Wie Mikrochips nach Russland gelangen: Waschmaschinen auf Abwegen
Braucht Kasachstan tatsächlich so viele Waschmaschinen? Die taz hat Handelsströme in Europa ausgewertet. Und dabei Lücken in den Sanktionen entdeckt.
D ie Europastraße 117 ist nicht nur eine Autobahn, sie ist eine Touristenattraktion. Auf 1.100 Kilometern führt sie von Armenien über Georgien nach Russland. Mitten durch den Kaukasus, vorbei an schneebedeckten Gipfeln und geschichtsträchtigen Klöstern.
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat die E117 aber auch als Handelsstraße an Bedeutung gewonnen. Sie ist die wichtigste Landverbindung zwischen Russland und Georgien. Wer aus der Türkei, Armenien, Aserbaidschan oder dem Nahen Osten Waren nach Russland liefert, fährt wahrscheinlich hier durch – mit legalen, aber auch mit illegalen Transporten.
Am Grenzübergang von Georgien nach Russland reihen sich seit Monaten die Lkws aneinander. So auch an diesem Tag Anfang Juli. Einen Kilometer ist die Schlange lang. Viele Fahrer haben ihre Motoren ausgeschaltet, einige ihre Lastwagen verlassen. Um einen Tisch am Straßenrand sitzen georgische Fahrer mit einem Sommerpicknick. Sie haben Gurken, Tomaten, Brot und Käse vor sich. Essen und Warten. Seit Beginn des Kriegs sei das so, erzählen sie. Manchmal würden sie Stunden, manchmal sogar Tage lang ausharren, bis sie über die Grenze könnten.
Die EU hat auf den russischen Einmarsch in die Ukraine mit umfassenden Sanktionen reagiert. Sie hat es europäischen Firmen weitgehend verboten, Geschäfte mit russischen Unternehmen zu machen. Sie hat Listen angefertigt, welche Waren nicht mehr aus der EU nach Russland exportiert werden dürfen. Sie hat es sehr schwer gemacht, Geld aus der EU nach Russland zu schicken. Der Handel zwischen der EU und Russland ist so fast zum Erliegen gekommen. Aber eben nur fast.
Waren aus der EU gelangen über Umwege trotzdem nach Russland. Zwischenhändler helfen dabei, Logistikunternehmen erschließen neue Routen. Sie führen über Länder außerhalb der EU, auch über Georgien oder Kasachstan. An deren Grenzen ist es seitdem voller geworden. Und die deutschen Behörden haben Mühe, die Sanktionsverstöße zu verfolgen.
Es ist nicht irgendeine Ware, die in Russland landet. Es sind Güter, die Russland für seinen Krieg gut gebrauchen kann, zum Beispiel weil sie Mikrochips enthalten. Dazu zählen auch Waschmaschinen, etwa von Miele aus Deutschland.
Neue Wege
Die taz hat ausgewertet, wie sich die Handelsströme nach Russland seit Kriegsbeginn verändert haben. Es zeigt sich deutlich: Die Exporte von Europa nach Russland sind drastisch zurückgegangen. Dafür profitieren andere: China exportiert nun fast 13 Prozent mehr nach Russland als vor dem Krieg. Die Türkei verdoppelte die Exporte zwischen 2020 und 2022.
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Besonders stark stiegen aber die Exporte von und in die russischen Nachbarstaaten Georgien und Kasachstan. Von Deutschland nach Kasachstan und von Kasachstan nach Russland wird wesentlich mehr exportiert. So hat Kasachstan im Jahr 2022 Waren im Wert von etwa 8,8 Milliarden Dollar nach Russland ausgeführt – 25 Prozent mehr als im Jahr 2021. Für Georgien ist der Anstieg nicht ganz so steil.
Am stärksten zeigt sich der Exportboom bei Autos und Maschinen. Dazu gehören auch Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen. Die nach Russland zu exportieren ist nicht grundsätzlich verboten. Aber der Anstieg der Waschmaschinen-Geschäfte macht stutzig.
Laut unserer Datenauswertung werden aus Europa nach Russland nur noch halb so viele Waschmaschinen geliefert wie vor dem Krieg. Dafür hat sich der Waschmaschinen-Export von Europa nach Kasachstan im selben Zeitraum mehr als verfünffacht.
Wie viel mehr Waschmaschinen von Kasachstan nach Russland exportiert wurden, lässt sich nicht genau sagen. Die UN-Daten, auf denen unsere Auswertung beruht, sind für Kasachstans Waschmaschinen-Ausfuhren nicht vollständig. Aber für die große Gruppe „Maschinen und Anlagen“, zu denen auch die Waschmaschinen zählen, gibt es Zahlen: Während Kasachstan im Jahr 2021 Maschinen im Wert von 128 Millionen Dollar nach Russland exportierte, waren es im Jahr 2022 Maschinen im Wert von 837 Millionen Dollar. Die deutschen Maschinen-Exporte nach Russland gingen im gleichen Zeitraum von 8 auf 3 Milliarden Dollar zurück. Zu den gefragten Geräten zählen in Russland auch Kühlschränke, Geschirrspülmaschinen und elektrische Milchpumpen – Geräte, in denen Chips verbaut sind.
Militärisch-industrieller Waschmaschinen-Komplex
Was ist da los? Waschen die Kasach:innen plötzlich mehr, weil ihre Bevölkerung wächst? Unwahrscheinlich, die Geburtenrate in Kasachstan ist gesunken. Der Verdacht liegt nah, dass Kasachstan die Waren nach Russland durchwinkt und Russland sie in ihre Kleinteile zerlegt. Kann das sein?
Für Russland seien alle sanktionierten Produkte und Technologien von Interesse, die dem militärisch-industriellen Komplex zugutekommen, sagt Hans-Jürgen Wittmann von German Trade & Invest. Das ist die Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Bundesrepublik, eine Art staatliche PR-Agentur für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Besonders interessiert sei Russland, sagt Wittmann, an Maschinen, Informationstechnik und Halbleitern.
Halbleiter sind Bestandteile von Computerchips. Sie sind zentral für moderne Elektronik – sowohl für Kühlschränke als auch für Drohnen, Panzer, Raketen und Nachtsichtgeräte. Russland stellt kaum eigene Chips her, es hat sie seit jeher aus Asien, Europa und den USA importiert. Doch sowohl die Europäische Union als auch die USA haben den Export von Halbleitern seit Kriegsbeginn streng reglementiert. Nun nehmen sie Umwege über Drittstaaten. Japanische Journalist:innen haben recherchiert, dass seit Kriegsbeginn 75 Prozent der US-amerikanischen Mikrochips, die in Russland gelandet sind, über Hongkong oder China ins Land kamen – wohl über kleine Chiphändler oder illegale Zwischenhändler.
Waschmaschinen-Kleinteile in russischen Panzern? Für Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, war dieser Verdacht ein Grund zur Freude. Wenn Russland mittlerweile Waschmaschinen ausschlachten müsse, liege die Industrie offenbar in Trümmern, sagte sie im vergangenen Herbst vor dem EU-Parlament. Allerdings zeigt das eben nicht nur die Schwäche der russischen Industrie, sondern auch die Schwäche der europäischen Sanktionen.
Die EU hat festgelegt, welche Produkte nicht mehr nach Russland geliefert werden dürfen. Dazu gehören die sogenannten Dual-Use-Güter, die zivil, aber auch zum Bau von Waffen genutzt werden können. Waschmaschinen fallen nicht grundsätzlich unter das Embargo. Nur die besonders teuren, luxuriösen Modelle dürfen tatsächlich nicht nach Russland exportiert werden. Andere Waschmaschinen-Typen hat die EU auf die Liste der „Kritischen Güter“ aufgenommen. Unternehmen und Drittländer sollen bei deren Export „besonders wachsam“ sein.
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Graumarkt für Güter aus Gütersloh
Im nordrhein-westfälischen Gütersloh laufen die Waschmaschinen der Firma Miele vom Band. Von hier werden sie in die ganze Welt geschickt. Fast in die ganze Welt. Miele liefert seit Kriegsbeginn im März 2022 keine Haushaltsgeräte mehr nach Russland. Trotzdem sind in Russland weiter Miele-Maschinen zu haben.
Unsere Recherchen zeigen: Von Russland aus bekommt man die Geräte leicht im Internet, zum Beispiel auf Webseiten wie mlshop.ru. Die Seite sieht aus, als käme sie direkt von Miele: professionelles Webdesign, Miele-Logo, Miele-Waschmaschinen im Angebot. Ein offizieller Miele-Shop sei das nicht, schreibt ein Unternehmenssprecher, als wir ihn danach fragen. Es sei der Shop eines Handelspartners, den Miele aber nicht mehr beliefere. Die Versorgung mit den Geräten könne nur über den „Graumarkt“ erfolgt sein.
Nach Kriegsbeginn hat Russland sogenannte Parallelimporte legalisiert. Darüber können Einzelhändler Produkte nach Russland importieren, ohne die Genehmigung des Herstellers einzuholen. Das russische Industrie- und Handelsministerium hat eine Liste von Waren festgelegt, die über Parallelimporte eingeführt werden dürfen. Auf dieser Liste steht neben Apple, Siemens und Volkswagen auch Miele. Deswegen könne das Unternehmen gegen diese Importe wenig tun, sagt der Miele-Sprecher der taz. Nur: Wie kommen die Waschmaschinen über die Grenze auf der Europastraße E117?
Hört man sich unter deutschen Logistikunternehmen um, erzählen einige, es sei ein offenes Geheimnis in der Branche, dass Güter nach Russland über Georgien und Kasachstan vertrieben werden. Öffentlich will das niemand sagen. Die Sanktionen und die politische Situation in Russland hätten den Transport in und durch das Land zwar erschwert. Aber die Transportwege verlagerten sich.
Nicht nachverfolgbar
Verhindern soll das eigentlich der deutsche Zoll. Wer kritische Güter wie etwa Dual-Use-Güter in Drittstaaten exportiert, muss das beim Zoll anmelden. Der prüft, ob die Ausfuhr zulässig ist. Dual-Use-Güter dürfen nur mit gesonderter Genehmigung des Bundesamts für Ausfuhrkontrolle ausgeführt werden. Die Zollabwicklung läuft digital, alle Informationen und Risikohinweise werden automatisch an die Zollstellen übermittelt und bei der Ausfuhr kontrolliert, sagt André Lenz, der Sprecher des Zolls am Telefon. Zusätzlich werde auch die Ware selbst risikoorientiert kontrolliert.
Wie groß das Problem der Sanktionsumgehung über Drittländer ist, lässt sich schwer festmachen. Belastbare Zahlen gibt es kaum, jede Staatsanwaltschaft erfasst für sich. Stichprobe bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main: Seit Kriegsbeginn wurden dort circa 200 Verfahren wegen Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz eingetragen, schreibt eine Sprecherin auf taz-Anfrage. Eine „nicht unerhebliche Anzahl“ davon habe Fälle betroffen, in denen Waren über Drittländer nach Russland geliefert werden sollten.
Das Problem ist: Eine Luxuswaschmaschine, die über Umwege nach Russland soll, lässt sich für den Zoll mitunter schwer finden. Wenn ein deutscher Hersteller angibt, die Waschmaschine in die Türkei zu liefern, dann ist das erst einmal legal. Wenn in der Türkei die Maschine umgeladen und über Zwischenhändler zum Beispiel auf der Straße E117 durch Georgien nach Russland gebracht wird, dann ist das illegal. Diesen komplexen Prozess der Lieferkette stichhaltig nachzuverfolgen, sei oft sehr aufwendig, sagt Lenz.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatte deswegen Anfang des Jahres die sogenannte Endverbleibsklausel ins Spiel gebracht. Es gibt sie schon, bei Waffenexporten. Ein Sturmgewehr etwa darf nicht in Unruhegebiete geliefert werden. Taucht es dort aber auf und der Hersteller hatte bei der Ausfuhr angegeben, die Waffe woanders hin zu verkaufen, kann der Hersteller belangt werden.
Heckler & Koch ist für solche Geschäfte zu einer Millionenstrafe verurteilt worden. Gegen Habecks Vorschlag gab es aus der Wirtschaft großen Widerstand: Das sei nicht hilfreich, zu kompliziert, zu bürokratisch, zu schwer zu kontrollieren.
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Es war einer der Streitpunkte beim neuen Sanktionspaket, das die Europäische Union Ende Juni verabschiedet hat. Es ist das 11. Paket. Die Endverbleibsklausel hat es nicht hineingeschafft. Dafür will die EU nun diplomatisch und technisch gegen Sanktionsumgehung ankämpfen. So will sie Drittstaaten dabei unterstützen, die Einhaltung von Sanktionen zu überwachen. Sollte trotzdem bekannt werden, dass in Drittstaaten geholfen wird, die Sanktionen zu umgehen, kann die EU die beteiligten Personen oder Unternehmen sanktionieren.
Dafür ist die Europäische Union aber auf die Zusammenarbeit mit den Ländern angewiesen. Nur, wie sehr kann sie auf deren Kooperation setzen? Beispiel Kasachstan: Das Land ist mit Russland in einer Zollunion. Die Grenze zwischen den beiden Ländern ist 7.600 Kilometer lang. Zwar hat Kasachstan gerade ein neues Onlinetool zur Überwachung der Grenze eingeführt. Dass das aber flächendeckend arbeitet, bezweifeln nicht nur Transportunternehmer.
Aber die EU will mehr als diplomatischen Druck. Als eines der stärksten Instrumente des 11. Sanktionspakets wertet Hans-Jürgen Wittmann von German Trade & Invest das Transitverbot.
Seit Beginn des Kriegs gehen auffällig viele Waren auf dem Weg durch Russland „verloren“, die nach China oder in andere Länder geliefert werden sollen. Russische Behörden beschlagnahmen die Fracht, die für militärisches Gerät gebraucht wird, berichten Transportunternehmen der taz. Mit dem neuen Sanktionspaket hat die EU nun verboten, dass solche Güter durch Russland transportiert werden.
Logistikunternehmen bestätigen, dass es seit Ende Juni deutlich komplizierter geworden ist, eine Transportgenehmigung durch Russland zu erhalten. Dass die Wege über Drittländer mit dem 11. Sanktionspaket nun aber endgültig blockiert werden, daran glauben die befragten Unternehmen nicht. In einer globalisierten Welt fänden Waren weiter ihren Weg.
Für Alexander Lurz, Abrüstungsexperte bei Greenpeace, ist daher klar: Sanktionsregime könnten nie hundertprozentig dicht sein. Es brauche auch den Willen von Unternehmen. „Unternehmen müssen auf Geschäfte verzichten, wenn sich auch nur ein entferntes Risiko abzeichnet, dass eigene Schlüsseltechnik auf einem Umweg in der russischen Kriegsmaschinerie landet.“ Um dies zu verhindern, sollten deutsche Unternehmen ihre Abnehmer im Blick behalten. Auffällige Kunden müssten gesperrt werden. Miele gibt an, das bereits zu tun. Und trotzdem bleiben die Produkte weiter auf dem russischen Markt erhältlich.
Auf der Europastraße E 117, an der georgisch-russischen Grenze, schieben sich die Lkw nur langsam voran. Aber die Stimmung ist gut: Viele Fahrer stehen am Straßenrand, in Flipflops und kurzer Hose. Dass Ende Juni ein neues Sanktionspaket der EU in Kraft getreten ist, davon will hier niemand etwas gehört haben.
In einem Lebensmittelladen nahe der Grenze steht Maia, Anfang 40, groß, mit kurzen schwarzen Haaren. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen. An der Kasse warten ein paar Lkw-Fahrer. Sie kaufen Cola und Zigaretten. Seit fünf Jahren arbeitet Maia in diesem Geschäft, dem „Dariali Market“. Dariali, wie die Schlucht unweit von hier. Die wartenden Fahrer aus der Lkw-Schlange sichern ihr das Überleben.
„Der Verkehr hat stark zugenommen, seit der Krieg begonnen hat“, sagt sie. 24 Stunden, 7 Tage die Woche sei ihr Laden nun geöffnet. Sie habe viel zu tun.
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