WDR-Hörspiel „Das Hibernat“: Bonusmeilen dank Winterschlaf
Wer den Winter verschläft, stößt weniger CO2 aus. Die zuküftige Währung für Bewegungsfreiheit heißt Kilometer. „Das Hibernat“: Ein gelungenes Hörspiel.
Bonusmeilen dank Winterschlaf? Klingt erstmal absurd – oder nach Science-Fiction. Letzteres trifft zu: Weil immer mehr Menschen auf dem Planeten rumlaufen, fahren oder fliegen, nimmt auch die CO2-Belastung erdrückend zu. Da muss man gegensteuern, findet jedenfalls das „Ministerium zur Bewirtschaftung der Ressourcen (MBR)“ in Rolf Schönlaus Roman „Das Hibernat“.
In der Erzählung, die erstmals von Juni bis November 2011 als Blog auf sueddeutsche.de erschien, bekommen die Menschen vom MBR ein Mobilitätskontingent verpasst. Reisen ist nur noch begrenzt erlaubt. Die Währung der Zukunft heißt Kilometer.
Eine Chance das Konto aufstocken, ist die Teilnahme an einer wissenschaftlichen Versuchsreihe, in der Testpersonen in den Winterschlaf (englisch: Hibernation) versetzt werden. Denn: Wer wie Haselmaus oder Igel die alljährlichen Kältemonate verpennt, spart Energie. Der Westdeutsche Rundfunk hat Schönlaus „Hibernat“ nun vertont und sendet das Hörspiel am Samstagnachmittag (15.05 bis 16 Uhr, WDR 3).
Ein formell nicht ganz einfaches, aber in diesem Fall akustisch sehr gelungenes Unterfangen, denn die Vorlage besteht überwiegend aus episodenartigen, bloggerecht zugeschnittenen Tagebucheinträgen der Hauptfigur Simon Reese. Man begleitet den ehemaligen Kulturdezernenten, dem Matthias Habich überzeugend seine Stimme leiht, in den letzten hundert Tagen bevor er sich in eine komplett überwachte Schlafkapsel, einen „Hibernator“, legt. Weil Reese leidenschaftlicher „Fernwanderer“ ist, lässt er sich auf das Schlafen unter Aufsicht ein. Die damit erworbenen Bonusmeilen hat er bereits für einen Urlaub im Frühjahr verplant.
„Ante Hibernatum“
Zu Beginn seiner Vorbereitungszeit – „ante Hibernatum“ – betrachtet Reese neugierig und humorvoll seine kommende Ruhephase. Er erklärt sich zum „Hibernier“ und feixt mit der Enkelin Bao im fernen China via Webcam, dass er bald wie die Braunbären im Winter auf „Sparflamme“ laufe. Doch mit jedem Tag der verstreicht und dem intimen Reflexionszwang, den Tagebücher nun mal so an sich haben, werden die Gedanken kritischer.
„Das Hibernat“, Samstag und Sonntag, 15.05 Uhr, WDR 3
Verstärkt werden die ernsten Episoden auch durch eine Reihe immer kürzer aufeinander folgende Untersuchungszyklen. Mal muss Reese zum skeptischen Psychologen, der bei ihm leichten „Größenwahn“ wittert oder zur Medizinaltechnikerin, die ihn über Proteine zum Synapsenschutz aufklärt.
In dem Biologen Dr. Dupree (Ulrich Gebauer), ebenfalls ein Fernwanderer, findet er aber einen verständnisvollen Gesprächspartner, der mit ihm während der nächsten Monate via „Gehirncomputer-Interface“ weiter plauschen mag. Letztlich wird Simon Reese erst spät die institutionell kontrollierte Dimension des Versuchs, an dem neben ihm 3.000 Freiwillige teilnehmen, klar.
Zentrale Episode
Dies spiegelt sich in der zentralen Episode des Hörspiels. Reese liegt gerade – zur Vorbereitung auf den Hibernator – in einem Floating-Tank, der mit einer hochkonzentrierten Salzwasserlösung gefüllt ist und deswegen ein Gefühl von Schwerelosigkeit vermittelt. Doch seine Gedanken schweben nicht, sie rasen: „Tausende von Hibernatoren, alle hängen am zentralen Rechner, ein Organismus, Ameisen sind auch nur Zellen ihrer Kolonie – im Winter inaktiv“. Am Ende schwappt sogar ein Hauch Verschwörungstheorie durch den Bewusstseinsstrom.
Die WDR-Produktion punktet letztlich durch inhaltliche wie akustische Komplexität, denn das von Autor Schönlau geschnürte Diskurspaket zwischen Bioethik und Bewegungsfreiheit ist umfangreich. Reeses Innenansichten überforderen den Zuhörer in knapp 53 Minuten dennoch nicht. Sie bleiben stets nachvollziehbar. Sorge und Neugier des angehenden Winterschläfers folgen still einem Gedanken des Dramatikers Christian Friedrich Hebbel: „Schlaf ist ein Hineinkriechen des Menschen in sich selbst“.
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