Whitney-Biennale New York: Die neue Innerlichkeit
Ist die New Yorker Whitney-Biennale so zahm, wie ältere US-Kunstkritiker behaupten? Oder sagt das etwas über das Innenleben eines brüchigen Imperiums?
Der Renzo-Piano-Bau am Hudson River, der seit nun beinahe zehn Jahren das New Yorker Whitney Museum beherbergt, hat zwei Soll-Öffnungen zur Straße hin, vollverglaste Außenwände über die gesamte Breite des zweiten und dritten Stockwerks.
Wer seit vergangener Woche hier am Fluss entlang joggen oder spazieren geht und einen Blick nach oben wagt, dem blinken in Neonlettern Botschaften entgegen, die den Beobachter wenigstens für einen Augenblick aus dem Tritt bringen. „We must stop imagining/apocalypse/genocide and we must imagine liberation“, schimmert da in zehn Meter Höhe über der Flusspromenade.
Die Neonschrift ist das einzige nach außen sichtbare Zeichen dessen, was sich derzeit im Museumsinneren abspielt – die Biennale des Museums nämlich, die seit nunmehr 51 Jahren nicht nur den jeweiligen Moment in der amerikanischen Kunst abzubilden strebt, sondern der gegenwärtigen Künstlergeneration eine Plattform bietet, die Zustände in Kultur und Gesellschaft zu kommentieren.
Diese Gelegenheit haben die Künstler in der Vergangenheit mit wechselnder Intensität genutzt. Unvergessen ist etwa die Biennale des Jahres 1993, als die US-Kunst sich mit einer verzweifelten Vehemenz gegen den Zynismus des amerikanischen Neoliberalismus aufgelehnt und sehr zum Unbehagen des Kunst-Establishments die Grenze zwischen Kunst und Polit-Aktivismus verwischt hat.
Konstruktion von Identität
Seither ist die 93er-Biennale zum Bezugspunkt für die Kuratoren aller weiteren Biennalen geworden – man versuchte sich entweder davon zu distanzieren oder, wie in den vergangenen Jahren, ihren Geist wiederzubeleben und zu fragen, wie er für die heutige Zeit aktualisierbar ist.
Meg Onli, die Co-Kuratorin der derzeitigen Biennale, gibt zu, bei der Planung der Ausstellung mit ihrer Kollegin Chrissie Iles an die Diskurse des Jahres 1993 angeknüpft zu haben. Das damals zentrale Thema war die Konstruktion von Identität. Das Thema erscheint den Kuratorinnen auch heute so unabgeschlossen wie eh und je, seine Verhandlung bleibt auch bei einer seither neuen Künstlergeneration spannend.
Die New Yorker Kritik konnte dem Ansatz von Onli und Iles allerdings wenig abgewinnen. Jerry Saltz etwa, der große Meinungsmacher in der New Yorker Szene, fand die ganze Show zu brav und zu zahm. Das sei nicht zuletzt daran abzulesen, dass der leuchtende Schriftzug an der Fassade des Whitney vom indigenen Künstler Demian DinéYazhi das am explizitesten politische unter den nur 71 Werken ist.
Der 73 Jahre alte Saltz, der in den militanten Kulturkämpfen der 70er und 80er Jahre sozialisiert wurde, wünscht sich das Wilde, Anarchische jener Zeit zurück, er sehnt sich nach dem Ikonoklasmus von Matthew Barney, Cindy Sherman, Barbara Kruger oder Nan Goldin. Die heutigen Künstler sind ihm zu ängstlich, zu verschüchtert. Er habe bei der Biennale nichts gesehen, meint Saltz, was wirklich aufrüttelt.
Nichts ist laut oder schrill
Man kann ihm recht geben, nicht viel ist zu sehen, das laut oder schrill daherkommt. Plakativ ist vielleicht noch die scheinbar verkohlte, in sich zusammensinkende Nachbildung vom Weißen Haus auf der Außenterrasse des fünften Stocks. „The Earth Swallows the Masters House“ nennt Kiyan Williams die gut drei Meter hohe Plastik, auf der nur die amerikanische Flagge unbeschadet ist.
Hier wird auf etwas zu triviale Weise das Ende des amerikanischen Imperiums entweder illustriert oder herbeigewünscht, je nachdem wie man es betrachtet. Dem gegenüber hat Williams eine triumphierende Statue der Trans-Aktivistin Marsha P. Johnston platziert.
Doch schon hier merkt man, dass die Dinge komplizierter geworden sind seit 1993. Der leidenschaftliche Kampf um die amerikanische Seele ist im Zeitalter von Trump einer gewissen Verzweiflung sowie einem wachsende Zynismus gewichen. Und damit verbunden einer Kehre nach innen.
So berichtet Meg Onli, sie habe während ihrer Recherchen eine Hinwendung zur Subjektivität in der amerikanischen Gegenwartskunst beobachtet sowie ein neues Interesse an der Psychoanalyse. Künstler misstrauten allem, was Stabilität vorgibt oder Hierarchien zwischen einer behaupteten „Realität“ und einer „Irrealität“ aufmacht, wie es beispielsweise für heteronormale Identitäten gegenüber queeren beansprucht wird.
Fließend und instabil
Das Ergebnis ist eine Kunst, die das Fließende, Instabile betont. Da sind zum Beispiel die Kaskaden aus belichtetem, aber unfixiertem Fotopapier der kanadischen Künstlerin Lotus Laurie Kang, die sich durch die Lichtverhältnisse im Museum weiterentwickeln und immer neue Brauntöne produzieren. Oder die Arbeit von Suzanne Jackson, die Acrylfarbe mit Acrylfarbe vermischt und darin zerschredderte Briefe oder Textilien auflöst. Die Arbeit ist in einem steten Wandlungsprozess, ist ein Gemälde ohne Leinwand, dem wortwörtlich der Halt fehlt.
Aber auch die eher klassische Malerei schafft es, materiell und psychisch etwas Unstetes zu vermitteln. Da sind etwa die Gemälde der lange übersehenen schwarzen Künstlerin Mavis Pusey. Sie lässt sich von der nicht enden wollenden Abrisswut in New York inspirieren, wenn sie auf ihren Leinwänden gerasterte, moderne Fassaden mit Brettverschlägen und Bauschutt zu abstrakten Kompositionen vermengt.
Ähnlich gespenstisch sind die Bilder von Maja Ruznic, die als bosnisches Kind in österreichischen Flüchtlingslagern massive Traumata erfuhr, die sich auf ihr weiteres Leben ausgewirkt haben. Auf ihrem trügerisch farbenfrohen Ölgemälde „The past awaiting the present“ deutet sie mit ihren kubistischen Figuren die schmerzhaften, aber auch hoffnungsvollen Identitätsübergänge in ihrer Biografie an.
Konstruktion von Trans-Identitäten
Am treffendsten passt das Thema uneindeutiger Identitäten freilich auf die Konstruktion von Trans-Identitäten, die im heutigen Amerika an vorderster Front der Kulturkämpfe verhandelt werden. Die Biennale hat deshalb mehrere Trans-Künstler:Innen eingeladen, die sich jedoch auch nicht explizit agitatorisch gebärden.
Doch speziell die scheinbar lakonischen Zeichnungen von Pippa Garner, die mit Tesafilm in die Büroräume des Whitney gehängt wurden, sind deshalb umso eindringlicher. Mit viel Humor und Selbstironie begleitete sie darauf über viele Jahre ihre eigene Transition. Cartoonhaft, manchmal fantastisch, wandelt sie Konsumgüter wie Autos oder Küchengeräte zu Körpererweiterungen um und kommentiert leichthändig die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Selbsterschaffung.
„Even Better Than the Real Thing“: Whitney Kunstbiennale, Whitney Museum of American Art, New York City, bis 11. August
Wer sich derweil angesichts des Titels der Biennale „Even Better Than the Real Thing“ eine tiefergehende Diskussion der Wechselwirkung von künstlicher Intelligenz und Kunst verspricht, der wird allerdings enttäuscht. Im Grunde wird nur ein Werk digitaler Kunst gezeigt, „xhairymutantx“ von Holly Herndon und Mat Dryhurst, und es stellt nicht das herausragendste Beispiel dieser Sparte dar: Zu sehen ist eine AI-generierte Mutation der Künstlerin als Gemälde, der Besucher kann per QR im Netz weitere generieren. Solch ein Kommentar auf Deepfakes bleibt an der Museumswand eher flach.
Gegenentwurf oder Kritik?
Man könnte den Titel der Biennale aber auch auf einen anderen konzeptionellen Ansatz gemünzt verstehen, dass sie nämlich nicht so sehr als Kritik am amerikanischen Imperium gedacht ist, sondern eher als eine Art Gegenentwurf. Chrissie Iles bringt im Katalog den postkolonialen Begriff des „archipelagic space“ – des archipelen Raums – ins Spiel. Mit dessen Hilfe sollen Dinge wie Imperium, Nation, aber auch jede andere Form von Gemeinwesen holistischer gedacht werden, als instabiles Netzwerk von Interdependenzen.
Es mag eine der Stärken der Whitney-Biennale sein, Amerika als ein solches Archipel vorzuschlagen. Chaotisch, unruhig, insulär, aber lose verbunden und vom Untergang bedroht. Ein verletzliches, prekäres Amerika, aber better than the real thing. Wenn dies die Diagnose der Biennale ist, dann kann man ihr nur zustimmen.
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