Wenn Kinder in der Natur unterwegs sind: Alles verboten
Nicht betreten, nicht klettern, nicht laut sein: Im Freien ist ständig alles verboten. Das nimmt Kindern die Chance, die Natur lieben zu lernen.
A ls Kind bin ich an den Hamburger Stadtrand gezogen, zu den Privilegierten. Dort gab es einen kleinen Bach, in einem kleinen Tal, an das riesige Gärten mit Einzelhäusern grenzten. Eine der Lieblingsbeschäftigungen von meinem Bruder und mir war es, das Bächlein mit Ästen und Steinen aufzustauen – was aber unmöglich war, es fand immer wieder seinen Weg.
Eine der Lieblingsbeschäftigungen mancher Anwohner – welche die Reihenhaussiedlung, in der wir wohnten, „Ghetto“ nannten – war es, sich darüber aufzuregen, dass wir im Landschaftsschutzgebiet spielten. Wir suchten uns für die Staudämme also möglichst versteckte Orte. Solche, wo auch die Anwohner gerne illegal Gartenabfall entsorgten. Übrigens sehr gutes Baumaterial für unsere Vorhaben.
Heute wohne ich mit meiner Familie selber an einem kleinen Bach. Auch Landschaftsschutzgebiet. Ebenfalls passt es hier den Alteingesessenen nicht, dass neue Leute zuziehen oder – Weltuntergang! – eine Unterkunft für Geflüchtete errichtet wird. Natürlich nur aus Umweltschutzgründen, das ist klar.
Die Kinder bei uns stauen den Bach nie auf. Sie bekommen schon Ärger, wenn sie im Rückhaltebecken Frösche keschern: schützenswerte Teichanlage! Zum Glück tun sie es trotzdem. Ich halte es für falsch, den Kindern im Umgang mit Natur ständig alles zu verbieten. Die meisten Kinder dürfen wohl nur noch Zuhause mit ihren technischen Geräten einfach mal das machen, was sie wollen.
Auf dem Biobauernhof ums Eck hängt am Stall seit kurzem auch ein Schild. Darauf steht: Betreten verboten – wertvoller Tierbestand. Einmal war Olivia auf Klassenreise, das Schullandheim lag direkt am Wald: Tipis bauen verboten! Bei uns gibt es ein schönes Museumsdorf mit Ziegen und Schweinen. Wir konnten nicht mehr hingehen, weil unser behinderter Sohn Willi den wachhabenden Rentnern zu laut war: Die Tiere bräuchten Ruhe. Einmal nahm Willi dort sogar eine Eichel vom Boden, die er einer Ziege auf der anderen Seite des Zaunes reichte – wo ebenfalls Hunderte von Eicheln lagen. Was für ein Eklat – Tiere füttern verboten! „Solche Kinder“ müssten auch lernen, sich an die Regeln zu halten!
Da ist etwas in der Art bestimmter ehrenamtlich Engagierter, denen man ja eigentlich dauerhaft dankbar sein muss, das widert mich an. Es ist eine gewisse Erhabenheit, die sie ermächtigt, mehr Recht auf einen Ort zu haben als wir, die nervigen Besucher.
Als unsere Tochter Olivia vor kurzem von langer Krankheit genesen ist, hatte sie die allergrößte Sehnsucht nach Natur. Aber sie konnte nicht wie sonst über den Graben springen, um über die Felder zu schauen. Ich schob (oder vielmehr zerrte) Olivia im Rolli über die Wanderwege, bis wir an ein unverschlossenes Gatter kamen, wo wir es bis an den Rand eines kleinen Feldes schafften: Ehrfürchtig betrachteten wir Kartoffeln, Kürbisse und Sonnenblumen.
Aber die Freude dauerte nur kurz, denn vom Weg brüllten schon die selbsternannten Aufseher. Das verdammte Gelände gehörte zum Museumsdorf – betreten für Unwürdige verboten! Leute, ich habe so Sehnsucht nach ein bisschen Anarchie!
In der Schule hatten die Kinder das Thema Wald. Nicht, dass sie in den Wald gegangen wären, nein. Aber sie bekamen eine Liste mit Waldregeln, um es ihnen von vornherein zu vermiesen: Nicht den Weg verlassen, nicht auf Bäume klettern, nicht laut sein, keine Beeren pflücken, kein Tier berühren und um Himmels Willen keinen Ast zum Schnitzen abbrechen! Ist der Wald jetzt auch ein fucking Museum?
Wenn wir die gravierenden Umweltfragen lösen wollen, brauchen wir nicht mehr Schulreferate über Klimawandel, sondern Kinder, die keine Angst vor einer Kröte haben. Man wird nur mit Herz und Seele das schützen, was man wirklich kennt und liebt!
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