Wahlgesetz verfassungswiedrig: Negative Wahl
Bei Bundestagswahlen kann der Gewinn von Zweitstimmen zu Sitzverlusten führen. Und umgekehrt. Das Bundesverfassungsgericht hat dies nun als verfassungswidrig bewertet.
Ein kleiner Fehler im Bundeswahlgesetz führt dazu, dass der Bundestag ganz neu über das Wahlrecht nachdenken muss. Gestern erklärte das Bundesverfassungsgericht das geltende Wahlgesetz für verfassungswidrig. Es darf aber übergangsweise noch bis 2011 angewandt werden. Auch der jetzige Bundestag erhielt damit "Bestandsschutz".
Das Problem nennt sich "negatives Stimmgewicht". In extremen Fällen kann die Abgabe einer Stimme für eine Partei dazu führen, dass der Wähler dieser Partei schadet, statt ihr zu nützen. Solche "willkürlichen" Effekte führen nach Ansicht der Richter dazu, dass das Prinzip der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl verletzt ist. Als Beispiel führen die Richter die letzte Bundestagswahl in Hamburg an. Hätte die SPD dort 19.500 Zweitstimmen weniger bekommen, wäre ihr am Ende im Bundestag ein Sitz mehr zugestanden worden.
Ein derart paradoxer Effekt ist zwar nicht die Regel, kann aber in Einzelfällen vorkommen. Nur wenige spezialisierte Mathematiker können den Negativ-Effekt genau erklären, aber sie sind sich einig, dass er existiert.
Grob vereinfacht entsteht das Problem so: Zunächst verteilt unser Wahlrecht die Parlamentssitze entsprechend dem Zweitstimmen-Ergebnis in jedem Bundesland auf die Parteien. Die verbleibenden Reststimmen werden dann auf Bundesebene verrechnet. Turbulenzen gibt es immer dann, wenn eine Partei in einem Bundesland Überhangmandatate erzielt, das heißt mehr Direktmandate holt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen würden. Dann kann es für sie vereinzelt günstiger sein, wenn sie in diesem Bundesland ein eher schlechtes Zweitstimmenergebnis erhält. Und zwar dann, wenn zugleich bei der überregionalen Reststimmen-Verteilung ein anderer Landesverband der gleichen Partei ohne anzurechnende Überhangmandate zum Zuge kommt.
Das Problem ist nicht neu. Schon öfter wurden solche negativen Stimmeffekte in Wahlbeschwerden gerügt, aber bisher hat sie das Bundesverfassungsgericht einfach ignoriert - vielleicht weil auch den Richtern die Sache zu kompliziert war.
Doch bei der Wahl 2005 waren die Negativeffekte plötzlich ganz offensichtlich. Weil im Wahlkreis Dresden I eine Kandidatin kurz vor der Wahl verstarb, fand dort der Wahlgang nämlich erst zwei Wochen später statt. Nun konnten Mathematiker auf Grundlage des Wahlergebnisses im Rest Deutschlands vorrechnen, wie die CDU ein zusätzliches Überhangmandat bekommen könne. Sie müsste dann im Wahlkreis Dresden I zwar am meisten Erststimmen erhalten, aber nicht mehr als 41.225 Zweitstimmen. Viele CDU-Wähler gaben ihre Zweitstimme dann tatsächlich der FDP - und die CDU/CSU konnte am Ende ihren bundesweiten Sitz-Vorsprung gegenüber der SPD von 3 auf 4 Mandate ausbauen. Politisch hatte das allerdings kaum noch Bedeutung, weil Union und SPD ja eh schon mit Verhandlungen über eine große Koalition begonnen hatten.
Für die Verfassungsrichter bestand das Problem aber nicht darin, dass die Wahler taktisch abstimmen können. Im Gegenteil. Die Richter kritisierten vielmehr, dass die Wähler in der Regel gar nicht wissen können, ob sie mit ihrer Stimme einen negativen Effekt auslösen.
Karlsruhe gab nun dem Bundestag bis 2011 Zeit, ein neues Wahlrecht ohne paradoxe Effekte zu schaffen. Die nächste Bundestagswahl wird noch mit dem alten Recht durchgeführt. Die Richter hielten das für hinnehmbar, weil ja jeweils nur eine Handvoll Mandate betroffen sind und die Schaffung eines besseren Wahlrechts als sehr kompliziert eingeschätzt wurde.
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