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Widerstand in GazaEin Weckruf gegen die Hamas

Gastkommentar von Hamza Howidy

Die Proteste gegen die Hamas im Gazastreifen stellen eine westliche Erzählung infrage. Die Menschen in Gaza sind mehr als ihre Unterdrücker.

Palästinenser protestieren in Beit Lahia im nördlichen Gazastreifen für ein Ende des Krieges, 26. März 2025 Foto: Haitham Imad/epa

D ie jüngsten Proteste gegen die Hamas im Gazastreifen sind nicht nur ein kraftvoller Akt des Widerstands. Sie stellen verkürzte und vorherrschende Erzählungen infrage, die in den vergangenen 18 Monaten dazu dienten, die Bewohner des Gazastreifens zu entmenschlichen. Die Proteste machen deutlich: Die Menschen im Gazastreifen sind weder geschlossen Hamas-treu noch bloße Opfer des Kriegs. Sie sind Akteure ihrer eigenen Zukunft und fordern aktiv ihre Handlungsfähigkeit zurück.

Die Botschaft der Demonstrierenden ist eindeutig: Die Menschen wollen ein Ende des Kriegs, die Rückkehr ihrer Geiseln, die Absetzung der Hamas und die Möglichkeit, ihre Stadt mit eigenen Händen wiederaufzubauen.

Hamza Howidy

ist 27 Jahre alt und wurde in Gaza geboren. Er studierte an der Islamischen Universität Gaza. Nachdem er 2023 zum zweiten Mal an Protesten gegen die Hamas und für bessere Lebensbedingungen in Gaza teilgenommen hatte, wurde er von der Hamas verhaftet. Zurzeit hält er sich in Deutschland auf.

Dabei handelt es sich nicht um abstrakte, ideologische Forderungen, sondern um praktische, humanitäre Anliegen. Die Demonstrierenden fordern die Rückkehr zur Normalität, die Beendigung der Gewalt, die seit Monaten auf ihre Häuser niedergeht, und den Wiederaufbau des Gazastreifens – nicht im Schatten ausländischer Interventionen, sondern durch die Palästinenser selbst.

Es ist ein Aufruf zur Autonomie und dazu, dass die Zukunft des Gazastreifens von seiner Bevölkerung bestimmt wird – nicht von externen Mächten oder den gewalttätigen Ambitionen eines extremistischen Regimes. Sie fordern nicht nur ein Ende der Hamas-Herrschaft, sondern auch die Möglichkeit, ihre Stadt wiederaufzubauen, ihre Wunden zu heilen und ohne die ständige Bedrohung durch den Krieg zu leben.

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Protest ist lebensgefährlich

Dabei muss man sich darüber im Klaren sein, dass bereits der bloße Akt des Protests unter dem Hamas-Regime eine lebensgefährliche Entscheidung ist. In den vergangenen Monaten hat die Hamas auf abweichende Meinungen mit extremer Gewalt reagiert.

Die Ermordung von Oday Nasser al-Rabay – einem 22-jährigen Demonstranten, der zu Tode gefoltert wurde, nur weil er ein Ende der Hamas-Herrschaft und des Kriegs gefordert hatte – verdeutlicht die brutale Vorgehensweise, mit der die Hamas Andersdenkende unterdrückt. Für jede Person, die es wagt, ihre Stimme zu erheben, gibt es unzählige andere, die aus Angst vor den grausamen Konsequenzen schweigen.

Die Demonstrierenden – junge und alte Menschen, Männer und Frauen – senden nicht nur eine Botschaft an die Hamas, sondern an die ganze Welt: Der Krieg bestimmt nicht, wer sie sind, und sie stehen nicht auf der Seite derer, die sie gefangen halten. Diese Proteste entlarven die ­intellektuelle Unaufrichtigkeit einer Erzählung, die alle Bewohner des Gazastreifens entweder als Mittäter oder als Opfer der Hamas-Gewalt einstuft.

Die anhaltende mediale Darstellung der Bevölkerung des Gazastreifens als entweder Anhänger von Terroristen oder hilflose Opfer des israelischen Militärs diente dazu, die gesamte Bevölkerung zu entmenschlichen. Diese vereinfachende Sichtweise untergräbt die Handlungsfähigkeit der Menschen, die sich nicht der radikalen Ideologie der Hamas anschließen.

Widerstand gegen die Hamas wird ignoriert, weil er nicht in den ideologischen Rahmen vieler passt

Ebenso beunruhigend ist die Scheinheiligkeit innerhalb der internationalen „propalästinensischen“ Bewegungen. Seit 18 Monaten werden die Stimmen der Menschen in Gaza, die alles riskieren, um sich von der Hamas zu befreien, in der weltweiten Diskussion meist ignoriert oder abgetan. Die Ermordung von Oday Nasser al-Rabay durch die Hamas etwa blieb von internationalen Aktivistinnen und Aktivisten meist unbemerkt.

Als jedoch Personen wie Mahmoud Khalil – ein Student der New Yorker Columbia University – aufgrund ihres Aktivismus für Palästina im Westen inhaftiert wurden, kam es zu Protesten, die seine Freilassung forderten. Das Schweigen angesichts der Proteste in Gaza und die fehlende Empörung über den Tod junger De­mons­trie­ren­der sind ein Armutszeugnis für die selektive Solidarität, die den globalen Diskurs durchdrungen hat. Widerstand gegen die Hamas wird ignoriert, weil er nicht in den ideologischen Rahmen vieler passt, die behaupten, sich für die Rechte der Palästinenser einzusetzen.

Die Ironie ist offenkundig: Die Hamas hat lange Zeit von der Unterstützung bestimmter Lager innerhalb der propalästinensischen Bewegung im Westen profitiert. Die Gleichsetzung der palästinensischen Bevölkerung mit der Hamas hat unbewusst die Erzählung dieser Gruppe und damit ihre Vorherrschaft im Gazastreifen gestärkt.

Wandel in der propalästinensischen Bewegung notwendig

Damit die Proteste in Gaza jedoch ihre Ziele – Frieden, Autonomie und ein Ende der Hamas-Herrschaft – erreichen können, muss diese Beziehung neu bewertet werden. Die propalästinensische Bewegung im Westen muss öffentlich ihre Verurteilung der Hamas signalisieren und die Forderungen der Demonstrierenden in Gaza anerkennen: ein Ende des Kriegs, die sichere Rückkehr der Geiseln und die Vertreibung der Hamas aus Gaza.

Ohne diesen Wandel in der Rhetorik und Solidarität werden die Rufe des Gazastreifens nach Frieden und Gerechtigkeit weiterhin von einer globalen Bewegung übertönt, die es versäumt hat, zwischen den Menschen im Gazastreifen und dem Gewaltregime, das sie unterdrückt, zu unterscheiden.

Die Menschen in Gaza sind nicht einfach nur Spielfiguren in einem größeren ideologischen Kampf. Sie sind Individuen, Familien und Gemeinschaften, die für ihr Recht kämpfen, in Frieden zu leben, ihre Häuser wiederaufzubauen und ihre Zukunft selbst zu bestimmen.

Wenn die propalästinensische Bewegung – insbesondere im Westen – den Gazastreifen wirklich wirksam unterstützen will, muss sie die deutliche Stimme der Menschen vor Ort endlich anerkennen und die Komplizenschaft mit der Hamas zurückweisen. Nur durch diesen entscheidenden Wandel in der Solidarität kann der Freiheitskampf des Gaza­streifens verstanden werden und – was eigentlich noch wichtiger ist – seine Ziele erreichen.

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24 Kommentare

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    Die Moderation 

  • Guckt euch mal um in Gaza. Zu wenig, zu spät.

  • Nicht zu vergessen bei der Frage des Selbstverständnisses der Palästinenser ist die am Ende wenig hilfreiche Festsetzung der UN des Flüchtlings-Status. Dieser widerspricht genau dem Engagement etwas an der eigenen Situation zu ändern, weil die Illusion erhalten bleibt, zurück in die Vergangenheit zu gelangen.



    Ich habe schon vor der Hamas wenig Eigeninitiative in Gaza gesehen. Schließlich ist die Hamas bon dwe Bevölkerung gewählt worden.

  • Solche Beiträge bringen den Bedrängten in Gaza ganz sicher mehr, als die vorgeblich propalästinensischen Radikalzerstörer in Europa und Amerika. Von daher, streicht den Radikalen endlich die Unterstützung, sammelt für die wirklichen Zukunftshelden, unterstützt die demokratische Zivilgesellschaft und schafft damit endlich die Bedingungen für eine Begegnung auf echter Augenhöhe. Ohne Geiselgangster, Vertreibungsfanatiker und unbarmherzige Meuchelmörder.

    • @vieldenker:

      Abbas hat erst kürzlich auf Druck die Märtyrerrenten abgeschafft. Chef der PA, die jetzt die Kontrolle über Gaza bekommen soll.

  • Was westliche Unterstützung wert ist, sehen die Afghanen die uns geholfen gegen die Taliban. Niemand sollte mehr Worte aus dem Westen Ernst nehmen, denn sie sind nur noch das : Worte. Buchstaben . Ohne ihren eigentlichen Sinn .

    • @Mr Ambivalent:

      Traurige Tatsache.

    • @Mr Ambivalent:

      Nun, über die westliche Unterstützung lässt sich streiten.



      Aber wenn der eigene bewaffnete Widerstand zusammenfällt wie ein Kartenhaus gegenüber den Taliban, war die westliche Unterstützung wohl nicht gewollt.

  • Sie wollen Ihre Geiseln zurück.... verständlich. Wer weiss was jetzt der rosa Elefant im Raum is`? Was is mit den anderen Geiseln? Aber, ja. Trotz dem Fehlen jeder Worte gibt mir das eins, Hoffnung. Seitdem ich Kind war war da Krieg. Immer.

    • @Darkhope:

      Welche anderen Geiseln? Dort gibt es seit 1948 Krieg.

  • Gut so! Mit diesem Beitrag gehe ich gern konform.

  • Warum die Wahrnehmung von aussen eine „Entmenschlichung“ bedeutet ist mir nicht nachvollziehbar. Dass die palästinensische Bevölkerung als Gruppe wahrgenommen wird, ist relativ selbstverständlich.



    Warum erst jetzt Proteste ? Im August letzten Jahres wäre das wichtig und nachvollziehbarer gewesen. Die Brutalität des Angriffs auf Israel und die Geiselnahmen konnte man auch als Palästinenser bereits damals durchaus schlecht finden. Möglicherweise mußte die Hamas deutlich geschwächt werden, bis sowas möglich wurde. Oder ist es einigen Palästinensern erst nach 1,5 Jahren Zerstörung klar geworden, dass es so nicht weiter gehen kann. Haben sie also eine neue Sichtweise erst entwickelt?



    Zu befürchten ist allerdings, dass hier auch mal wieder externe, ausländische Kräfte, vielleicht NGOs, vielleicht Geheimdienste ihre Finger mit im Spiel haben? Berichte dazu gibt es nicht. Aber das liegt vielleicht daran, dass einige Medien kein Interesse daran haben (vielleicht Al Jazeera?) und andere keine Informationen hierzu haben.



    So traurig es ist, es ist wohl kaum zu erwarten, dass Bewohner des Gazastreifens von innen die Hamas stoppen können. Hier wirken israelische Angriffe leider effektiver..

    • @Fragesteller:

      Was verstehen Sie nicht am Wort "Lebensgefahr"?



      Es ist und war für die Palästinenser lebensgefährlich gegen die Hamas zu protestieren.

      • @Keine Sonne:

        Es ist für die Palästinenser aber auch lebensgefährlich, wenn die Hamas weiterhin Geiseln festhält und Raketen auf Israel schiesst. Denn dann wird Israel auch weiterhin in Gaza bombardieren. 50.000 Tote, von denen sicherlich auch eine erhebliche Zahl Zivilisten waren, sollten Warnung genug sein.

      • @Keine Sonne:

        "Es ist und war für die Palästinenser lebensgefährlich gegen die Hamas zu protestieren."

        Aber nicht in Berlin, Paris, London oder den USA. Nur hat da auch niemand gegen die Hamas protestiert.

        • @BrendanB:

          Artikel nicht gelesen?



          Es geht um Proteste in Gaza. Darauf bezieht sich auch der Kommentar von Fragesteller und meine Antwort.

  • Ohne Frage: Die Hamas muss weg. Aber im Westjordanland gibt es keine Hamas und es wird fleissig weiter ethnisch gesäubert. Es reicht deshalb nicht, dass sich die Pro-palästinensa bewegung von der Hamas distanziert (wenn diese überhaupt nahe an der Hamas ist, was ich zum grossen Teil bezweifle) um das Gemetzel zu beenden.

  • Danke für diese Stimme.



    Wie wichtig!!!

  • Vielen Dank für diese epochale Arbeit die Menschen in Gaza als Akteure die Agency verdienen zu zeichnen!

  • Es ist in der Geschichte nicht das erste Mal, dass wir uns gegen Machthabende auf beiden Seiten stellen müssen, um der jeweiligen Bevölkerung, den Zivilisten, gerecht zu werden. Für humanitäre Organisationen ist das in der Praxis natürlich nicht leicht.



    Meistens liegen jene falsch, die suggerieren, dass man sich auf die Seite eines nicht ganz so aggressiven Regímes oder eine aus historischen Gründen moralisch gerechtfertigte Seite stellen könne, weil die andere Seite so viel schlechter sei. Wie in diesem Fall, leiden die Menschen auf beiden Seiten unter ihrer füchterlichen Führung.



    Noch nie war die Linke so präsent, aber gleichzeitig militärisch so machtlos in Israel wie heute, z.B., und leider gilt Ähnliches für die Palästinenser, deren wahre Führung wie in diesem Artikel beschrieben von unten kommt.



    Natürlich versprechen die Mächtigen ihren Sympathisanten schnelle Erfolge, während die große Masse der weniger Mächtigen weiß,



    dass der Kampf von unten ein sehr langer und manchmal fast aussichtsloser ist. Eigentlich brauchen die Israelis den Palästinensern nur das zugestehen, was sie sich selber erkämpft haben.

    • @Ataraxia:

      Es gibt hier keinen Kampf von unten gegen die Mächtigen. Postkoloniale Theorien greifen hier nicht. Einfach sich mal die über 3000 Jahre alte Geschichte Israels anschauen.

      Es wird Zeit, dass sich die Palästinenser nicht mehr hoffnungslos indoktrinieren, konditionieren und von ihren Diktaturen malträtieren lassen.

      Die UNO hatte mit großer Mehrheit 1948 einer Zwei-Staatenlösung zugestimmt. Die Palästinenser haben unter der Führung der arabischen Staaten, vorwiegend der Muslimbrüderschaft abgelehnt.



      Arafat bekam von Israel spätestens 1993 die Chance durch das Oslo-Abkommen sowie 2000 und 2001, Camp David und Taba, einen Palästinensischen Staat zu bekommen, mit 97 Prozent des Westjordanlandes plus Ost-Jerusalem plus Gaza. Abbas bekam 2005 mit Israels Rückzug aus Gaza die Chance und 2008 unter Olmert. Alles verpasst. Unverdrossen wird aber behauptet: Israel hätte sich seit jeher geweigert. Nein, die PLO ist gescheitert. Und erst recht Hamas. Die Tragödie des palästinensischen Volkes besteht darin, dass es von seinen eigenen Führungen als Kanonenfutter missbraucht wurde.

      Sehr empfehlenswerter ZEIT-Artikel:



      www.zeit.de/politi...as-nahost-konflikt

      • @shantivanille:

        Sie schreiben immer wieder, dass die Palästinenser*innen alles hätten haben können. Das stimmt schlicht nicht. Was sie hätten haben können (und vielleicht hätten annehmen sollen) war: ein Gebilde mit eingeschränkter Souveränität, zerschnitten von israelischen Korridoren und faktisch fehlender Kontrolle über die Grenzen. Dazu einen Vorort von Ostjerusalem als Hauptstadt. Wasserfrage, Zugang zu den heiligen Stätten, alles zum extremen Nachteil der Palästinenser*innen.

  • Vielen Dank Herr Howidy für ihren Mut, ihr Engagement und diesen wichtigen Beitrag! Hoffentlich nehmen sich einige Adressaten ihre Worte zu Herzen, alleine, mir fehlt der Glaube... Ich hoffe aber dass auf Sicht Menschen wie sie in Gaza die Kontrolle übernehmen können und hoffentlich auch in Israel die Rechtsextremen von der Macht verdrängt werden. Viel Erfolg und volle Solidarität!