Weg zum Medizinstudium: Land macht Ärztin
Lara Engelke ist über Niedersachsens Landarztprogramm ins Medizinstudium gekommen. Abitur hatte sie keines, aber Berufserfahrung als Krankenschwester.
Empfohlener externer Inhalt
Unter acht Cousinen und Cousins ist sie die Einzige, die studiert. Und Lara Engelke hat noch nicht einmal Abitur. Dennoch ist sie seit dem Wintersemester an der medizinischen Hochschule Hannover eingeschrieben, als eine von 60 Studierenden im Landarzt-Programm des Landes Niedersachsen an den Universitäten Oldenburg, Göttingen und Hannover.
Die Studierenden haben ihren Studienplatz nicht aufgrund ihrer Abiturnote bekommen, sondern haben ein zweistufiges Auswahlverfahren bestanden. Und sie haben sich verpflichtet, nach Abschluss ihrer Ausbildung zehn Jahre als Hausärztin in einer besonders unterversorgten Region tätig zu sein. Wer dagegen verstößt, muss eine Vertragsstrafe von 250.000 Euro zahlen.
Deshalb sitzt die 27-Jährige jetzt an einem Freitagmittag Anfang Februar im ersten Stock des „J2“, dem „vorklinischen Lehrgebäude“ auf dem Campus der Universitätsklinik im Osten Hannovers und erzählt von ihrem Weg ins Studium. Wir sitzen in einem hellen Gang des Betonbaus aus den späten 60er-Jahren, Fenster zu beiden Seiten, ein paar Meter weiter steht eine Vitrine, in der präparierte Körperteile in Formaldehyd ausgestellt sind.
Lara Engelke hat bereits zwei Stunden Vorlesung Physiologie hinter sich. Alles an ihr wirkt ruhig, freundlich und entspannt, sie hört aufmerksam zu, ihre Antworten klingen sowohl spontan als auch überlegt. Sie hat Lust auf dieses Gespräch, möchte anderen Mut machen und ein kleines bisschen freut sie sich auf die Reaktion ehemaliger Lehrer:innen, die ihr gesagt hatten: „Das schaffst du nie.“
Unbesetzt waren landesweit 523 Hausarzt-Sitze nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) am 1. Juli 2023. Für diese Praxen werden neue Inhaber gesucht.
22 unbesetzte Hausarzt-Sitze gibt es in Salzgitter, 18 in Delmenhorst, jeweils 17 in Meppen und Syke und jeweils 15 in Nordhorn und Cloppenburg.
Zuschüsse zwischen 60.000 und 75.000 Euro kann laut KVN beantragen, wer sich dafür entscheidet, einen Hausarztsitz in bestimmten unterversorgten Regionen zu übernehmen. Für Praxen in Bremerhaven und Syke wird den Ärzten sogar eine Umsatzgarantie in Aussicht gestellt.
Mehr Studienplätze im Fach Medizin fordert sowohl die KVN als auch die Ärztekammer schon lange vom Land. Die von der Landesregierung eingeführte Landarztquote werde die Situation kurzfristig nicht verbessern, hieß es von der KVN. Erst nach dem Jahr 2035 sei langsam mit spürbaren Effekten zu rechnen. (dpa)
Eine „grottenschlechte“ Schülerin sei sie gewesen, sagt sie über sich selbst. Zum einen hätten sich die Lehrkräfte nicht bemüht, ihr Interesse zu wecken. „Die hatten mich als faul abgestempelt.“ Zum anderen sei sie in ihrem Hobby Reiten aufgegangen, noch immer hat sie ein eigenes Pferd. „Das war mir wichtiger.“ Deshalb war sie auch froh, dass ihre Eltern dem Rat der Grundschule gefolgt waren und sie an der Realschule im Speckgürtel der niedersächsischen Landeshauptstadt angemeldet hatten. „Meine Freundinnen auf dem Gymnasium haben mich beneidet, dass ich nicht so viel lernen musste.“
Während eines Schulpraktikums im Krankenhaus in der zehnten Klasse fasste sie den Entschluss, nach der Schule eine Ausbildung als Krankenpflegerin zu machen. Damals keimte das erste Mal der Gedanke Ärztin zu werden, aber das schien ihr so weit weg, dass sie die Wette mit einem Schulkameraden um einen Kasten Bier für verloren hielt.
Nach der Ausbildung wurde sie von der Klinik in Hannover übernommen, sie durfte gleich danach auf der Intensivstation arbeiten – als Ausnahme. Dabei sei sie wohl den Ärzt:innen aufgefallen. Ihre Kolleg:innen redeten ihr zu, das Abitur nachzuholen und Medizin zu studieren. „Ich bin immer total gerne mit auf Visite gegangen und habe viel gefragt.“ Ihre Wissbegier war geweckt und sie merkte: Sie will lieber die Aufgaben der Ärzt:innen erledigen, nicht nur pflegen.
2019 begann sie ihre dreijährige Online-Abiturvorbereitung auf dem Abendgymnasium und arbeitete nebenher 80 Prozent im Krankenhaus. „Es lief erst sehr gut“, erzählt sie. Sie hatte sich einen Zeitplan mit vielen Nachtdiensten zusammengestellt, und am Abend und an drei Wochentagen ging sie zur Schule beziehungsweise lernte dafür. Doch dann grätschte Corona dazwischen und sie wurde mehr auf der Station gebraucht. Aufgrund einer Notfallklausel musste sie mehr Dienste machen, aber sie hatte auch das Gefühl nicht fehlen zu dürfen. „Ich wollte Medizin studieren, um Menschen zu helfen – da konnte ich nicht zu Hause bleiben in dieser Zeit.“
Lernen konnte sie nicht mehr, ging am Ende unvorbereitet nach Nachtdiensten in Abiturprüfungen, war völlig ausgepowert. Dass sie das Abi nicht bestand und auch keine Chance hatte, in Nachprüfungen etwas wett zu machen, sei dennoch „ein Schock“ gewesen. „Mein Traum war geplatzt.“
Einen Tag später habe sie sich allerdings wieder berappelt und geguckt, wie sie doch noch Medizin studieren kann. Es gab genau zwei Möglichkeiten. Die Bundeswehr kam nicht in Frage, hier hätte sie noch weniger selbst entscheiden können und sich viel länger festlegen müssen. Dass einige Bundesländer Landarzt-Programme anbieten, wusste sie, in Niedersachsen war es in dieser Form noch neu, sie gehört zum ersten Jahrgang.
Im März läuft das nächste Bewerbungsverfahren, mit einigen Klicks landet man mittlerweile auf einer Seite, die umfassende Informationen bereit hält. Vor einem Jahr war das noch anders, erzählt Lara Engelke. Vor allem gab es keine Telefonnummer von jemandem, den oder die man hätte fragen können. „Ich telefoniere lieber als Mails zu schreiben“, sagt sie.
Schließlich hatte sie im Sommer 2022 bei der Kassenärztlichen Vereinigung in Niedersachsen, die in das Verfahren mit eingebunden ist, jemanden an der Strippe. Und schämte sich, erinnert sie sich. „Ich dachte, die lachen mich aus.“ Doch der Mitarbeiter habe sie ermutigt, sie sich einige Monate später beworben und dann am 28. Juli 2023 die Zusage erhalten. 300 hatten sich beworben, 120 waren zur Auswahlprüfung eingeladen worden, dafür entscheidend waren Berufserfahrung, Noten und das Ergebnis eines Tests für medizinische Studiengänge.
Bei der Auswahlprüfung – am 2. Juni, auch dieses Datum hat sie sofort parat – waren ihre Fachkenntnisse geprüft worden sowie ihre kommunikativen Fähigkeiten. So musste sie mit einer von einer Schauspielerin verkörperten Frau mit Laktoseintoleranz umgehen: „Die hat ohne Punkt und Komma geredet.“ Und ein fiktives Angehörigengespräch führen. „Da hat mir meine Erfahrung in der Klinik sehr geholfen.“
In der arbeitet sie neben dem Studium jetzt immer noch, aber nur 20 Stunden im Monat. Ihr Leben unterscheide sich sehr von dem ihrer jüngeren Kommiliton:innen, sagt sie, aber sie treffe sich viel mit einer Gruppe älterer Frauen, einige sind wie sie im Landarzt-Programm, darunter eine 40-jährige ehemalige Bankangestellte. Mit diesen lerne sie auch zusammen, lerne überhaupt erst einmal lernen.
Professionelles Coaching
Die ersten schriftlichen Prüfungen habe sie so bestanden, in den mündlichen sei sie noch sehr nervös, Reaktionen der Prüfer:innen brächten sie schnell durcheinander. Die Angst, es wieder nicht zu schaffen, sei anfangs so groß gewesen, dass sie professionelles Coaching genommen habe.
18 der 320 Studierenden im jetzt zweiten Semester Humanmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover wurden wie Lara Engelke über die Landarztquote aufgenommen. Sie kenne nicht alle, sagt sie. Dass auf sie herabgeschaut würde als Studierende zweiter Klasse, habe sie so nicht wahrgenommen. Auch nicht, dass angehende Hausärzt:innen ein schlechteres Ansehen hätten als Fachärzt:innen. Davon habe sie gehört, verstehe es aber nicht. „Sie sind doch genau so hoch qualifiziert und total wichtig in der Versorgung.“
Sorge, dass sie sich langweilen könnte als Hausärztin, habe sie nicht. Dafür sei die Tätigkeit zu vielfältig. Und: man könne ja immer weiter lernen. Lara Engelke denkt schon an spätere Fortbildungen in Palliativmedizin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen