Warum der Fußball so gern familiär ist: Eine schrecklich normale Familie
Die Familie ist ein zentraler Bestandteil im Selbstverständnisbaukasten des Fußballs. Dabei wird natürlich nur das konservative Modell bejubelt.
N ach jedem großen Finale werden die Männer plötzlich Mensch. Das gilt besonders bei Individualsportarten oder, im Fußball, nach Elfmeterschießen. Eben noch sah man die Spieler mit eingeeisten Gesichtszügen, den Körper von Anspannung ganz steif, der Atem schwer und die Gesten entweder vage oder aggressiv. Aber kaum ist der letzte Ball geschossen, fällt alle Last von allen ab und für eine kurze Zeit sind sie ganz Empfindung: die Verlierer, indem sie kraftlos zusammensacken, das Gesicht in den Händen, den Blick in eine weite Leere. Manche weinen, manche – die gefestigteren – trösten.
Und die Gewinner, die ausgelassen jubeln, tanzen, schreien, herumrennen. Auch unter ihnen gibt es jene die weinen, aber es sind Tränen der Freude und der Rührung. Es werden die Teamkameraden geknufft und geknuddelt, es wird sich in die Arme geworfen und all das. Da schlägt das Individuum Funken.
Gleich danach erweitert sich der Kreis der Feiernden um Familienmitglieder. In angefassten Postmatch-Interviews wird den Eltern gedankt (den Müttern häufiger als den Vätern) und stolze Väter tragen ihre Kinder aufs Feld. Meist hat sich da die Ekstase aus ihren Mienen zu einer zufriedenen Glückseligkeit gedimmt.
Die Familie ist ein zentraler Bestandteil im Selbstverständnisbaukasten des Fußballs. Vereine begreifen sich als solche, Fans auch, aus den Mannschaftshotels siegreicher Teams hört man immer von familiärer Atmosphäre, Trainer sind Vaterfiguren, und kaum ein Verein kommt ohne eine treue Seele aus, die sich um alles kümmert, was sonst so liegenbleibt (also eine traditionelle Mutterrolle einnimmt, die aber nicht geschlechtlich gebunden ist, wie zum Beispiel HSV-Physiotherapeut Hermann Rieger bewies).
Fortschritt verkriecht sich
Von den meisten Vereinen kennt diese Menschen nur ein eingeweihter Kreis. Der Fußball (jeder Hochleistungssport) behauptet ein soziales Gefüge zu sein und presst es aus, bis Geld rausfällt. Er befällt diese Bereiche wie diese Ophiocordyceps-Pilze, die aus Ameisen Zombies machen. Wann immer im Hochleistungssport ein gerechter Fortschritt zur Freiheit behauptet wird, verkriecht sich dieser Fortschritt unter ein Blatt, um dort zu verenden; dann sucht sich der Hochleistungssport einen neuen Wirt. Ist der ein bisschen resilienter, sieht es vielleicht eine kurze Zeit länger so aus, als wäre alles gut.
Die Familienwerte im Hochleistungssport sind konservative, antiemanzipatorische. Dazu drei Schlaglichter: Als Anthony Martial 2018, statt irgendein Showspiel in den USA bei einer Promotour von ManU zu absolvieren, lieber abreiste, um bei der Geburt seines Kindes dabei zu sein, wurde er von seinem Trainer José Mourinho angezählt und mit einer Strafzahlung von 180.000 Pfund belegt. Das entsprach einem halben Monatsgehalt.
Bei dieser WM wurde Sofiane Boufal gefeiert, weil er auf dem Rasen mit seiner Mutter tanzte. Nicht gefeiert wurde Raheem Sterling, der während des Turniers nach England zurückreiste, weil seine Familie überfallen worden war. Gefeiert wurde er, weil er nach kaum ein paar Tagen wieder zum englischen Team nach Katar zurückkehrte.
Von Fußballprofis in Deutschland haben bisher Elternzeit in Anspruch genommen: null. Niemand. Keiner. Matthias Ginter sagte im Sommer 2021 in einem Interview, er könne sich vorstellen, dass er Profis, die das möglicherweise täten, nicht verurteilen würde; hat das aber natürlich, als sein Kind geboren war, nicht getan.
Von Pavel Nedvěd ist die Anekdote überliefert, dass er sich seiner Frau gegenüber weigerte, eine kaputte Glühbirne auszutauschen: schließlich sei er Fußballer und kein Elektriker. Das fasst die Haltung des Profifußballs insgesamt zu allen Themen ganz gut zusammen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?