Wahlkampf in Großbritannien: Es kommt ein harter Winter
Das britische Parlament beschließt Neuwahlen. Es droht eine wochenlange Polarisierung. Was das für den Brexit bedeutet, ist offen.
In beispielloser Einmütigkeit geht nun ein Parlament auseinander, in dem keine Partei eine Mehrheit hat, das in den letzten Monaten immer beschlussunfähiger wurde und das Umfragen zufolge 87 Prozent der Wähler als unfähig betrachten. Ein Zeitungskolumnist beschrieb das Unterhaus als Komapatient unter künstlicher Beatmung, bei dem niemand weiß, wo man ihn abschaltet.
Der Schalter ist nun gefunden. Am Mittwoch, 6. November, um 0.01 Uhr endet diese Legislaturperiode. Schon am 31. Oktober endet die Amtszeit des legendären „Speaker“ John Bercow. Ihm zollte Boris Johnson am Mittwoch Tribut, indem er ihn mit einem Tennis-Schiedsrichter verglich, der immer wieder selbst Bälle schlägt, die man nicht zurückschlagen darf, „eine unkontrollierbare Tennisballmaschine“.
Nun wird ein Wahlkampf folgen, den Großbritannien seit Jahrzehnten so nicht gesehen hat: im Winter mit immer kürzeren Tagen und voraussichtlich immer schlechterem Wetter, mit einem Wahltag mitten in der Weihnachtsfeiersaison – in einer Zeit extremer Polarisierung, in der einer universitären Untersuchung zufolge die Mehrheit sowohl der Brexit-Gegner als auch der Brexit-Freunde Gewalt gegen Abgeordnete für legitim hält.
Wahlkreiskandidaten im Dunklen
Der klassische britische Haustürwahlkampf, in dem die Wahlkreiskandidaten an möglichst viele Türen klopfen und das direkte Gespräch mit dem Volk suchen, dürfte wenig attraktiv sein, wenn es fast immer dunkel ist, niemand die Haustür gerne lange offen stehen lässt und man damit rechnen muss, dass das Wahlvolk einem ins Gesicht spuckt.
Zu erwarten ist eine beispiellose Verlagerung des Wahlkampfs auf soziale Medien, was nach US-Erfahrung bedeutet, dass jedes Lager vorzugsweise die eigene Basis mobilisiert. Womit, darauf bot am Mittwoch Boris Johnsons letzte Fragestunde im Parlament einen Vorgeschmack. Jeremy Corbyn widmete seine sechs Fragen alle dem staatlichen Gesundheitsdienst NHS, der Brexit kam nicht vor.
Der Labour-Chef sprach faktenfrei von einem „Ausverkauf an Donald Trump“. Johnson warf Corbyn „Amerikaphobie“ vor. Corbyn rief: „Der Premierminister redet Unsinn.“ Johnson brüllte, Corbyn sei „übergeschnappt“. Das kann jetzt sechs Wochen so weitergehen.
Auch 2017 verspielten die Tories einen Vorsprung
Der Ausgang ist offener als es aussieht. Im Schnitt der aktuellen Umfragen führen die Konservativen klar mit 35 Prozent, Labour kommt auf 25, die Liberaldemokraten auf 18 und die „Brexit Party“ auf 11 Prozent. Das, so Experten, ergibt eine satte absolute Tory-Mehrheit der Unterhausmandate.
Aber der Wahlkampf 2017 begann mit einem noch größeren Tory-Vorsprung. Am Ende hatte Corbyn so weit aufgeholt, dass Theresa May trotz Zuwachs von 36 auf 42 Prozent ihre absolute Mehrheit einbüßte.
Diesmal ist Corbyn nicht mehr der frische Hoffnungsträger, sondern ein überforderter Taktiker. Die Liberaldemokraten auf der Pro-EU-Seite werden ihn mit Brexit-Eindeutigkeit vor sich hertreiben – und spiegelbildlich wird das bei den Konservativen Nigel Farages Brexit Party tun, die im Mai die britischen Europawahlen gewann. Die beiden kleinen Kräfte brauchen gar nicht viele eigene Mandate zu holen, um trotzdem Hunderten von Parlamentariern das politische Überleben schwer zu machen.
Dagegen werden Johnson und Corbyn versuchen, ihre jeweilige Basis bei der Stange zu halten. Es droht ein Dauertrommelfeuer zweier Extreme, organisiert auf konservativer Seite von der Johnson-geführten Brexit-Referendumskampagne „Vote Leave“ und auf Labour-Seite von der Corbyn-Fankampagne „Momentum“.
Welches Erfolgsrezept wird funktionieren? Bei den letzten beiden Wahlen hatte jeweils die Hälfte der Wähler eine andere Partei gewählt als vorher. Die Briten sind Wechselwähler geworden. Alte Loyalitäten zählen kaum noch in einer Zeit, wo alle Parteiführer sich vor allem in Abgrenzung zu ihren eigenen Vorgängern definieren.
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