Forscher über fehlende Studienplätze: „Die Politik wälzt die Kosten ab“
Rund 7.500 Deutsche studieren Medizin im Ausland, hat Bildungsforscher Gero Federkeil errechnet. Er fordert, dass die Politik sich stärker um diese Gruppe kümmert.
taz: Herr Federkeil, Humanmedizin ist einer der beliebtesten Studiengänge in Deutschland. Aktuell bewerben sich im Jahr insgesamt rund 50.000 Personen – genommen werden aber nur um die 12.000. Was machen die, die leer ausgehen?
Gero Federkeil: Die meisten abgelehnten Bewerberinnen und Bewerber warten und hoffen, über ein Nachrückverfahren noch einen Platz zu bekommen. Wir wissen mittlerweile aber, dass viele, die den NC in Deutschland nicht schaffen, auch ins Ausland gehen und dort Medizin studieren.
Ihren Berechnungen zufolge sind das derzeit rund 7.500 Personen. Traditionell gehen sie für das Studium nach Österreich, weil da Deutsch gesprochen wird und keine Studiengebühren fällig sind. Welche anderen Länder sind noch beliebt?
In der Tat ist Österreich am beliebtesten, aus den Gründen, die Sie genannt haben. Fast ein Drittel der Deutschen, die Medizin im Ausland studieren, studieren dort. Fast genau so viele gehen nach Ungarn, etwa 2.000. Danach folgen Polen mit 800 und Tschechien, Großbritannien und Litauen mit je knapp über 400. Auch Italien ist für deutsche Medizinstudenten, nach allem, was wir hören, attraktiv. Da gibt es aber leider keine Zahlen.
Wer in Deutschland studieren möchte, muss in der Regel einen Abischnitt von 1,0 haben, auch wenn die Unis mittlerweile auch andere Kriterien wie Berufserfahrung berücksichtigen. Halten Sie das Auswahlverfahren für fair?
Es ist zumindest fairer als das vorherige Modell, als nur der Notenschnitt gezählt hat. Und ich finde es begrüßenswert, dass mittlerweile auch Personen ohne Abitur Arzt oder Ärztin werden können und das Bildungssystem hier durchlässiger geworden ist. Die Kehrseite der aktuellen Zulassungsbeschränkung ist aber, dass viele Studierende im Ausland teils sehr hohe Studiengebühren zahlen müssen. Zum Beispiel an Universitäten in Südosteuropa, die spezielle Studiengänge für internationale Studierende anbieten. Da sind teils bis zu 20.000 Euro im Jahr fällig. Das können sich dann nur finanziell bessergestellte Familien leisten.
61, leitet beim Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) den Bereich Internationale Projekte und ist Co-Autor der CHE-Studie Medizinstudium in Europa 2024.
Die Politik könnte doch mehr Personen für ein Studium zulassen. Dadurch würde der Weg in den Beruf sozial gerechter – vor allem wäre das auch sinnvoll bei den aktuellen Prognosen. Bis 2035 fehlen in Deutschland laut Robert Bosch Stiftung rund 11.000 Hausärzte.
Die Zahl der Studienplätze steigt ja sogar, so sind in den vergangenen Jahren einige neue Medizin-Fakultäten entstanden, etwa in Oldenburg, Bielefeld oder aktuell in Cottbus. Aber insgesamt ist der Ausbau überschaubar. Medizinstudienplätze sind natürlich auch sehr teuer, vor allem mit den Laboren und den Ausbildungsphasen in der Klinik. Die hohen Kosten sind mit Sicherheit ein entscheidender Punkt, warum die Politik beim Ausbau der Studienplätze eher zurückhaltend ist.
Kritiker:innen entgegnen, die Investitionen würden sich doppelt und dreifach rechnen. Die Patient:innen hätten eine bessere Versorgung, das Personal würde insgesamt entlastet und der Staat profitiert letztlich auch über höhere Steuereinnahmen.
Da setzen Sie ein sehr rationales Verständnis von Politik voraus (lacht). Bei dem Thema sind aber nun mal mehrere Akteure mit sehr unterschiedlichen Interessen beteiligt: Das Bundesgesundheitsministerium ist für die Versorgung mit Ärztinnen und Ärzten zuständig. Die Länder wiederum sind für die Studienplätze und die Finanzierung verantwortlich. Dort müssen sich dann Wissenschafts- und Finanzministerium einigen. Dieses Dreieck erschwert vieles.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sieht beim Fachkräftemangel die Länder in der Pflicht und fordert regelmäßig 5.000 zusätzliche Studienplätze. Wären damit die Personalprobleme gelöst?
Ich fürchte nein. Es ist zwar, denke ich, unstrittig, dass gerade zu Beginn der Ausbildung Studienplätze fehlen. Der Mangel entsteht aber auch an anderen Stellen. So arbeiten längst nicht alle, die hierzulande Medizin studieren, anschließend auch in Deutschland als Arzt. Einige gehen ins Ausland, beispielsweise nach Norwegen oder Schweden, wo die Arbeitsbedingungen deutlich besser sind. Hinzu kommt, dass in den letzten Jahren immer mehr Praxisärzte in Teilzeit arbeiten. Auch dadurch kann es zu einer eingeschränkten Versorgung kommen. Die fehlenden Studienplätze sind also nur ein Grund unter mehreren, dass wir einen Mangel haben.
Aktuell halten vor allem auch ausländische Ärzte unser Gesundheitssystem am Laufen. Deren Zahl hat sich laut Bundesärztekammer seit 2013 auf mehr als 60.000 verdoppelt.
Das ist natürlich einerseits gut, dass es diese Ärzte und Ärztinnen gibt. Ich habe aber auch gehört, dass es teils wegen fehlender Sprachkenntnisse Probleme geben soll. Ob das wirklich stimmt, kann ich nicht beurteilen. Die Zunahme ausländischer Ärztinnen und Ärzte ist aber ein Indiz dafür, dass wir selbst zu wenige ausbilden. Da sind wir als Gesellschaft gefragt, wie viel wir für die Ausbildung von künftigen Ärztinnen und Ärzte ausgeben wollen.
Eine zynische Antwort wäre: Wir schicken einen Teil sogar ins Ausland, um uns auch noch die Ausbildungskosten zu sparen.
Das kann man so sehen. De facto wälzt die Politik die Kosten, die sie selbst nicht bereit ist in Studienplätze zu investieren, auf die Studierenden ab. Wir wissen, dass die überwiegende Mehrheit dieser Studierenden ja wegen des hohen NC ins Ausland geht. Man kann also davon ausgehen, dass sich die meisten über einen Studienplatz in Deutschland gefreut hätten.
Ist eigentlich bekannt, was aus den NC-Flüchtlingen wird? Kommen die alle nach Deutschland zurück und arbeiten dann hier als Mediziner:innen?
Darüber gibt es keine Daten. Wir hatten gehofft, über die Landesbehörden, die für die Anerkennung der Abschlüsse zuständig sind, hier selbst einen Überblick geben zu können. Aber die Hälfte der Bundesländer hat uns nicht mal auf unsere Anfrage geantwortet. Und von der anderen Hälfte hatten auch nicht alle dazu Zahlen. Überhaupt scheinen die betroffenen Studierenden in der Planung der Politik keine Rolle zu spielen. Wir am Centrum für Hochschulentwicklung waren dann auch die Ersten, die gezeigt haben, dass das nicht nur einige wenige sind, sondern dass jeder zehnte bis zwölfte Medizinstudent im Ausland studiert.
Was sollte Ihrer Meinung nach nun passieren?
Ich fände es gut, wenn die Politik diese große Unbekannte mit Hilfe einer Studie ausräumt. Dann wäre klarer, ob es beispielsweise Probleme beim Einstieg ins deutsche Gesundheitswesen gibt oder welche Rolle die Personen beim Fachkräftemangel spielen können. Diese Fragen wollten wir jetzt eigentlich im Rahmen einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung mit den politischen Akteuren debattieren. Die aber wollten überwiegend nicht an dieser Debatte teilnehmen.
Worüber die Politik gerne redet, ist die sogenannte Landarztquote. Also das Angebot, einen Teil der Studienplätze freizuhalten für Personen, die sich künftig für zehn Jahre Dienst auf dem Land verpflichten. Viele Plätze sind das dann aber oft nicht. In Brandenburg beispielsweise 18 pro Semester. Klingt nach Tropfen auf den heißen Stein.
Das stimmt. Auch wenn es mittlerweile ähnliche Programme mit ausländischen Hochschulen gibt. In Sachsen etwa übernimmt die Landesärztekammer für eine kleine Zahl von Deutschen, die an der Universität Pécs in Ungarn studieren, die Studiengebühren, wenn sie sich verpflichten, nach dem Studium in Sachsen außerhalb von Leipzig und Dresden zu arbeiten. Dennoch wird die Landarztquote immer nur sehr punktuell helfen können. Zumal sich durch die Landarztquote ja nicht die Gesamtzahl der Medizinabsolvent:innen erhöht.
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