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Wenn Kinder in der Natur unterwegs sindAlles verboten

Nicht betreten, nicht klettern, nicht laut sein: Im Freien ist ständig alles verboten. Das nimmt Kindern die Chance, die Natur lieben zu lernen.

Natur auf Abstand: Verbotsschild im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft Foto: dpa | Bernd Wüstneck

A ls Kind bin ich an den Hamburger Stadtrand gezogen, zu den Privilegierten. Dort gab es einen kleinen Bach, in einem kleinen Tal, an das riesige Gärten mit Einzelhäusern grenzten. Eine der Lieblingsbeschäftigungen von meinem Bruder und mir war es, das Bächlein mit Ästen und Steinen aufzustauen – was aber unmöglich war, es fand immer wieder seinen Weg.

Eine der Lieblingsbeschäftigungen mancher Anwohner – welche die Reihenhaussiedlung, in der wir wohnten, „Ghetto“ nannten – war es, sich darüber aufzuregen, dass wir im Landschaftsschutzgebiet spielten. Wir suchten uns für die Staudämme also möglichst versteckte Orte. Solche, wo auch die Anwohner gerne illegal Gartenabfall entsorgten. Übrigens sehr gutes Baumaterial für unsere Vorhaben.

Heute wohne ich mit meiner Familie selber an einem kleinen Bach. Auch Landschafts­schutzgebiet. Ebenfalls passt es hier den Alteingesessenen nicht, dass neue Leute zuziehen oder – Weltuntergang! – eine Unterkunft für Geflüchtete errichtet wird. Natürlich nur aus Umweltschutzgründen, das ist klar.

Die Kinder bei uns stauen den Bach nie auf. Sie bekommen schon Ärger, wenn sie im Rückhaltebecken Frösche keschern: schützenswerte Teichanlage! Zum Glück tun sie es trotzdem. Ich halte es für falsch, den Kindern im Umgang mit Natur ständig alles zu verbieten. Die meisten Kinder dürfen wohl nur noch Zuhause mit ihren technischen Geräten einfach mal das machen, was sie wollen.

Die Kinder bekamen eine Liste mit Waldregeln, um es ihnen von vornherein zu vermiesen

Auf dem Biobauernhof ums Eck hängt am Stall seit kurzem auch ein Schild. Darauf steht: Betreten verboten – wertvoller Tierbestand. Einmal war Olivia auf Klassenreise, das Schullandheim lag direkt am Wald: Tipis bauen verboten! Bei uns gibt es ein schönes Museumsdorf mit Ziegen und Schweinen. Wir konnten nicht mehr hingehen, weil unser behinderter Sohn Willi den wachhabenden Rentnern zu laut war: Die Tiere bräuchten Ruhe. Einmal nahm Willi dort sogar eine Eichel vom Boden, die er einer Ziege auf der anderen Seite des Zaunes reichte – wo ebenfalls Hunderte von Eicheln lagen. Was für ein Eklat – Tiere füttern verboten­­! „Solche Kinder“ müssten auch lernen, sich an die Regeln zu halten!

Da ist etwas in der Art bestimmter ehrenamtlich Engagierter, denen man ja eigentlich dauerhaft dankbar sein muss, das widert mich an. Es ist eine gewisse Erhabenheit, die sie ermächtigt, mehr Recht auf einen Ort zu haben als wir, die nervigen Besucher.

Als unsere Tochter Olivia vor kurzem von langer Krankheit genesen ist, hatte sie die allergrößte Sehnsucht nach Natur. Aber sie konnte nicht wie sonst über den Graben springen, um über die Felder zu schauen. Ich schob (oder vielmehr zerrte) Olivia im Rolli über die Wanderwege, bis wir an ein unverschlossenes Gatter kamen, wo wir es bis an den Rand eines kleinen Feldes schafften: Ehrfürchtig betrachteten wir Kartoffeln, Kürbisse und Sonnenblumen.

Aber die Freude dauerte nur kurz, denn vom Weg brüllten schon die selbsternannten Aufseher. Das verdammte Gelände gehörte zum Museumsdorf – betreten für Unwürdige verboten! Leute, ich habe so Sehnsucht nach ein bisschen Anarchie!

In der Schule hatten die Kinder das Thema Wald. Nicht, dass sie in den Wald gegangen wären, nein. Aber sie bekamen eine Liste mit Waldregeln, um es ihnen von vornherein zu vermiesen: Nicht den Weg verlassen, nicht auf Bäume klettern, nicht laut sein, keine Beeren pflücken, kein Tier berühren und um Himmels Willen keinen Ast zum Schnitzen abbrechen! Ist der Wald jetzt auch ein fucking Museum?

Wenn wir die gravierenden Umweltfragen lösen wollen, brauchen wir nicht mehr Schulreferate über Klimawandel, sondern Kinder, die keine Angst vor einer Kröte haben. Man wird nur mit Herz und Seele das schützen, was man wirklich kennt und liebt!

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Birte Müller
Freie Autorin
Geboren 1973 in Hamburg. Seit sie Kinder hat schreibt die Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Einkaufszettel und Kolumnen. Unter dem Titel „Die schwer mehrfach normale Familie“ erzählt sie in der taz von Ihrem Alltag mit einem behinderten und einem unbehinderten Kind. Im Verlag Freies Geistesleben erschienen von ihr die Kolumnensammlungen „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“. Ihr neuestes Buch ist das Kindersachbuch „Wie krank ist das denn?!“, toll auch für alle Erwachsenen, die gern mal von anderen ätzenden Krankheiten lesen möchten, als immer nur Corona. Birte Müller ist engagierte Netzpassivistin, darum erfahren Sie nur wenig mehr über sie auf ihrer veralteten Website: www.illuland.de
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2 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Da ist viel wahres dran - mit der Ausnahme, dass Kinder sich schon immer - wie die Autorin in ihrer Kindheit - den Raum selbst genommen haben und zuhause über "Waldregeln" aufgeklärt wurden, etwa dass man kein Rehkitz streichelt oder dass man nichts einfach in den Mund steckt, was nämlich giftig sein könnte. Leider können Schulen sich heute auf solches Wissen nicht mehr verlassen. Und es ist nicht Aufgabe der Eltern, die Regeln mit den Kindern zu missachten, sondern Kinder testen etwas aus.

  • Das ist für mich ein typischer "einerseits - andererseits - Artikel": Grundsätzlich finde ich auch, dass es sehr viele Verbote gibt, die dazu beitragen, Kinder von der Natur zu entfremden. Keinen Froschlaich mit nach Hause nehmen dürfen etc. ist z.B, einer dieser unsinnigen Regeln. Anderseits finde ich das Fass, welches hier aufgemacht wird um ein paar Längen zu groß und die Wut, die sich hier angestaut hat etwas kopf- und gedankenlos: Man darf nämlich ruhig zwischen sinnvollen und vollkommen dusseligen Regeln unterscheiden: Vor kurzem sah ich auf einer Wiese einen Kranich, der immer wieder von zwei Kindern lachend aufgescheucht wurde: Der Kranich war wohl gelandet, weil er erschöpft war und eine Pause bzw. Nahrung brauchte. Der Vater der Kinder fand das total lustig; dabei hätte man eine Gelegenheit gehabt, den Sinn gewisser Regeln für das Zusammenleben von Mensch und Tier gleichzeitig mit etwas Empathie nahezubringen.

    Den Kindern ein wenig anarchischen Umgang mit der Natur zu vermitteln setzt voraus, dass Eltern selbst wissen, welche Regeln einen Sinn ergeben, und welche nicht. So möchte ich dann gleich mal auf das Nationalparkschild eingehen, welches zur Bebilderung des Artikels verwendet wurde: In Nationalparken gibt es häufig Schutzziele, welche von Besuchern unzureichend verstanden werden: Bruten empfindlicher Vogelarten zum Beispiel, die durch Störung dort ihre allerletzten Refugien verlieren können. Zu glauben, man könne schon beurteilen, wo die Kinder herumtoben können, auch wenn vermeintlich missgünstige "Naturschützer" das nicht wollen, zeugt nicht gerade von Umsichtigkeit.

    Ich hätte da ein paar Vorschläge zur Güte: Man setzt sich dafür ein, dass "Natur" und naturnahe Landschaften nicht nur auf kleinster Fläche geschützt werden müssen, sondern sich überall entwickeln dürfen. Kinder lernen dann auch noch, dass nicht alle Regen doof sind und bekommen gleichzeitig, dort wo es geht ihre Freiräume zurück. Das ist besser als blinde, libertäre Anarchie.