Wahlrechtsurteil des Verfassungsgerichts: Eine Übergangslösung auf Dauer
Karlsruhe erhält die Grundmandateklausel, die kleinen Parteien nützt. Sie gibt dem Gesetzgeber aber ansonsten großen Spielraum.
D as Urteil des Bundesverfasssungsgerichts der vergangenen Woche zur Wahlrechtsrefrom ist klug. Es wird den Streit über das Wahlrecht wohl mehr befrieden, als wir derzeit wissen und spüren.
Im ersten Teil des Urteils ging es um den Kern der Reform – die Verkleinerung des Bundestags. Die Ampel hat hierzu Überhang- und Ausgleichsmandate abgeschafft. Jede Partei erhält nur noch so viele Sitze, wie ihr nach den Zweitstimmen zustehen. Gewinnt sie mehr Wahlkreise, so erhalten die prozentual schwächsten Wahlkreisgewinner kein Mandat. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen zentralen Teil der Reform ohne Abstriche gebilligt. Der Bundestag habe großen Spielraum bei der Schaffung eines neuen Wahlrechts. Der Gesetzgeber könne auch Neuerungen beschließen, die ein Umdenken der Wähler:innen erfordern.
Der impulsive Gefühlspolitiker und CDU-Chef Friedrich Merz hat zwar verkündet, dass die CDU/CSU diesen Teil des Wahlrechts wieder abschaffen wolle, denn jeder Wahlkreis solle einen direkt gewählten Abgeordneten haben. Wie der Bundestag dann verkleinert werden soll, lässt Merz aber offen. Wenn er besonnener wäre, hätte er auf diese Ankündigung verzichtet und sich still über die Reform der Ampel und die Bestätigung durch das Bundesverfassungsgericht gefreut. Denn das eigentliche Problem der CDU ist die CSU, die jahrelang jede Verkleinerung des Bundestags durch ihre Kompromissunfähigkeit torpediert hat. Prognose: Das Wahlrecht wird auch bei einer CDU/CSU-geführten Regierung im Kern nicht geändert.
Unnötige Bosheit ist weg
Im zweiten Teil des Urteils hat das Verfassungsgericht zu Recht eine unnötige kleine Bosheit beanstandet. Völlig überraschend hatte die Ampel eine Woche vor Beschluss des Wahlrechts die bewährte Grundmandateklausel gestrichen. Danach konnten auch Parteien, die die Fünfprozenthürde verfehlen, in den Bundestag einziehen, wenn sie drei Direktmandate holen. Diese Streichung gefährdete nur die Oppositionsparteien Linke (die 2021 trotz nur 4,9 Prozent der Zweitstimmen über die Grundmandateklausel in den Bundestag einzog) und CSU (die mit 5,2 Prozent der Stimmen fast auch die Klausel benötigt hätte).
Man konnte wetten, dass das Bundesverfassungsgericht dieses miese Manöver der Ampel beanstanden wird. Als Übergangslösung gilt nun wieder die Grundmandateklausel. Zwar hat der Bundestag viel Freiheit, andere Modelle zu beschließen, etwa eine Absenkung der Prozenthürde auf drei oder vier Prozent. Doch daran haben die Parteien (inklusive der AfD) kein Interesse, weil sie Sitze an andere Parteien verlieren würden. Da Karlsruhe keine Frist gesetzt hat, wird auch die Übergangslösung wohl noch viele Wahlen gelten.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Nach Absage für Albanese
Die Falsche im Visier
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator