch, dass man Wildbestand „kontrollieren“ müsse.
Kontrollieren heißt: Immer so viele Tiere abschießen, dass sich die Population nicht vergrößert. „Sonst kann Wild tatsächlich gefährlich für die Pflanzenvielfalt sein“, sagt Linnemann. „Kontrolliert“ werden die Mufflons seit ihrer Ansiedlung. Jedes Jahr werden ein paar Tiere abgeschossen, sodass die Herde auf ein Dutzend Tiere beschränkt bleibt.
Ab August dürften alle Mufflons geschossen werden. Das hat das Bundesverwaltungsgericht bestätigt. „Aber wie viele Mufflons letztendlich abgeschossen werden, bestimmt die Bielefelder Jagdbehörde“, sagt Linnemann. Der Oberbürgermeister hat als oberster Dienstherr der Jagdbehörde das letzte Wort. Und der Oberbürgermeister von Bielefeld trägt gerne Mufflon-Hoodies.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“