Widerstand in der DDR: Kirchengeschichte mit Sprengstoff
Vor 50 Jahren ließ das SED-Regime die Leipziger Universitätskirche abreißen. Nikolaus Krause wollte das nicht hinnehmen. Er landete im Knast.
Volkspolizisten stehen schützend vor dem abgesperrten Gelände. An Stelle der Paulinerkirche sollen moderne Gebäude für die Karl-Marx-Universität entstehen, so hat es das SED-Politbüro in Berlin beschlossen. Für ein Gotteshaus ist bei der „sozialistischen Neugestaltung“ des Leipziger Stadtzentrums kein Platz. Die „Altsubstanz“, verspricht SED-Bezirkschef Paul Fröhlich in der Stadtverordnetenversammlung, werde „schnell, kurz und schmerzlos“ beseitigt. Punkt zehn Uhr hallt das Warnsignal des Sprengmeisters. Einen Moment später folgt die Explosion. Als Erstes kippt der Dachreiter, das spitze Türmchen in der Mitte des Kirchengebäudes, zur Seite. Danach zerbröselt die neugotische Fassade samt ihrer filigranen Rosette. Dann hüllt eine Schuttwolke alles ein.
Nikolaus Krause erinnert sich noch genau an den Moment, der, wie er heute sagt, sein Leben erschüttert hat: „Ich werde nie vergessen, wie diese wunderschöne Kirche in sich zusammengefallen ist“, sagt Krause und schüttelt den Kopf. „Es war ein Akt der Barbarei, eine Machtdemonstration des Staates gegenüber dem Leipziger Bürgertum. Wir konnten es nicht verhindern.“ 50 Jahre danach ist Nikolaus Krause wieder am Ort des Geschehens. Es ist ein heißer Maitag. Der 75-Jährige ist aus Dresden angereist, wo er als Klinikseelsorger arbeitet. Krause, ein untersetzter Mann mit freundlichem Gesicht, achtet nicht auf das Gewusel um ihn. Er schlängelt sich vorbei an hippen Rennrädern und Touristen. Vor der futuristischen Glasfassade der Universität Leipzig, die seit 2012 die Westseite des Augustusplatzes – des früheren Karl-Marx-Platzes – ziert, bleibt er stehen. Dann zeigt er auf die Stelle, wo die Außenwand ein Kirchenportal andeutet. Darüber ist eine Rosette in die Fassade eingearbeitet. „Hier stand der Eingang der Paulinerkirche“, sächselt Krause. „Und wissen Sie was: Dahinter ist der Kirchenraum tatsächlich in Originalgröße nachgebaut. Im Dezember wurde er eingeweiht. Das hätte ich nie mehr für möglich gehalten.“
Dann erzählt Krause, wie aus ihm, dem Pfarrerskind aus dem Vogtland, erst ein Staatsfeind in der DDR und später ein Träger des Bundesverdienstkreuzes erster Klasse wurde. Wie er als aufmüpfiger Student zunächst in Unehren aus der Theologischen Fakultät entlassen wurde und nun als Ehrengast am Weihgottesdienst für die neue Paulinerkirche teilnehmen durfte. Wie er im Strafvollzug Cottbus entschied, Pfarrer in der DDR zu werden, um über die Sprengung der Kirche hinwegzukommen. „Dass sie heute wieder steht, bewegt mich schon sehr. Schließlich saß ich wegen der Paulinerkirche 20 Monate im Knast.“
An Krause sollte ein Exempel statuiert werden
So wie Krause erging es vielen kritischen Geistern in der DDR. Sie wurden bespitzelt, eingeschüchtert und aus dem Verkehr gezogen. Erst Jahrzehnte später sollte Krause anhand der Stasiakten rekonstruieren: An ihm sollte ein Exempel statuiert werden. Gleich drei Stasi-Bezirksleitungen einigten sich auf ein gemeinsames Vorgehen, um den Theologiestudenten der „staatsfeindlichen Hetze“ zu überführen. Zu diesem Zeitpunkt war die Paulinerkirche schon längst gesprengt. Doch die Idee des Prager Frühlings, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu erschaffen, war in der DDR nicht vergessen. Und so liefen im August 1968 zwei höchst unterschiedliche Planungen parallel: die umfassende sowjetische zur Niederschlagung der tschechoslowakischen Reformer. Und die nicht weniger akribisch geplante der Stasi, um einen Rädelsführer der Leipziger Theologiestudenten mundtot zu machen.
Zum ersten Mal war Krause der Stasi im Januar 1968 aufgefallen. Der Staatssekretär für Kirchenfragen warb in einem Vortrag vor Studierenden für die „sozialistische“ Verfassung, über die die DDR-Bürger im April abstimmen sollten. Krause, Sprecher der Theologiestudierenden, provozierte mit der Frage, warum den Arbeitern darin kein Streikrecht eingeräumt würde. Was das noch mit Demokratie zu tun hätte. Wie den Stasiakten zu entnehmen ist, wurde SED-Bezirksvorstand Fröhlich persönlich über „Student Krause“ und „Probleme an der Theologischen Fakultät“ unterrichtet.
„Ich war schon immer ein unangepasster Geist“, sagt Krause entschuldigend und betritt das futuristische Uni-Gebäude. Alles ist hier in Weiß gehalten, die Säulen, die Laptop-Arbeitsplätze am Fenster, das Ufo-förmige Audimax gegenüber. Im Foyer des „Paulinums“ ist alles aufeinander abgestimmt – mit Ausnahme der wuchtigen Grabplatten an einer Seitenwand. Sie hingen einmal in der Paulinerkirche. Im neuen Raumkonzept des Rotterdamer Architekten Erick van Egeraat hatten sie jedoch keinen Platz. „Warten Sie erst mal, bis wir im Andachtsraum sind“, sagt Krause. „Das hat mit der Originalkirche nicht mehr viel zu tun.“ Der spätgotische Schnitzaltar und ein paar Epitaphien seien dort zwar ausgestellt, die barocke Kanzel fehle aber immer noch. Und vieles, wie die tolle Scheibe-Orgel, sei wegen der Geistlosigkeit der SED für immer verloren.
Ein Brief an den Architekten und die Folgen
Für Krause war die Paulinerkirche mehr als nur ein Andachtsraum. Hier hat er schon das Weihnachtsoratorium und die Johannespassion gesungen und seine Examenspredigt gehalten. Sein Großvater und sein Vater – beide Theologen an der Leipziger Fakultät – hatten hier bereits gepredigt. „Als sich dann das Gerücht verbreitete, die Kirche sollte gesprengt werden, war ich fassungslos.“ Krause war entschlossen, zu handeln. Seinen Kommilitonen schlug er vor, einen Brief an den Stadtarchitekten zu schreiben. Trotz der Semesterferien unterschrieben 102 der rund 150 Theologiestudenten. Ende März 1968, zwei Monate vor der Sprengung, brachte Krause den Brief persönlich zum Rathaus und hinterließ dort seine Anschrift für die Antwort. Sie kam nie.
Wie auch in anderen Städten nahm die SED-Führung bei ihren Bauplänen keine Rücksicht auf historische Gebäude. In den Jahren zuvor waren in Leipzig schon das Bildermuseum oder das alte Gewandhaus zerstört worden. Bei der Unikirche kam hinzu, dass sie nicht nur ein geistlicher Ort war, sondern auch ein politischer. So erzählen es viele, die sich an die Zeit vor 1968 erinnern. Hier hörte man Zitate von Schriftstellern wie George Orwell oder Alexander Solschenizyn, die in ihren Romanen den sowjetischen Totalitarismus geißelten. Auch der marxistische Philosoph Ernst Bloch, der mit dem SED-Regime gebrochen hatte und mittlerweile in Westdeutschland lebte, wurde in einer Predigt zitiert.
„Dem SED-Regime war das natürlich ein Dorn im Auge“, sagt Krause und lacht. „Mir war klar: Für diese Kirche musst du kämpfen.“ Das habe ihm der Vater beigebracht. Schließlich sei der von den Nazis ins KZ gesteckt worden. Krause organisierte Sitzstreiks und Mahnwachen vor der Kirche. Bildete sich ein Grüppchen von mehr als drei Personen, kam ein Stasi-Mitarbeiter in Zivil und forderte sie auf, auseinanderzugehen. Wenige Schritte weiter kamen sie erneut zusammen. Das Spiel ging von vorn los.
Dass die Staatsmacht nicht zum Spaßen aufgelegt war, haben Krause und seine Mitstreiter schnell merken müssen. Viele Aktive wurden zum Verhör mitgenommen, auch Krause. Wie ernst das werden könnte, zeigte die Verhaftung von zwei Kommilitonen eine Woche vor der Sprengung. Sie hatten Flugblätter gegen die neue Verfassung verteilt. „Heute wundert mich, dass sie bei mir so lange gewartet haben“, sagt Krause. Erst am 19. September – Krause hatte mittlerweile seine erste Stelle an der Fakultät ergattert – klingelten ihn zwei Beamte frühmorgens aus dem Schlaf. Im Stasi-Gefängnis in der Beethovenstraße, keine zehn Gehminuten zum Karl-Marx-Platz, wird dem frischen Absolventen dann „Ausübung staatsfeindlichen Terrors“ vorgeworfen, später „staatsfeindliche Hetze“ und schließlich „Staatsverleumdung“. Am 30. Januar 1969 wurde Nikolaus Krause zu 22 Monaten Haft verurteilt – 20 davon musste er absitzen.
In der Haft folgt der Entschluss zum Bleiben in der DDR
„Keine schöne Zeit“, sagt Krause rückblickend über jene Monate, die er überwiegend im Strafvollzug Cottbus einsaß. Doch entscheidend für seinen weiteren Gang: Er entschied, Pfarrer zu werden und in der DDR zu bleiben. Als Jugend- und Friedenspfarrer erlebte Krause die Wende in Dresden hautnah. Danach half er beim Aufbau eines ökumenischen Seelsorgezentrums an der Uniklinik Dresden.
Endlich steht Nikolaus Krause in der „Aula und Universitätskirche“, wie der Raum offiziell heißt. Statt Kirchenbänken stehen hier Stuhlreihen, der Altarraum ist durch eine Glaswand vom „Saal“ getrennt, davor hängt eine Leinwand. Gerade ist der Vortrag „Adipositas verstehen – Wie entsteht starkes Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen?“ zu Ende gegangen. Die Hochschule, das hat Präsidentin Beate Schücking klargemacht, wünscht sich hier mehr akademische Vorträge – und auch die Öffnung für andere Religionen. Es gibt nicht wenige Unterstützer der neuen Paulinerkirche, die das anders sehen. Und andere, die sich am modernen Interieur stören. „Das sind Äußerlichkeiten“, sagt dazu Nikolaus Krause, „das Wichtigste ist, dass der Ort wieder eine lebendige Begegnungsstätte wird – wie vor 50 Jahren“.
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