Wahlkampfabschluss in Sachsen: The final countdown
48 Stunden vor der Landtagswahl geben CDU, SPD, Linke, Grüne und AfD noch einmal alles. Die einen mit mehr, die anderen mit weniger Publikum.
Am Sonntag wird in Sachsen und Brandenburg gewählt. 3,3 Millionen Menschen können in Sachsen ihre Stimme abgeben, 152.000 von ihnen sind laut Leipziger Volkszeitung Erstwähler. In Sachsen trommeln die Parteien kurz vor der Wahl ihre potentiellen Wählerinnen und Wähler zu mehr oder weniger fulminanten Wahlkampfabschlüssen zusammen.
Der 18-jährige Hendrik Martin stürzt sich also nach der Einschreibung in die Menschenmenge neben der Nikolaikirche und nutzt die Gelegenheit: Er bittet Kramp-Karrenbauer um ein Selfie und fragt sie, warum die Abiturprüfungen in Deutschland so unterschiedlich seien. Kramp-Karrenbauer nimmt sich Zeit für beides. „Sie hat mich überzeugt“, sagt Hendrik Martin, die Wangen noch rot vor Aufregung. Wen er am Sonntag wählt? „Die CDU ist eine Option“, sagt er. Weil sie das dreigliedrige Schulsystem erhalten wolle. Und weil man der AfD die Stirn bieten müsse.
Die sächsische CDU steht in Umfragen derzeit bei rund 30 Prozent. Sie hat damit gute Chancen, erneut stärkste Partei zu werden. Aber die AfD ist mit 25 Umfragepunkten dichtauf. Es bleibt eine Zitterpartie.
Papphocker statt Bierbänke
Zehn Laufminuten von der CDU-Party entfernt, vor der geschwungenen Silberfassade des ehemaligen Centrum-Warenhaus, haben die Grünen eine Bühne aufgebaut. Der Platz, gerade noch halbleer, hat sich schnell gefüllt.
Sechs Wochen im Osten: Vor der Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2019 war die taz in Dresden. Seit dem 22. Juli waren wir mit einer eigenen Redaktion vor Ort. Auch in Brandenburg und Thüringen sind bzw. waren wir vor den Landtagswahlen mit unserem #tazost-Schwerpunkt ganz nah dran – auf taz.de, bei Instagram, Facebook und Periscope. Über ihre neuesten Erlebnisse schreiben und sprechen unsere Journalist*innen im Ostblog und im Ostcast. Begleitend zur Berichterstattung gibt es taz Gespräche in Frankfurt (Oder), Dresden, Wurzen und Grimma. Alle Infos zur taz Ost finden Sie auf taz.de/ost.
Die Grünen stehen vor einem Wahlsieg. Kamen sie vor fünf Jahren mit Ach und Krach über die Fünf-Prozent-Hürde, können sie nun mit doppelt so vielen Mandaten rechnen. 600 Menschen, so wird Spitzenkandidatin Katja Meier später twittern, seien zur Abschlusskundgebung der Grünen gekommen. Statt auf Bierbänken, wie bei der CDU, sitzen diese auf Papphockern.
Oder sie stehen, so wie die beiden RadfahrerInnen, die sich als Helene und Jonathan vorstellen. Helene, die mit 23 schon zum zweiten Mal wählt, will für die Grünen stimmen: „Das sagt mir mein Bauchgefühl“. Wenn sie durch die Innenstadt radelt, kommt sie an einem Graffito vorbei, das jemand an die Fassade der Uni Leipzig gesprüht hat: „Es gibt keinen Planeten B“. „So ist es“, sagt sie fest.
Jonathan ist 19 und wird zum ersten Mal bei der Landtagswahl sein Kreuz machen. Bei welcher Partei, ist noch offen. Für den Samstag hat er sich vorgenommen, sich alle Programme durchzulesen. Bei den Grünen kann er schon mal zuhören – „Praktisch, da muss ich nicht mehr so viel lesen.“ Als Robert Habeck, der Bundesvorsitzende der Grünen in rotem Hemd die Bühne springt, nickt er Helene zu. „Lass uns mal näher ran gehen.“
Spielkarten und zwei Bierflaschen
Linkspartei und SPD haben schon Stunden zuvor zum Wahlkampfabschluss in Dresden geladen. Die Linkspartei wirbt am Donnerstag vor 50er-Jahre-Bauten in der inneren Altstadt mit Gregor Gysi. Mehrere hundert Menschen wollen den Alt-Star der Linken sehen und hören. Sie sitzen auf Bänken in der prallen Sonne oder im Schatten unter Bäumen auf ihren Rollatoren.
Oliver und Marcel sitzen auf dem Boden, Spielkarten und zwei Bierflaschen vor sich. Oliver wird zum ersten Mal wählen, mit der Zweitstimme hat er sich schon festgelegt: Die geht an die Linke. „Weil man, um das Klima zu schützen, radikal etwas ändern muss. Nicht nur, so wie die Grünen, eine Steuer erheben“, sagt er. Den Kapitalismus müsse man abschaffen, ergänzt Marcel. Er ist erst 17, wählen darf er noch nicht.
Oliver steckt indes noch in einem Dilemma. In seinem Wahlkreis, der von den Villen auf dem Weißen Hirsch bis zu den Plattenbauten in Prohlis reicht, liefern sich CDU-Kandidat, Kultusminister Christian Piwarz, und der AfD-Kandidat ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die Kandidatin der Linken ist chancenlos. „Vielleicht muss ich doch die CDU wählen, um die AfD zu verhindern“, meint Oliver bekümmert.
Zwei Reihen von Küchentischen
Es ist Freitagvormittag, gleicher Ort. Knapp hundert Menschen haben an den meterlangen Küchentischen Platz genommen, die die SPD zum Wahlkampfabschluss aneinandergereiht hat. Für die gebeutelte SPD ist Dresden eigentlich ein gutes Pflaster. Seit Ende der 90er hat sie in der Landeshauptstadt kontinuierlich Stimmen gewonnen – vor fünf Jahren wählten knapp 14 Prozent der Dresdner SPD. Der Liedermacher Rany singt: „Ist gar nicht so schlimm, wir kriegen das hin“.
Die sächsischen Sozialdemokraten verzichten auf Beistand aus Berlin, der wohl ohnehin kaum als Beistand fungiert hätte. Umfragen im Bund sehen die SPD zwischen 13 und 15 Prozent. In Sachsen wird die SPD am Sonntag zufrieden sein, wenn sie der Fünf-Prozent-Hürde nicht allzu nahe kommt. In den Umfragen zur Landtagswahl liegt sie zwischen 7 und 9 Prozent.
Spitzenkandidat Martin Dulig versucht es im Alleingang, als Kollege oder Verkehrsminister und zum Wahlkampfausklang wieder als Hausherr und WG-Kumpel zwischen zwei Reihen von Küchentischen. Er steht am Mikrofon und wirbt unverblümt für eine Koalition von CDU, SPD und Grünen. Wir gegen die AfD, darauf setzt die SPD in letzter Verzweiflung. Die Nummer zwei auf der Liste, Petra Köpping, Integrationsministerin und Ossi-Versteherin, sitzt derweil im Schatten und redet mit den Wählerinnen und Wählern.
Eine von ihnen ist Ruth Neukirch. 70 Jahre, ehemals Lehrerin und Stammwählerin. Die SPD sei für sie die einzig wählbare Partei: „Sozial, sympathisch und dabei realistisch“. Auf die Frage, was die Partei tun müsse, um wieder auf die Beine zu kommen: „Durchhalten“, sagt Neukirch und nickt. „Einfach durchhalten.“
Die AfD lädt am Samstagabend zum Wahlkampfabschluss in Görlitz ein. Im Wahlkreis 58 tritt Sebastian Wippel als Direktkandidat gegen Ministerpräsident Michael Kretschmer an. Ein Duell mit Symbolcharakter. „High Noon“ würde gut als musikalische Untermalung passen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja