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Warum die Briten für den Brexit stimmtenWir befanden uns wieder im Krieg

Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum Menschen in Großbritannien den Brexit befürworten. Eine historische Spurensuche.

Die EU nicht mit Fußen treten: Brexit-Gegner*innen demonstrieren in London (Archivbild) Foto: dpa

Kurz vor dem Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 drückte mir jemand einen Flyer in die Hand, der amtlich aussah. „Die Wahrscheinlichkeit, dass deine Straße für den Austritt stimmen wird, ist die höchste in ganz England“ stand da in Großbuchstaben. Die Menschen in meiner Nachbarschaft haben trotzdem mehrheitlich für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt. „78 Millionen Türken“ seien kurz davor, der EU beizutreten, warnte der Flyer noch. Auf einer Landkarte war die Türkei knallrot am Rande Europas eingezeichnet. Die Nachbarstaaten wurden Pink hervorgehoben.

Die Message war klar: Bliebe Großbritannien in der EU, würden Muslime unser Land überschwemmen. Das hatte mit rationaler Abwägung von Vor- und Nachteilen eines Verbleibs nichts zu tun. Hier wurde das Gefühl von Bedrohung geschürt. Wir befanden uns wieder im Krieg.

1945 fing Europa an, die Nachkriegszeit zu gestalten. Intensiv wurde darüber nachgedacht, wie die Demokratisierung der Besiegten aussehen sollte, aber niemand machte sich Gedanken darüber, wie sich die Demokratie in den Siegerländern entwickelt. In Westdeutschland wurden die Grundwerte, an die sich ein Staat zu halten hat, im Grundgesetz verankert. Diese können am besten mit einem englischen Wort zusammengefasst werden: Fairness.

Von je her saßen im britischen Oberhaus einzig Bischöfe und Adlige, die ihre Sitze erbten. Erst 1958 wurde die britische Verfassung geändert, und die Königin konnte nun Zivilpersonen in den Adelsstand erheben und ihnen so ein lebenslanges Recht auf Zugehörigkeit zum Parlament sichern. Kein Wunder, dass die britische Oberklasse denkt, ihr Führungsanspruch sei gottgegeben. Großbritannien hat keine schriftlich verankerte Verfassung, sondern nur Übereinkünfte, die allzu flexibel sind, wie die endlos hinausgezögerten Abstimmungen im Brexit-Durcheinander gezeigt haben.

Nicht Monty Python

Das geltende Mehrheitswahlrecht führte bei der Wahl 2017 dazu, dass die Scottish National Party (SNP) für 3 Prozent der Stimmen 35 Sitze bekam und die Liberal Democrats für 7,4 Prozent nur 12. Dass die Tories noch an der Macht sind, liegt an den 10 Sitzen der Nord­iri­schen Democratic Unionist Party (DUP), mit der die radikalprotestantische und EU-skeptische Partei eine Minderheitsregierung unter Premierministerin Theresa May toleriert. Der auf die DUP fallende Stimmenanteil betrug nur 0,9 Prozent. Außenstehende entschuldigen die Verhältnisse gern mit der britischen Exzentrik. Aber hinter diesen Machenschaften steckt der Machtpolitiker Boris Johnson und nicht die Komikergruppe Monty Python.

Adam Ganz

Adam Ganz ist Drehbuchautor und Dozent am Department of Media Arts der Royal-Holloway-Universität, London. Seine Vorfahren sind vor den Nazis nach England geflohen.

In Deutschland sorgen demokratische Strukturen und der Wettbewerb unter den Bundesländern dafür, dass die Hauptstadt Berlin das Land nicht so stark dominieren kann, wie London Großbritannien dominiert. Schottland und Wales haben inzwischen Regionalparlamente, doch für die meisten Briten existiert nur Westminster. Die viel zitierte englische Exzentrik lenkt davon ab, dass das Gros der Bevölkerung eine Demokratie erlebt, die überhaupt nicht funktioniert. Als Boris Johnson Brüsseler Korrespondent für die Tageszeitung Telegraph war, begann er damit, sich über EU-Richtlinien lustig zu machen. Daraufhin machten die Briten die EU zum Sündenbock für die demokratischen Defizite in Großbritannien.

Die viel zitierte englische Exzentrik lenkt davon ab, dass das Gros der Bevölkerung eine Demokratie erlebt, die überhaupt nicht funktioniert

In den wohlhabenden Pendlerstädten rund um London hat Theresa May ihren Wahlkreis. Dort wurde mit großer Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt, und man ist überzeugt, wie der Kolonialist Cecil Rhodes einst postulierte, als Engländer habe man „den Hauptgewinn in der Lotterie des Lebens gewonnen“.

Ausverkauf am Stadtrand

In den anderen Gegenden, die für „Leave“ votierten, ist die Lage anders. Dort wurde die Infrastruktur vernachlässigt, Bibliotheken wurden geschlossen. Öffentlicher Nahverkehr ist teuer oder nicht existent. Bezahlbarer Wohnraum ist rar. Um die Basisversorgung der Gemeinden aufrechtzuerhalten, sahen sich Gemeinderäte gezwungen, alles zu verkaufen, was nicht niet- und nagelfest war – Spielplätze, Gemeindezentren, Jugendclubs.

Eine Freundin aus dem nord­englischen Wakefield erzählte mir, dort hätten alle BürgerInnen für den EU-Austritt gestimmt. „Als würde man den Computer neu starten, nachdem die sonstigen Möglichkeiten der Fehlerbehebung nicht geklappt haben.“ Die Wakefielder stimmen traditionell für Labour. Aus der 300.000-Einwohner-Stadt ist jegliche städtische Infrastruktur verschwunden. Die Polizeistation hat 2014 dichtgemacht. Die nächste Wache ist 30 Minuten entfernt. Die BürgerInnen sind an einschneidende Sparmaßnahmen längst gewöhnt – Nachteile, die der Brexit mit sich bringen könnte, sind hier schon Alltag.

Auch Plymouth, ein Marinestützpunkt 200 Meilen westlich von London, musste starke Etatkürzungen verkraften. Die Vernachlässigung zeigt sich hier aber in anderer Form. Ein Freund erzählte mir von einer Reise in die Bretagne, die er für eine Schulklasse aus einem ärmeren Stadtviertel organisiert hatte. Die Kinder würden per Schiff nach Frankreich fahren. Einige der Teenager waren besorgt. Nicht weil sie kein Französisch sprachen. Sie waren sich unsicher, ob sie es auch schaffen würden, bis ans andere Ufer zu rudern. Obwohl die Fähre in Sichtweite der Schule ablegt, waren viele Kids noch nie am Anleger der nicht mal zwei Kilometer entfernten Küste gewesen.

Nationale Mythen

Plymouth und Wakefield – beide Städte haben für „Leave“ gestimmt – beide Kommunen haben das Gefühl für Gemeinsinn verloren. Aber für viele BürgerInnen in diesem alles andere als Vereinigten Königreich bedeutete das Brexit-Referendum: Sie konnten sich erstmals sicher sein, dass ihre Stimme wirklich zählt. Die Menschen haben aus unterschiedlichen Motiven für „Leave“ gestimmt. Der Politikwissenschaftler Will Davies formulierte es in einem Essay: „Der Vorteil der ‚Leave‘-Fraktion war, dass sie nicht konkret benennen musste, was da genau verlassen wird.“ Großbritannien war es möglich, seine Mythen zu konservieren, weil es nie gezwungen war, seine Geschichte zu hinterfragen.

taz am wochenende vom 23./24. März

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Zwei Mythen sind besonders beliebt: Großbritannien genießt erstens nach wie vor großes Ansehen auf der Welt. Selbst die Völker, die wir erobert haben, respektieren uns für die Tatsache, dass wir ihnen die Eisenbahn und das Cricketspiel gebracht haben. Zweitens: Unser Erfolg ist verdient, denn er resultiert aus harter Arbeit und Erfindergeist und nicht aus den Rohstoffen und dem Reichtum, den wir den Kolonien abgepresst haben (oder den Gütern, die sie uns zwangsweise abkaufen mussten).

Weil die Kolonialverbrechen der Briten nie aufgearbeitet wurden, hält sich die Mär von der heilbringenden Kolonialmacht Großbritannien. Wie Sklaverei und Empire mit dem Status Großbritanniens zusammenhängen, das gehört bis heute nicht zur nationalen Geschichtsauffassung. Um den Brexit zu verstehen, sollte man Rudyard Kipling lesen. Das Werk des Kolo­nialschriftstellers ist durchtränkt von der Angst vor marodierenden Horden, auf die auch der eingangs erwähnte Flyer zielt.

Irrtümliches Geschichtsbewusstsein

Vor dem Referendum wurden Versuche, die britische Geschichte differenziert zu erzählen, von der ultranationalistisch agierenden Konservativen Partei aufs Korn genommen. 2014 warf der damalige Bildungsminister und spätere „Leave“-Aktivist Michael Gove dem renommierten Historiker Richard J. Evans vor, unpatriotisch zu sein, und behauptete: „Linke Geschichtsschreibung will Großbritannien und seine Führer kleinreden. Trotz der Fehler ist die Rolle Großbritanniens in der Welt geprägt von Noblesse und Mut.“

Gove verteidigt den gerechtfertigten Kriegseintritt der Engländer im Ersten Weltkrieg auf seine Weise: „Der skrupellose Sozialdarwinismus der deutschen Eliten, die gnadenlose Besatzungspolitik, ihre aggressiven expansionistischen Kriegsziele und ihre Verachtung jeglicher internationaler Ordnung“ mussten zurückgeschlagen werden. Das ist zweifelsohne richtig. Nur hat sich auch Großbritannien dieser Vergehen schuldig gemacht – allerdings über einen sehr viel längeren Zeitraum. Gove will sich dies nicht eingestehen. Er geht sogar noch weiter. „Je genauer wir jeden einzelnen Aspekt des [Ersten] Weltkriegs beleuchten, desto mehr Grund haben wir, uns bei unseren Vorfahren zu bedanken.“

Zur Zeit des Referendums gab es zahlreiche sentimentale Gedenkveranstaltungen zum Ersten Weltkrieg. Es ist diese geschichtsrevisionistische Stimmungslage, in der für den Brexit gestimmt wurde. Die Wahrnehmung der jüngeren britischen Geschichte als ein fortdauernder Kampf gegen die Deutschen wurde von vielen „Leave“-Anhängern als Grund für ihre EU-Ablehnung genannt.

Fiktionalisierter Krieg gegen die Deutschen

Das be­inhal­tete auch die fehlgeleitete Überzeugung, dass die EU einfach nur das von den Nationalsozialisten betriebene Projekt eines völkischen Europa weiterverfolgt. Führende Konservative wie Boris Johnson und Jeremy Hunt haben diesen hanebüchenen Vergleich gezogen. Die selbst ernannten Oberfeldwebel aus dem reichen Süden und die Arbeiterklasse aus den verrottenden Industrieregionen konnten so ihren fiktionalisierten Krieg gegen die Deutschen noch einmal führen.

Deutsche wissen aus eigener Erfahrung, wie ­gefährlich es ist, unbeirrt an Mythen zu glauben. Als sie endlich gezwungen wurden, ihre ­Mythen zu hinterfragen, wurden sie gewahr, dass das Land ein Grundgesetz braucht. Mehr als 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs durften die Briten einmal mehr ihre spe­zielle Selbstwahrnehmung zelebrieren – ungeachtet ihres durch Exzentrik verschleierten demokratischen Defizits fordern sie Extrawürste ein. Der Brexit wird sie erstmals zwingen, die Konsequenzen ihres Tuns zu akzeptieren. Doch zunächst wird die britische Presse ihnen weismachen, dass grundsätzlich nur die anderen böse sind. Beseelt von diesem Geist, träumen die Briten davon, den Deutschen, die in ihrer Wahnvorstellung die EU kontrollieren, die Macht wieder abzunehmen.

Eine Lehre aus dem Brexit muss sein, dass England die Probleme löst, die diese Krise hervorgerufen hat. Das bedeutet, dass wir eine funktionierende Demokratie benötigen. Der erste Schritt dazu wäre ein britisches Grundgesetz.

Übersetzung aus dem Englischen von Sylvia Prahl

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24 Kommentare

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  • 9G
    94778 (Profil gelöscht)

    Ist die Ansicht dass die EU nun das Dach der "Festung Europa" ist, vielleicht doch nicht so hanebüchen?



    Ansonsten. Schöner Kommentar

  • Liebe TAZ, gibt es einen Link zum englischen Original?



    Würde diesen Link gerne mit freunden in der UK teilen und deren Reaktion dazu hören...



    Danke!

    • 9G
      94778 (Profil gelöscht)
      @Mainzerin:

      Liebe Taz

      Geht mir ebenso. Haben Sie einen Link n englisch?



      Den möchte ich mal paar englischen Brexeteers in meinem Bekanntenkrris schicken.

  • Mowgli Meine Antwort stand ganz oben auf der Liste

  • Dies ist nicht in der englischen Version. Er beabsichtigte, - das Problem durch die Einführung einer schriftlichen Verfassung zu lösen.



    Er ist möglicherweise noch zu jung, um zu erkennen, dass schriftliche Verfassungen oft sehr schwer zu aktualisieren sind. Nehmen Sie das amerikanische Recht, um Waffen zu tragen. Es wurde für ihre Milizen geschrieben, Musketen zu tragen, um die Briten abzuwehren. Es war nicht beabsichtigt, dass jeder das Recht hatte, AK47 zu verwenden

    • @Paul FitzPatrick:

      Nur weil es schwierig ist, eine schriftliche Verfassung einzuführen, muss man das ja nicht gleich von vorne herein nicht versuchen - sonst ändert sich doch nie etwas!



      Also: Glückwunsch zum mutigen ersten Schritt! Und viel Durchhaltevermögen!

  • Adam Ganz hat diesen Artikel auf Twitter gelobt und eine englische Kopie zur Verfügung gestellt. Es ist Müll in beiden Sprachen.

    • @Paul FitzPatrick:

      Was ist für Sie der Müll?

      • @rero:

        RERO. Der Titel behauptet, dass das Folgende historische Hinweise darauf gibt, warum Großbritannien für das Verlassen gestimmt hat. Das deutet darauf hin



        1) Einwanderung war ein wesentlicher Faktor. (es war ein kleiner Faktor)



        2) Es gibt ein unfaires politisches System, das von der Elite regiert wird. (Das House of Commons wird gewählt. Von einem System, das vom Volk durch Referendum 2011 ausgewählt wurde)



        3) Die Wahl wurde durch Armut und Sparpolitik getrieben. (Ich glaube, niemand hat die EU für Sparmaßnahmen verantwortlich gemacht. Dies war eine Folge des globalen Zusammenbruchs von 2018. Die ehemalige britische Regierung hatte unsere Schulden auf ein ernstes Maß angehoben.)



        4) Der Grund war, den weltweiten Ruf des UKs zu verbessern. (um der wachsenden Ungleichheit der EU zu entgehen und unsere Souveränität wiederzuerlangen.)



        5) Er glaubt, dass die Briten eine sehr verzerrte Sicht auf unsere Geschichte haben. (Nicht mehr als jedes Land hat eine verzerrte Sicht auf sich.)



        6) Er spielt auf die Vermutung an, dass das britische Volk will, weil es die Deutschen immer noch als Nazis sieht, die Europa erobern wollen. (Absoluter Müll)



        7) Er schlägt vor, dass die britische Presse die Deutschen als böse darstellt (keine Beweise von guten Journalisten.)



        8) Er glaubt, dass eine schriftliche Verfassung alle Probleme lösen wird. (Sie sind schwer zu ändern, wenn sich die Zeit ändert)

        Der einzig vernünftige Beitrag in diesem Artikel ist der Vorschlag, dass wir eine funktionierende Demokratie brauchen, aber auch diese wurde an die oben genannten Punkte angepasst. In Wahrheit funktioniert die britische Demokratie besser als viele. Es hat Flexibilität, die eine schriftliche Verfassung entfernen kann. Die Demokratie ist in Großbritannien noch nicht zusammengebrochen. Die Bedienung des Unterhauses hat. Dies ist nicht überraschend angesichts der Division in Großbritannien wegen des Brexit aufgrund des engen Ergebnisses.

  • Sie könnten an Bandbreite sparen, wenn Sie diesen Müll nicht drucken. "Adam Full" ist offensichtlich ein sehr verletzter "Remainer".

    Großbritannien hat immer Migranten aller Religionen ein Zuhause geboten. Ja, einige aus dem Commonwealth! Wir hatten keine Angst, dass die gesamte Bevölkerung der Türkei in die EU oder nach Großbritannien eintritt. Oh ... Harfen zurück zum Krieg und zur Aristokratie wieder !! ... Alle alten Nachrichten.Intelligente Autoren wissen, dass die aktuellen Probleme in der Parlamentarischen Kammer der einfachen Leute liegen. "The Commons".



    Abstimmungssystem .. Alternative im 2011 UK-Referendum abgelehnt. Die Wahl der Leute.

    Die Briten gaben die Sklaverei zu und machten es 1833 illegal. Natürlich hatte die koloniale Vergangenheit Deutschlands keinen Anteil daran ...? Mythos! Lesen Sie das deutsche Engagement in der transatlantischen Sklaverei: Eine Einführung - Heike Raphael-Maximillian-Universität Würzburg. oder



    Strategische Implikationen: Sklaverei, Kolonialpolitik und Religion in Deutsch-Ostafrika, 1885-1918-Jörg Haustein.

    Britische Exzentrizität! Okay, ich werde es ihm geben ... besser ich bin exzentrisch als dumm, als dieser Artikel ihn erscheinen lässt.

  • Im Laufe der Zeit hat sich auch bei mir das Gefühl vertieft, dass der Brexitprozess nur in einer Hinsicht sinnvoll ist: Nämlich als Erkenntnisprozess, der die erwähnten Mythen als absurd entlarvt und die Brexiteers dazu zwingt, ihre Projektionen und Feindbilder zurückzunehmen.



    Natürlich verdient z.B. die EU viel Kritik, auch die deutsche Finanzpolitik, aber der Artikel zeigt, auf welchen Illusionen der Brexit bei vielen basierte.



    Eine andere Frage hilft ebenfalls weiter: Welche großen Transformationen haben seit 1945 in den wichtigsten Mitgliedsstaaten der EU stattgefunden, und was sagen diese über das jeweilige nationale Selbstverständnis aus?



    Zur UK fallen mir hauptsächlich ein, a) die Einführung des NHS und b) die De-Industrialisierung des Landes unter Thatcher.

  • Das haben sie nun von ihrem angeblich endgültigen Sieg, die anglophilen (Neo-)Konservativen! Wenn erst einmal alle Gegner besiegt sind, gib es niemanden mehr, den man verantwortlich machen kann, wenn die eigene verquere Weltanschauung nicht funktioniert. Das muss ganz schön frustrierend sein. Ich meine: Was ist man denn für ein endgültiger Sieger, wenn einem jeder x-beliebige Besiegte den Lack ankratzen kann?

    Im Moment ist da noch die EU, die man zerlegen kann zur Strafe für die eigenen Versäumnisse. Sollte die aber irgendwann auch nicht mehr sein, weil die gesalbten Lords und Ladys sie zerschossen haben, werden die kostümierten Neocons vermutlich wieder auf die Nationalstaaten zu sprechen kommen. Dann sind die Erbfeinde vermutlich wieder up to date.

    Eigene Fehler zugeben, kommt für echte Konservative schließlich gar nicht in die Tüte. Fehler zuzugeben hieße ja, einen Wunsch nach Veränderung zu entwickeln. Solche Wünsche aber liegt schlicht nicht in der Natur konservativer Menschen. Wären sie bereit für Veränderungen, wären sie schließlich nicht länger (Neo-)Konservativ. Sie könnten aufhören zu lügen und sich schlicht Progressive nennen.

    Merke: Womöglich wäre es nützlich gewesen, eine staatliche Freundschaft nicht nur zwischen Deutschland und Frankreich zu verordnen, sondern auch zwischen Deutschland und Großbritannien. Wobei - zwischen Deutschland und den USA gab es so eins Freundschaft ja. Es gibt sie stellenweise sogar immer noch, auch wenn sie leicht gelitten hat zuletzt. Genützt hat sie offenbar wenig. Der richtig Starke ist am mutigsten wohl doch immer noch alleine.

  • Zitat: „Eine Lehre aus dem Brexit muss sein, dass England die Probleme löst, die diese Krise hervorgerufen hat.“

    Fast möchte ich auf einen Übersetzungsfehler wetten. Könnte mir vorstellen, dass es im Original heißt: „… die Probleme löst, die diese Krise hervorgerufen HABEN.“ Die fehlende Demokratie war schließlich schon vor dem Brexit-Desaster ein Problem.

  • „Ich jedenfalls habe noch keine pro-Brexit-Argumente finden können.“

    Ich suche auch immer noch erfolglos. Es scheint keine zu geben.

  • Demokratische Entscheidungen sind sehr komplex. In den Medien sieht man das Bedürfnis, den Brexit als idiotisch und fehlgeleitet darzustellen. Ich jedenfalls habe noch keine pro-Brexit-Argumente finden können. Offenbar hat man Angst, die Deutschen könnten diese Argumente für sich selbst auch abwägen. In ganz Europa ist die Situation nicht wirklich anders als in Britannien, die Bevölkerung gespalten, die Länder kaum regierbar. Auch Deutschland hat lange mit der Regierungsbildung gehadert. Dass es eine dumme Broschüre gegeben hat, beweist nicht, dass alle Brexiteers auf sie hereingefallen sind. Für mich ist das Argument der Verlusts demokratischer Kontrolle, der in einem größeren Verband zwangsläufig ist, in Zeiten, die für viele Wähler nicht so gut scheinen, das Wichtigste. Die je nach Sicht neoliberalen Reformen oder die Opfer der Globalisierung führen zu dem Wunsch, das Schicksal zumindest wieder selbst verwalten zu können.

    • @EricB:

      "Für mich ist das Argument der Verlusts demokratischer Kontrolle, der in einem größeren Verband zwangsläufig ist, in Zeiten, die für viele Wähler nicht so gut scheinen, das Wichtigste." Dieser Verlust hat aber bereits eine Ebene darunter stattgefunden. Die vom UK nach Europa entsandten Abgeordneten, also die vom britischen Volk gewählten, haben den meisten europäischen Entscheidungen zugestimmt. Das britische Parlament hat diese Entscheidungen übernommen. Das jetzt der EU vorzuwerfen, ist scheinheilig. Ich habe starke Zweifel, dass es im UK nach dem Brexit besser wird, denn im Parlament sitzen immer noch die selben Knalltüten, die schon die Eisenbahn und das Gesundheitssystem versaut haben. Das Schöne allerdings ist, dass man den Sündenbock abgeschafft hat. Jetzt müssen die bitischen Parlamentarier selbst die Verantwortung für ihre Fehlentscheidungen nehmen, statt immer mit dem Finger auf die böse EU zeigen zu können.

    • @EricB:

      Doch, einige Pro-Brexit-Argumente werden auch in Deutschland diskutiert: Dass die EU ein Projekt neoliberaler "Eliten" sei, die alle aus dem Investment-Bankgewerbe stammten, Macron eingeschlossen, und die (z.B. über Draghi) an die nationalen Steuertöpfe wollten; dass die Nationalstaaten die einzigen schon existierenden Einheiten/Organisationen seien, die sich dagegen (noch) wehren könnten; dass die entscheidenden Funktionen in der EU nicht demokratisch gewählt seien und dass die Gefahr bestehe, wenn die EU-vertiefenden Reformen, die Macron vorgeschlagen habe, durchgesetzt würden, dass die Finanzlobby das gesamte Projekt EU unrückholbar kapere. Diese Argumente haben m.E. teils sogar eine gewisse Berechtigung, und wir Pro-Europäer*innen können sie als Verbesserungsvorschläge auffassen. Das Projekt EU würde ich aber unbedingt verteidigen -- und tue es auch stets :-)

    • @EricB:

      @ERICB "Ich jedenfalls habe noch keine pro-Brexit-Argumente finden können."



      Was Wunder, es gibt schlicht keine stichhaltigen Argumente für den Brexit. Bei aller berechtigter Kritik an der EU - die aber bitteschön auch immer konstruktiv sein sollte - überwiegen doch bei weitem die Vorteile, die diese Gemeinschaft mit sich bringt.

  • In solcher Logik müßten dann noch die Regionalparlamente von Wales und Schottland aufgelöst werden, weil diese nach dem die Briten die EU aus ihrem Königreich entlassen haben, nicht mehr erforderlich seien.



    Zu dumm, dass ein Beitrag wie dieser in UK niemals Gegenstand allgemeiner Diskussion sein wird...

  • "...die fehlgeleitete Überzeugung, dass die EU einfach nur das von den Nationalsozialisten betriebene Projekt eines völkischen Europa weiterverfolgt." Hä?! Hatten die Nazis so ein Projekt? Und von den Nazis mal abgesehen: Ist ein völkisches (= nationalstaatliches?) Europa nicht genau das, was die Brit*innen anscheinend wollen?? Ich dachte, die hassen die EU, eben weil sie die Nationalstaaten in deren Kompetenzen beschneiden wollte? Ist ihnen jetzt Europa zu völkisch oder nicht völkisch genug? Ich komm nicht mehr mit.

    • @miri:

      Sie müssen den Satz ergänzen: „das von den Nationalsozialisten betriebene Projekt eines völkischen Europa unter deutscher Herrschaft“. Deshalb auch die Reminiszenzen an die Weltkriege bei den Brexiteers.

    • @miri:

      Ich Verstehe Sie sehr gut, aber keine Sorge: denn was hier NICHT zu verstehen ist, ist das Weltbild jener Briten, die die Ursachen der britischen Misere eben nicht bei sich sehen können und wollen. Das gibt fürwahr noch ein bitteres Erwachen...

  • Ja, interessant. - Noch eine Ergänzung: während es - wie in dem Artikel beschrieben - für Schottland und Wales Regional-Parlamente gibt, gibt es für England keines. Erscheint den Engländern zwar als selbstverständlich, denn sie haben ja IHR Parlament, - das aber eigentlich nicht das Parlament der Engländer sein sollte, sondern aller Brit/innen.

  • Auf den Punkt gebracht. Danke!