Wie es ist, Spargel zu ernten: Das große Bücken
Wer erntet dieses Jahr eigentlich den Spargel? Unsere Autorin hat selbst Hand angelegt und mitgestochen.
E in Ingenieur, ein Ernährungscoach, ein Gerüstbauer, eine Studentin, ein Bühnenbildner und ein Taxifahrer sitzen in der Sonne und reden über Corona. Wie lange es wohl noch dauert, bis alles wieder normal sein wird, fragen sie sich. Aber hier an der frischen Luft sei es ja gerade ganz schön, sind sie sich einig. „Ein Gutes hat die Sache: Wir sitzen jetzt hier, haben uns kennengelernt und gemeinsam Spargel gestochen“, sagt der Ernährungscoach in die Sonne blinzelnd. Sein Grinsen bringt perlweiße Zähne zum Vorschein.
Unter normalen Umständen hätten wir uns nicht getroffen. „Na doch, in einer Kneipe!“, sagt der sonst eher ruhige Bühnenbildner freudig. „Ich glaube nicht, dass wir alle in dieselbe Kneipe gehen würden“, entgegnet der Gerüstbauer und rückt sein Basecap weiter ins Gesicht.
Der erste Stichtag beginnt auf dem sandigen Besucher:innenparkplatz des Spargelhofs im brandenburgischen Kremmen. Kleinwagen aus Berlin und dem Umland finden sich ein, ihre Fahrer:innen stehen in Wander- und Laufschuhen vereinzelt um die Wagen. Die meisten tragen Sonnenhüte und tauschen sich über leichtes Nicken und zurückhaltendes Lächeln aus. Eine Gruppe junger Menschen begrüßt sich per Fuß-Shake. Der Tag ist noch jung und kühl, doch die Luft ist dicht von Frühlingspollen und Spannung.
Es hätte die deutsche Landwirtschaft schlimmer treffen können. Ursprünglich hieß es, sie müsse wegen der Einreisebeschränkungen während der Coronapandemie vorerst komplett auf Erntehilfe aus Osteuropa verzichten. Inzwischen sind nun doch 23.500 Saisonarbeitskräfte aus dem Ausland gemeldet, um die Arbeit zu machen, die in Deutschland niemand machen will. Wer dieser Tage auf die Spargelfelder schaut, begreift, dass diese Menschen nicht bei der Ernte helfen. Sie vollziehen sie. Bestenfalls zum Mindestlohn und nicht mehr als neun Stunden pro Tag. Im schlimmsten Fall, das zeigt die Geschichte eines an Covid-19 verstorbenen Erntehelfers in Baden-Württemberg, geben sie für den Spargel ihr Leben. In dieser Saison werden Menschen aus Deutschland zum ergänzenden Provisorium.
Fachkräftemangel Wegen der Coronakrise war die Einreise von Saisonarbeitskräften nach Deutschland zunächst untersagt, dann aber doch unter bestimmten Bedingungen erlaubt worden: Sie dürfen unter anderem nur per Flugzeug nach Deutschland reisen. Auf den Höfen dürfen sie zwar arbeiten, stehen aber doch unter Quarantäne. Im April und Mai wird jeweils für 40.000 Erntehelfer die Einreise ermöglicht.
Teure Ware Spargel ist auch in diesem Jahr sehr nachgefragt. Allerdings ist auch das Angebot geringer, sodass im Moment der Kilopreis sehr hoch ist. Momentan liegt der Durchschnittspreis für deutschen Spargel bei 11–12 Euro pro Kilo. Spargelbauern gehen davon aus, dass der Preis nur mit einer ausreichenden Zahl an Erntehelfern aus Rumänien oder Polen auf etwa 8 Euro sinken könnte. (dpa)
Für alle absolutes Neuland
Wie wir alle war auch Ben Knüppel noch nie auf einem Spargelfeld, doch vielleicht weiß er eher, auf welch körperliche Belastung er sich einlässt. Er ist Gerüstbauer. Jedes Jahr im Sommer schleppt, hievt und schraubt er Metallteile in der Hitze, um Häuser zu renovieren, in denen er sich zu wohnen nicht leisten kann. Jedes Jahr im Winter wird ihm gekündigt. „Dann arbeite ich nicht oder hacke Holz für die Reichen“, sagt er. Einmal habe er auch während des Weihnachtsgeschäfts für Amazon gearbeitet. Was in der Soziologie als Paradebeispiel für schlechte Arbeit geführt wird, nennt er „gar nicht so übel“, schließlich gäbe es kostenlose Weiterbildungen und Weihnachtsfeiern. Da Knüppel weder Auto noch Fahrrad dabeihat, nimmt der junge Bauer Yule Zebe ihn Social Distancing zum Trotz in seinem weißen Geländewagen mit auf das Feld.
Auf dem Feld angekommen, wirft Jungbauer Zebe zwei Lagen Folie von einem eckigen Sandhügel. An einer Stelle des Hügels ragt eine kleine Spargelspitze aus dem Damm. Zebe kellt alles kopfabwärts mit wenigen Handbewegungen frei. Nun liegt die Spargelpflanze seitlings frei, wie auf einer Abbildung im Biologiebuch. Der Bauer wird zum Lehrer. „Ihr müsst wissen, was unter der Erde passiert“, sagt er. Oben ist die Spitze, sie ist sehr empfindlich. Darunter die Stange, sie wächst sieben Zentimeter pro Tag. An ihrem Ende die Mutter. Verletzt niemals die Mutter, sonst ist die Pflanze kaputt. Stecht nicht zu kurz, sonst gibt es einen Qualitätsverlust. Brecht nicht die Spitze ab, sonst gibt es einen Qualitätsverlust. Klopft die Erde danach gut fest, sonst hat der nächste Spargel einen Qualitätsverlust. Yule Zebe referiert eher hingebungsvoll als mahnend. „Man kann sehr viel falsch machen beim Spargelstechen“, resümiert er.
Der vorgeschriebene Sicherheitsabstand ist schon beim Verteilen der gelben Arbeitshandschuhe, Stechmesser und Kellen passé. Der soziale Abstand schwindet in Kleingruppen auf dem Feld.
Ben Knüppel probiert sich mit Ludwig Straube, dem Ingenieur, im Spargelstechen. Die Tattoos auf Knüppels Unterarmen und Händen erzählen Geschichten – aus der linken Szene, der Bikerszene und dem Knast. Straube erzählt, dass er in seiner Freizeit gern segelt. Und ich bin in ihrer Mitte, um später eine Geschichte zu erzählen.
Arbeiter meets Akademikerin
Knüppel ist ein Arbeiter, seine Eltern: eine Erzieherin und ein Polizist, gegen den er immer zu rebellieren versuchte. Straube ist ein Ingenieur auf Jobsuche, seine Eltern sind Musiker:innen, die ihn nach Ludwig von Beethoven benannt haben. Ich bin eine Reporterin mit Uniabschluss und Eltern aus der Krankenpflege. Nun sind wir alle hier auf dem Feld. Wir sind Nummern, deren Köpfe sich einen halben Meter über der Erde auf Augenhöhe begegnen.
„Ich hab Lust, mal richtig auf Tempo zu machen hier!“, sagt Straube offen und enthusiastisch. „Das ist lächerlich zu dem, wat ick sonst mache“, sagt Knüppel ohne Abfälligkeit. Wir teilen uns eine grüne Erntekiste und stapeln darin unsere ersten Stangen.
Am Mittag hat sich der Frühling auf 20 Grad aufgewärmt und röstet uns zwischen schwarzen Wärmefolien. Die Saison wurde heute eröffnet. In den nächsten Wochen wird es noch heißer werden. Während Ludwig Straube und ich nicht einmal daran gedacht haben, Wasser mit auf das Feld zu nehmen, zieht Knüppel eine Thermoskanne mit Kaffee aus seinem Rucksack. Er bietet mir eine von zwei Tassen an. „Die habe ich desinfiziert“, sagt er.
Knüppel ist einer dieser Menschen, deren Alter sich schwer schätzen lässt. Er hat jungenhafte Züge und ist doch vom Leben gezeichnet. Wenn man ihn fragt, erzählt er vom Steineschmeißen, was ihn ins Gefängnis brachte, von Luftschüssen, die ihn vor Bedrohungen nach dem Aussteigen aus der Bikerszene schützten. „Man darf niemals Schwäche zeigen“, sagt er. Rechtsradikale Hiphop-Zecke haben wir Menschen wie ihn, die sich zwischen den Szenen bewegen, in der brandenburgischen Stadt, aus der ich komme, früher genannt. In Brandenburg gibt es weite Felder und kleine Orte. Es gibt wenig Menschen, die anders sind, und sie verschwimmen manchmal zu einer Suppe. In Brandenburg ist die Welt begrenzt. Wer rausgeht, um mehr zu sehen, kommt selten zurück. Knüppel hätte einer dieser Kumpels sein können, von denen ich mich distanziert habe, aus deren Alltag ich herausgewachsen bin.
Ist dieser Tage ein Riss in der sozialen Distanz, bricht die Mauer schnell ein. Es ist, als mache uns die Zurückgezogenheit offener.
„Gehörst du heute eigentlich auch noch einer Szene an?“, frage ich Knüppel. „Nee, aber ich steh schon auf der anderen Seite, sag ich mal“, sagt er mal. Er erzählt Dinge, die angeblich im Parteiprogramm der Grünen stünden, und von zahlreichen Überfällen durch Flüchtlinge. Es hätte ebenso jede andere Gruppe sein können, die er nicht als zugehörig ansieht. Scheiße, jetzt bin ich mit einem Nazi auf dem Spargelfeld, denke ich. „Na, da schau mal lieber direkt im Parteiprogramm der Grünen nach und nicht bei denen, die das behaupten“, sage ich. Und da wir nun hier sind und ich mich zwischen Ludwig Straube, zwei Spargeldämmen und einem Handkarren auf dem Feldweg gefangen sehe, frage ich: „Aber wie sieht es denn bei dir auf dem Bau aus?“
Ein Freund erzählte mir kürzlich, wie viele Faschos es im Gerüstbau gibt. So viele, dass er den Job nicht mehr machen möchte. In Berlin sieht es inzwischen etwas anders aus. Wahrscheinlich ist das Bild auf Knüppels Baustelle in mancher Hinsicht diverser als das in meiner Redaktion und vielleicht auch Straubes späteren Ingenieurbüros. Sein letztes Vorstellungsgespräch war bei einem Jachten-Hersteller.
Politik zwischen dem Stechen
Knüppel sagt, er sei für eine geregelte Einreise. Ich will weg. „Es ist so“, setzt er an. Ich spüre die Anstrengung, dabei ernsthaft zuzuhören. „Früher habe ich 22 Euro die Stunde verdient. Heute holt die Firma Leute aus Rumänien, packt sie zu zehnt in eine Einraumwohnung und zahlt ihnen vier Euro fuffzich. Das macht den Lohn für alle kaputt.“ Was soll ich sagen? Das ist beschissen, aber wer am wenigsten dafür kann, sind die Rumänen. Das sage ich Knüppel und frage: „Gibt es denn keine Möglichkeit, sich gemeinsam zu organisieren?“ Der sagt: „Ich hab es versucht, bin zum Chef gegangen. Das ist ja für alle scheiße. Der meinte, ich kann froh sein, dass ich noch hier bin. Für meinen Preis kriegt er zwei von denen, hat er gesagt.“ Ich sage: „Die Antwort darauf ist doch aber nicht, das Symptom zu bekämpfen, sondern das System anzugreifen. Dafür braucht es vernünftige linke Politik.“ Er fragt: „Gibt es die?“
Der Vorarbeiter unterbricht uns: „So, die Reihe noch, dann ist koniec.“ Das polnische Wort für Schluss.
Auf den letzten Metern tauschen sich die Leute auf dem Feld über ihre Motivation aus, die bei der Bewerbung zum Spargelstechen nicht gefragt waren. Der Ernährungscoach habe eine Wette am Laufen. Eine Frau, die derzeit auf Kurzarbeit gestellt ist, sagt: „Ich wollte wissen, wie das geht. Ich esse Spargel so gern!“ Von finanzieller Not spricht niemand direkt. Knüppel sagt: „Ja, aber jetzt rechne mal nach, was da bei den Stechern bleibt.“ Er überschlägt: Bei ein bis zwei Kisten pro Stunde bleiben pro Kilo 30 Cent bei der Ernte.
Zum Schichtende rechnen einige. Eine Gruppe junger Studierender aus Birkenwerder zum Beispiel, dass in der Saison 400 Euro Fahrtkosten anfallen werden. Würde es sich finanziell lohnen, ein Zimmer zu mieten anstatt jeden Tag zu fahren? Während die rumänischen und polnischen Arbeiter:innen, von denen wir bisher nur gehört und nichts gesehen haben, in Baracken auf dem Betriebsgelände wohnen, gibt es für die Deutschen aus Sicherheitsgründen keine Unterkunft.
Nicht alle nehmen ungelernte Helfer:innen
Manche Bauern verzichten auf ungelernte Erntehelfer:innen aus Deutschland. Die bekommen zwar wie die Saisonarbeiter:innen aus Rumänien und Polen den Mindestlohn, doch sie sind nicht nur langsamer, sondern gar ein Risiko für die Erntequalität. Der Spargelhof Kremmen geht das Risiko dennoch ein. Es ist kein Akt der Solidarität, weder von dem Hof noch von den Helfenden. Die Coronakrise stellt vieles infrage. Die Antworten sind pragmatisch wie provisorisch, aber nicht revolutionär. Und doch kann aus ihnen etwas entstehen, das mit gewohnten Mechanismen bricht.
Der zweite Probetag beginnt kalt und unruhig. Angeführt von Bauer Yuli Zebe, wechseln wir in Autokolonne über eine schmale Landstraße auf ein vier Kilometer entferntes Feld. Dabei passiert die Kolonne einen Schulbus, neben dem Arbeiter:innen stehen. Ihre Blicke folgen uns aus den regungslosen Köpfen.
Ben Knüppel kommt zu spät. Nach 36 Kilometern Arbeitsweg mit dem Fahrrad hatte er kurz vor sieben, kurz vorm Ziel, einen Platten. Als er dennoch pünktlich am verabredeten Feld ankam, waren schon alle weg. Am richtigen Feld angekommen, schweigen oder murren alle verschlafen, Knüppel berichtet aufgekratzt: „Ick hab mich jefragt, ob ick jetzt völlig verrückt bin. Der Kleene, Ludwig, ist doch an mir vorbeijefahren.“ Er wollte eine Zigarette rauchen, habe aber die Blättchen vergessen. Kaffee hat er auch nicht dabei, „es war arschkalt, der wäre doch niemals warm hier anjekommen!“ Ein Mann, der sich von Rockern nicht kleinkriegen lässt, verliert die Ruhe bei der eigenen Unpünktlichkeit.
Knüppels Telefon unterbricht seinen Redefluss. Er streift einen der gelben Handschuhe ab und geht ran. „Nee, alles gut, ick hab das Feld jefunden“, sagt er ins Telefon und dann weiter zu mir: „Ick hab dann die Polen auf dem Feld jefragt, ob jemand ’ne Ahnung hat, wo ick hinmuss, und die haben mir fünf Telefonnummern von irgendwelchen andern Polen jegeben, die mich jetzt anrufen.“
Zweiergrüppchen im Wind
Alle greifen sich einen Handwagen mit einer grünen Kiste. Die Ambitionierten greifen sich gleich zwei, denn heute muss geleistet werden. Jede:r hat nun eine eigene Personalnummer für die eigenen Kisten. Jede:r hat einen eigenen Damm, zwei Leute teilen sich einen Weg. Der Ingenieur Ludwig Staub und ich laufen nebeneinander, werden dann aber aufgeteilt. So lande ich mit Ben Knüppel auf einem Weg zwischen zwei gegenüberliegenden Dämmen.
Der Wind wirbelt mir Sand ins Gesicht. Knüppel greift in seinen Rucksack und gibt mir ein rotes Bandanatuch, wie auch er es heute trägt. Ich binde es um den Kopf. Die Arbeit ist hart, das haben alle gesagt. Doch obwohl meine Muskeln trainiert sind, weiß ich nicht, wie ich das acht, neun oder auch nur drei Stunden aushalten soll. 3.000- bis 4.000-mal bücke man sich hier pro Tag, hieß es zur Einarbeitung. Knüppel sieht sich zu den anderen Reihen um und sagt: „Guck mal, wie weit vorne die alle schon sind.“ „Ja, aber manche haben auch mehr und andere weniger Spargel auf dem Damm“, sage ich und schaue zur Nachbarin, aus deren Damm unzählige weiße Köpfe aufleuchten, wie Pilze auf einer Waldlichtung. Sie muss sich weniger bewegen und hat mehr Spargel, was gut ist, aber sie ist am weitesten hinten. Das ist nicht gut für den Kopf, beim Kopf-an-Kopf-Rennen.
Der Wind trägt Flüche quer über das Feld. Wir sind alle langsam. Der Spargel ist schon beim Stechen holzig und wächst schief. Nach dem, was wir bisher wissen, hat vorher jemand nicht akkurat genug gestochen. Ich denke an Immanuel Kant. Knüppel sagt: „Das ist doch scheiße. Man sieht genau, hier hat jemand nicht ordentlich gearbeitet“, und dann: „Das ist bestimmt ein Feld, auf dem eine andere Übungsgruppe war.“
Ohne Team kein Bonus
Beim Spargelstechen ist jede:r auf sich gestellt. Und doch ist es unsichtbare Teamarbeit, denn die Leistung ist nicht nur von der eigenen Geschwindigkeit abhängig. Man sieht den Stängeln an, ob sich die Person zuvor die Zeit genommen hat oder sich dem Zeitdruck hingab. Eine schnelle Ernte bringt Bonus, führt aber dazu, dass die neuen Stangen krumm nachwachsen. Es könnte einem egal sein. Doch wenn es allen egal wäre, würde nur noch krummer Spargel wachsen und niemand bekäme einen Bonus.
„In 20 Minuten müsste die Kiste voll sein“, sagt Knüppel. Wir gucken in unsere Kisten, die – großzügig gemessen – zu einem Viertel gefüllt sind.
Knüppel fragt mich, wo ich in Berlin wohne. „Ick kann mir das nicht mehr leisten“, schiebt er hinterher. Ich erzähle ihm vom Mieterschutz, der mir hilft, eine Rüge auszusprechen und zukünftig vielleicht weniger zu zahlen. „Echt, so ein Gesetz gibt es? Das ist ja stark“, sagt Knüppel. „Ja, und es ist keins, was die AfD machen würde“, entgegne ich. Das ist eine von vielen Spitzen, die Knüppel nicht an sich abprallen lässt. Es ist eins von vielen Gesprächen über Lebensrealität und Realpolitik.
Von Profis lernen
Wenn eine:r von uns schneller im Stechen wäre, könnten wir uns nicht unterhalten. Wenn eine:r mehr Spargel pro Meter hätte, auch nicht. In einem Abschnitt habe ich mehr Spargel. Als ich von meiner Arbeit aufblicke, sind viele der vor mit liegenden Spargelköpfe freigeschaufelt. Als ich mal vorn liege, mache ich selbiges auf Knüppels Damm. Ich nehme ihm die gestochenen Stangen ab, um sie in der Kiste zu verstauen. Wer vorn ist, hebt die Folien beider Dämme auf. Wer hinten ist, deckt beide wieder zu. Ich vergesse manchmal, welche Box mir gehört, denn wir haben uns unausgesprochen auf ein Miteinander geeinigt.
In der Mittagspause sitzt Ludwig Straube im offenen Kofferraum seines Autos und isst frische Salamibrötchen, von der Dorfbäckerei. „Die hat sie mir gerade geschmiert“, sagt er freudig. Straube freut sich gern, wirkt aber auch erschöpft. Er nimmt einen Bissen von einem Apfelkuchen, der aussieht, als habe ihn seine Oma gebacken. „Jetzt bin ich zufrieden: Gut was geschafft, ein bisschen Rückenschmerzen“, sagt er. „Echt? Ich nicht“, sagt Knüppel. „Na ja, du bist ja auch nicht so verweichlicht wie wir. Sechs Jahre Uni ist nicht wie Gerüstbau.“
Der zweite Teil des Arbeitstags wird hart. Nicht nur, weil sich die Sonne sich durch die graue Decke drückt. Auch, weil Ben Knüppel auf dem Fahrrad nach Fehrbellin zu seiner Tochter sitzt. Zum Abschied hat er mir seine Telefonnummer gegeben, „falls du nicht wiederkommst“. Allein ist die Arbeit eine andere.
Fünf Uhr am Nachmittag ist Schichtende für die deutschen Erntehelfer:innen. Die Sonne tönt die staubige Luft in ein warmes Orange und legt sich auf die Folien, die über den Erdhügeln wehen. Nach dem ersten vollen Arbeitstag stehen alle am Feldrand in einer Traube. Distanz wird nur noch gehalten, wenn der Schichtleiter daran erinnert. Sie resümieren ihren ersten vollen Arbeitstag, sind zufrieden. Die Schnelleren haben gerade einmal eine halbe Kiste pro Stunde gefüllt.
„Guck dir das an!“, ruft jemand aus der Traube. Die ganze Gruppe richtet ihre Blicke auf einen jungen Mann mit grünem Basecap. Er sticht in die walnussbraune Erde, jongliert mit weißen Stangen, wirft Erde in die Luft und klopft sie mit einer Kelle fest, bevor die Gravitationskraft sie anzieht. Die grünen Erntekisten hinter sich befüllt er händeweise in Sekundenschnelle. Seine Hände bewegen sich so schnell, dass es den Eindruck erweckt, er habe mindestens zwei an jedem Arm. Ludwig Straube schüttelt ungläubig den Kopf: „Als Bauer würde ich auch lieber ihn nehmen als mich.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?
Argentiniens Präsident Javier Milei
Schnell zum Italiener gemacht
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?