WDR-Doku über Digitalisierung: Wenn Kollegen Kollegen bewerten
Die Dokumentation „Neuland“ widmet sich den Folgen der Digitalisierung in China und Deutschland. Ab Donnerstag ist sie in der ARD-Mediathek zu sehen.
Wenn man auf ein Bild zurückgreifen möchte, das eindrucksvoll zeigt, wie weit in der Gesellschaft Chinas die Digitalisierung fortgeschritten ist, dann könnte das mittelfristig möglicherweise eine Szene sein, die die Autor*innen der WDR-Dokumentation „Neuland“ zu Beginn ihres Films platziert haben. Im Bild ist ein Obdachloser zu sehen, der einen QR-Code um den Hals gehängt hat, den gebefreudige Passanten mit seinem Smartphone scannen können. Sogar „die Ärmsten“ hätten „auf Mobile Payment umgestellt“, heißt es im Film dazu. „Alipay“ heißt dieses Bezahlsystem, und man kann es mittlerweile auch in sämtlichen Filialen einer Drogeriemarktkette in München nutzen.
Die Dreharbeiten für den chinesischen Part von „Neuland“ (Untertitel: „Wer hat die Macht im Internet?“) fanden in der ersten Novemberwoche 2019 in China statt, vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Der Film regt nun an, einen Blick auf jene Entwicklungen in China zu werfen, für die im Moment die Aufmerksamkeit geringer ist. So soll dort bis Ende 2020 ein sogenanntes Social Credit System System installiert werden, das über verschiedene Kanäle das Sozialverhalten der Bürger überwacht, unter anderem mit Hilfe von 600 Millionen „intelligenten Kameras“, die in der Öffentlichkeit angebracht sind. In einem Werbespot droht eine Frau damit, dass die Geächteten zum Beispiel keine Versicherungen mehr abschließen dürften
Wann bekommt der digitale Fortschritt totalitäre Züge? Wie kann eine demokratische Gesellschaft wie die bundesrepublikanische ihren technologischen Rückstand „aufholen“, ohne dabei Bürgerrechte über Bord zu werfen? Das sind Fragen, die Julia Friedrichs, Fabienne Hurst und Andreas Spinrath in ihrem Film aufwerfen.
Zur Hoffnung, dass darauf jene, die man gemeinhin unter „die Politik“ subsumiert, eine Antwort finden, gibt der Film wenig Anlass. Die Zuständigkeit ist zersplittert: In verschiedenen Ministerien beschäftigen sich 244 Teams in 76 Abteilungen „mit digitalen Fragen“. Und die ausführlich vorgestellte Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitales im Kanzleramt, habe „kein Budget“, wie mehrere Politikerkollegen hier monieren. Ihre Äußerungen wirken realsatirisch („Bei mir ist nicht nur mobile first, sondern mobile only“) oder hilflos („Ich finde, wir machen viel, viel mehr, als man nach außen sieht“).
Zalando in der Kritik
Neben China und dem Arbeitsalltag Bärs ist der dritte Hauptthemenstrang in „Neuland“: die Politik des Unternehmens Zalando. Der Film macht deutlich: Zalando ist nicht bloß ein sehr, sehr großer Onlinehändler, sondern kooperiert auch mit 1.300 Offlineläden zusammen, etwa dem Schillerkaufhaus in Weimar, das eine Gebühr dafür zahlt, dass es seine Klamotten über Zalando verschicken kann.
In der Kritik steht Zalando, weil es die Software Zonar nutzt, um Mitarbeiter*innen die Leistungen anderer Mitarbeiter*innen bewerten zu lassen. Während der Techkonzern-Kritiker und Buchautor Jamie Bartlett von Firmen spricht, die von „Mitarbeiter-Feedback besessen“ sind, wartet Zalando-Vorstandsmitglied Ruben Ritter mit dem Begriff „Bewertungskultur“ auf. Ritter gäbe sonst kaum Interviews, sagen die Filmemacher*innen, und wenn man hört, was er in „Neuland“ sagt, ist das vielleicht auch gut so. Der Begriff „Kultur“ ist ja schon für die kulturfremdesten Zwecke instrumentalisiert worden, aber im Zusammenhang mit zumindest repressionsähnlichen Maßnahmen klingt das besonders perfide.
„Neuland“ ist das dritte Projekt, das der WDR und die Bildundtonfabrik („Neo Magazin Royale“) unter dem Obertitel „Docupy“ präsentieren. „Ungleichland“, mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, und „Heimatland“ hießen die beide Vorgängerprojekte.
„Neuland – Wer hat die Macht im Internet?“, ab Donnerstag, 20.15 Uhr, in der ARD-Mediathek. Lineare Ausstrahlung: 8. April, 22.45 Uhr
„Neuland“ liegt handwerklich weit über dem Doku-TV-Standard. Der Film ist sehr kunstvoll gebaut, die einzelnen Themenabschnitte bergen Überraschungen und Brüche – ganz anders als bei vielen Dokumentationen, bei denen von Anfang klar ist, was man im Laufe des Films erfahren wird. Bemerkenswert ist auch der geschickt akzentuierte Einsatz der Musik. Die subtilen wie prägnanten elektronischen Sounds stammen von Lorenz Rhode. In einem anderen Leben leitet er das Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld.
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