Weihnachten in Großbritannien: Auf in den Kampf
Die Abstimmung über den EU-Austritt hat viele Familien entzweit. Das macht die Feiertage in diesem Jahr noch schwieriger.
Gav wird an Weihnachten nur die Hälfte seiner Familie sehen. Denn seine Familie hat sich über das Brexit-Referendum vom Juni entzweit. Manche Briten stimmten für den Verbleib in der Europäischen Union, andere dagegen. Der Streit, der darauf folgte, hat sich noch nicht gelegt. „Wir werden getrennt zu Abend essen. Die beiden Lager halten es einfach nicht miteinander im selben Raum aus“, sagt er. „Es heißt ja, Bürgerkriege seien die schlimmsten …“
Die Entscheidung von Gav, der ebenso wie andere Menschen, die in dieser Geschichte vorkommen, nur seinen Vornamen in der Zeitung lesen möchte, und seiner Familie mag ungewöhnlich klingen – das Problem ist es nicht. Das EU-Referendum schlug tiefe Gräben in die britische Gesellschaft. Schmerzliche Diskussionen sind daraus hervorgegangen, deren Folgen nicht einfach zu heilen sind.
Die tiefsten Gräben verlaufen zwischen den Generationen, Regionen, Klassen und zwischen der Land- und Stadtbevölkerung. Generell kann man sagen: Wer jung ist, aus der Mittelklasse stammt und in der Stadt lebt, hat für den Verbleib in der EU gestimmt. Die älteren, benachteiligten und auf dem Land lebenden wollten die EU dagegen verlassen.
Viel wurde darüber gesprochen, dass die Gruppen in ihren eigenen Blasen leben, getrennt von den jeweils anderen. Diese exklusiven Echokammern haben dazu beigetragen, dass die Gegner des Brexits – darunter wohl viele, die in Politik und Medien arbeiten – geschockt waren vom Ergebnis.
Tiefe Gräben
Umgeben von Gleichgesinnten gelang es ihnen nicht, vorherzusehen, wie viele tatsächlich für den Austritt waren. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Es gibt viele Fälle, in denen die Gräben nicht entlang sozialer Gruppen verlaufen, sondern mitten durch die Küche.
„Es gibt eine Bruchlinie, die nicht unbedingt etwas mit Kriterien wie Alter oder Klasse zu tun hat“, sagt Peter, ein Unternehmensberater aus Kent, der sich ebenfalls mit einem Teil seiner Familie über diese Entscheidung verworfen hat. „Die Lage ist verworren, weil die Leute aus so vielen Gründe für den Brexit gestimmt haben. Das umfasst eine große Spanne des politischen Spektrums.“
Viele Familien und Freundeskreise bleiben gespalten zurück. Selten waren in Großbritannien Gefühle so eng mit politischen Themen verbunden.
Sofia Vasilopoulou von der Universität York und Markus Wagner von der Universität Wien zufolge war die Wahlentscheidung massiv von Emotionen geleitet. WählerInnen nannten „Ärger“, „Angst“ und „Hoffnung“ als Faktoren, die ihre Entscheidung beeinflusst haben. Dazu passt auch, dass das Ergebnis außergewöhnlich starke Gefühlsausbrüche auf beiden Seite zur Folge hatte.
Bei einer Umfrage direkt nach der Abstimmung kam heraus, dass die Hälfte aller jungen Leute, die für den Verbleib stimmten, weinten oder sich zumindest danach fühlten, als die Nachricht kam. Zwei Drittel der unter 40-Jährigen sagten, sie fühlten sich „angewidert“ von denen, die für den Brexit gestimmt hatten. Ein Grund hierfür ist, dass die möglichen Konsequenzen so weitreichend sind, unumkehrbar und – immer noch – ungewiss.
Ignoranz und Bigotterie
Viele junge Menschen gaben außerdem an, sie hätten das Gefühl, ihre Rechte als EU-BürgerInnen seien ihnen von der älteren Generation entrissen worden – auch von ihren eigenen Eltern und Großeltern – die nicht von den Konsequenzen betroffen sein werden. Auch Briten, die woanders in der EU wohnen oder von ihrem Status als EU-Bürger abhängig sind, sagen im Gespräch, dass sie sich betrogen fühlen von Freunden und Familien und durch deren Stimme für den Austritt.
Auf der anderen Seite wähnen viele Brexit-BefürworterInnen im anderen Lager eine urbane, liberale Elite, die weit entfernt ist von der britischen Lebensrealität und sich berechtigt fühlt, andere zu belehren oder ihnen Ignoranz und Bigotterie zu unterstellen.
Die Anti-Brexit-Proteste und Klagen vor dem Verfassungsgericht nach dem Referendum werden von vielen als der Versuch wahrgenommen, den Willen des Volkes zu untergraben. In den Augen einiger verhalten sich diejenigen, die für den Verbleib stimmten, einfach wie schlechte Verlierer.
„Die Abstimmung war keine politische Abstimmung, sondern eine persönliche“, sagt Alison, eine Brexit-Gegnerin aus Cheshire. „Meine Kinder werden davon betroffen sein. All ihre Pläne, im Ausland zu studieren oder zu arbeiten, stehen nun infrage. Jeden Tag lese ich schlechte Wirtschaftsnachrichten, ich habe große Sorgen um die Jobsituation“, sagt sie. „Ob wir wollen oder nicht, Großbritannien ist in zwei Völker geteilt.“
Ein halbes Jahr nach dem Referendum sind die Wunden noch nicht verheilt. Und für viele Familien ist der Erste Weihnachtsfeiertag der erste Tag, an dem sich die beiden Völker am Esstisch treffen werden. Viele Vorbereitungen dafür kommen ganz unbeschwert daher.
Surviving Brexit Christmas
Es gibt Weihnachtskarten und Pullover mit dem Schriftzug „All I Want for Christmas is EU“, witzige Videos und Bilder in den sozialen Medien, die Rat geben, wie der Friede über Truthahn und Christmas Pudding gewahrt werde kann („Esse deine Gefühle. Stopfe sie in die Füllung. Bedecke sie mit Bratensoße. Schluck sie runter“).
Das kürzlich erschienene E-Book „Surviving Brexit Christmas“ gibt Ratschläge, wie man den Stress begrenzen kann. Das Politmagazin The Spectator empfiehlt ein „Brexit-Partyspiel“, um das Eis zu brechen. Peter, ein standhafter Wähler für den Verbleib, wird das Thema an Weihnachten sorgsam vermeiden: Seine Verwandten sind gegen Einwanderung und stimmten deshalb für den Austritt.
Peters Versuche, mit ihnen darüber auf Familienfeiern zu sprechen, endeten bisher in Streit. Er sagt: „Man kann mit ihnen einfach keine vernünftige Diskussion über dieses Thema führen. Am Ende habe ich gesagt, dass sie nicht mehr willkommen sind [in meinem Haus].“ Seitdem bemüht er sich, die Wogen zu glätten. „Nachdem ich mit anderen über meine Situation gesprochen habe, glaube ich, der Schlüssel ist, das Thema zu umgehen. Ich werde es nicht mehr ansprechen. Es bringt nichts.“
Andere Familien haben ein ausdrückliches Verbot eingeführt, an Weihnachten über den Brexit zu sprechen. Aber nicht alle sind in der Lage, das Thema einfach vom Tisch zu wischen. Die taz sprach mit vielen, deren Familienfeiern heuer tief zerrissen sind. Rob zum Beispiel sagt, dass er mittlerweile wenig mit seinen Eltern spricht, seit sie sich nach der Abstimmung oft gestritten hätten. Er werde sie an Weihnachten nicht besuchen.
Oder Anthony: Er sagt, dass das Referendum zu ernsten Problemen zwischen seiner Familie und seiner polnischen Freundin geführt habe. Einige Verwandte hatten es auf seine Freundin mit unfreundlichen Kommentaren über deren Status im Land abgesehen.
Der Familie fernbleiben
„Ich schäme mich für mein Land und die Leute, die für den Brexit gestimmt haben, darunter auch mein Bruder und seine Familie“, sagt er. „Wir standen uns sehr nahe, aber das Referendum hat einen Keil zwischen uns getrieben. Meine Freundin wird an Weihnachten nicht in das Haus meiner Mutter kommen, wenn sie auftauchen.“
Rebecca bat auf Facebook um Rat: „Wie zur Hölle soll ich Weihnachten mit meinen Austritts-Verwandten überstehen? Diese dumme Abstimmung hat so viel Schaden angerichtet, dass unsere Beziehung kaum noch zu retten ist.“ Sie erhielt mehr als 700 Antworten. Manche sagten ihr, sie solle einfach ihrer Familie fernbleiben.
Andere schlugen vor, das Fest zur Versöhnung zu nutzen. „Das ist doch die Zeit des guten Willens“, erinnerte sie jemand. „Sag allen, das Thema stehe nicht mehr zur Diskussion und genießt die Zeit als Familie. Wir werden alle lang genug tot sein, also verschwende nicht die kurze Zeit mit Meinungsverschiedenheiten über Politik und Religion.“
„Versuch Frieden zu schließen“, sagt ein anderer, „Familie und Freunde sind doch wichtiger als das ganze Zeug.“ Wenn das nicht möglich ist, dann, schlägt jemand anderes vor, „Verwandle den Raum in ein EU-Schlachtfeld und lass den Kampf beginnen.“
Übersetzung Amna Franzke
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