Armut und Einsamkeit: Gefährlich für die Demokratie
Armut und Einsamkeit bedingen einander: Wer kein Geld hat für Kaffee und Kino, verliert Freunde. Nicht wenige sind anfällig für rechte Narrative.
N ennen wir ihn Friedrich. Friedrich ist 30 Jahre alt, hat Abitur, aber keine Ausbildung und lebt von Bürgergeld, das demnächst Grundsicherung heißt. Warum er keine Lehre oder ein Studium beginnt oder sich einen Job sucht, weiß er offensichtlich selbst nicht einmal. Nach außen hin hat er sein Leben im Griff, er hält alle Termine beim Jobcenter ein und dürfte daher von den Sanktionsplänen der Bundesregierung bei der Grundsicherung nicht betroffen sein. Friedrich hungert nicht, er hat ausreichend Kleidung, einen Computer, ein Handy. Das Zimmer, das er bewohnt, ist bezahlt. Trotzdem ist Friedrichs Leben prekär, denn es ist ein Leben in Einsamkeit.
Friedrichs soziale Kontakte sind überschaubar: Mutter, Vater, Bruder. Nahezu alle seine Freunde hat er in den vergangenen Jahren verloren. Kein Wunder: Er konnte weder mit ihnen verreisen noch mit ihnen ins Kino gehen, nicht einmal ein gemeinsamer Kneipenbesuch war drin. Irgendwann meldete sich niemand mehr bei ihm, weil alle wussten, dass er Treffen absagt. Seit Jahren verbringt Friedrich seine Tage, Abende, Wochenenden allein mit sich – und mit Computerspielen, Zocken, virtuellen Begegnungen.
Bei Friedrich scheint die Sache auf den ersten Blick klar: Er ist einsam, weil er arm ist. Andere würden vielleicht sagen: Er ist einsam, weil er sich durch Nichtstun selbst ausgrenzt. Es ist eine Frage der Betrachtung und der Empathie. Aber eines ist wissenschaftlich bewiesen: Armut und Einsamkeit bedingen einander. Jahrzehntelange Analysen, die sich aus den Daten des Sozio-Oekonomischen Panels speisen, bestätigen eine simple Annahme: Menschen, die von wenig Geld leben, fühlen sich einsamer als jene, die mehr Geld haben. Sie sind zudem häufiger sozial isoliert.
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Martin Gibson-Kunze vom Kompetenznetz Einsamkeit beim Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main beschreibt den Zusammenhang von Armut und Einsamkeit als „tragischen Teufelskreis“: Wer sich den Kaffee im Café und den Theaterbesuch nicht leisten kann, gerät schneller in eine soziale Isolation, verliert Freunde und Ansprechpartner:innen. Das sei unabhängig vom Alter der Leidtragenden, es betreffe sogar Kinder. Nämlich dann, wenn deren Eltern beispielsweise keinen Kindergeburtstag ausrichten könnten. Betroffen seien aber auch Senior:innen – infolge von Altersarmut.
Armut und Einsamkeit bedingen einander auch in umgekehrter Weise: Wer allein lebt, kann schneller verarmen als Menschen, die mit anderen Menschen zusammenleben. Diesen Schluss zieht das Statistische Bundesamt aus den Zahlen, die die Behörde in diesem Sommer veröffentlichte: Jede und jeder Fünfte, 17 Millionen Menschen leben allein. 2004 waren es laut Mikrozensus noch 14 Millionen Menschen.
Sozialkürzungen sind demokratiegefährdend
Und es dürften in kürzester Zeit noch mehr werden – höhere Lebenshaltungskosten, steigende Arbeitslosigkeit, eine sich verschärfende Wohnungskrise mit schwindelerregenden Mieten seien als die wichtigsten Ursachen genannt. Nun wird die Bundesregierung nicht müde zu betonen, wie sehr sie das Land nach vorn bringen und die Demokratie schützen will. Aber sie tut das Gegenteil: Sie kürzt das Programm „Demokratie leben!“, nimmt es mit der sogenannten Brandmauer zur AfD nicht so richtig ernst und verschärft ein Leben im Bürgergeldbezug. Dabei übersieht die schwarz-rote Koalition offensichtlich, wie gefährlich Sozialkürzungen und ebenjene genannten Beschlüsse für die Demokratie in Deutschland sind.
Insbesondere die Vernachlässigung jener Menschen, die sich aufgrund von wenig Geld abgehängt fühlen, kann die Demokratie auf schleichende, unsichtbare Weise gefährden: Wer arm und infolgedessen einsam und isoliert ist, entfremdet sich nach und nach von der Gesellschaft, hat weniger Vertrauen in Politik, Institutionen, Zivilgesellschaft – und ist dadurch anfälliger für Verschwörungsideologien, populistische Hetze, rechte bis rechtsextreme Narrative. Das haben Studien mittlerweile vielfach nachgewiesen.
Was nicht heißen soll, dass alle Menschen, die mit wenig Geld leben (müssen), extreme Parolen brüllen und den Rechtsextremen zum Opfer fallen. Aber wer sich von anderen Menschen zurückzieht, nicht mehr mit ihnen redet oder sogar diskutiert und dabei die eigenen politischen Einstellungen abgleicht, sondern vor allem im Internet unterwegs ist, wird dadurch zum eigenen Sendungsraum – und ist so den Stimmen ausgesetzt, denen er oder sie im Netz folgt. Vor allem rechtspopulistische Netzwerke wissen das zu nutzen und bieten jenen, die dafür empfänglich sind, eine Ersatzfamilie, die die Einsamkeit scheinbar auflöst und jene Wertschätzung bietet, die viele Einsame sonst nicht bekommen.
Es beginnt meist unauffällig. Zuerst traut man den Nachbarn nicht mehr und meidet sie, später erscheinen einem Freunde und Angehörige als suspekt, man lehnt Gespräche mit ihnen ab, weil man glaubt, sie würden einen ohnehin nicht verstehen. Von dort ist der Weg zur Ablehnung des gesamten politischen Systems nicht mehr weit – man isoliert sich weiter. Und sucht nach einfachen Lösungen. Und die findet man leicht im Netz.
Ob Friedrich offen ist für Verschwörungsideologien und rechte Thesen, muss offen bleiben – darüber spricht er nicht. Aber er redet davon, dass der Staat in seinen Augen schlecht bis gar nicht funktioniere und sowieso schuld sei an seiner Situation. Auch Menschen, die arbeiten gehen, verstünden ihn nicht. So empfindet er es. Fragt man ihn, warum er sich keinen Job sucht, zuckt er mit den Achseln. Zugespitzt könnte man formulieren, Friedrich habe sich längst aus der Gesellschaft ausgeklinkt.
Will die Bundesregierung Demokratie schützen, sollte sie Menschen wie Friedrich aus der Armut und Isolation holen – mit Eingliederungs- und Weiterbildungsprogrammen, Förderangeboten. Das versuchen Jobcenter bereits – mit viel Geld, großer Geduld und jeden Tag. Vielleicht sollte das Portfolio erweitert werden durch Gesprächsangebote mit Expert:innen, die Arbeitslose erfolgreich davon überzeugen, dass Arbeit nicht nur aus der Armut hilft, sondern auch aus der Isolation.
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