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WAR DAS KOHL-KABINETT KORRUPT? DAS IST DIE ZENTRALE FRAGEEin Abgrund von Regierungskriminalität

Angela Merkel hat ein feines Gespür für Timing. Früher als ihr Vorgänger Wolfgang Schäuble hatte sie erkannt, wann der Zeitpunkt gekommen war, auf Abstand zum Übervater Helmut Kohl zu gehen. Dann passte sie als neue CDU-Vorsitzende den richtigen Augenblick ab, um den damals von vielen in der Partei gewünschten Prozess der Aussöhnung mit dem Altkanzler einzuleiten. Jetzt gibt es neue, unangenehme Nachrichten im Zusammenhang mit Kohl, und nun wünschen laut einer Umfrage 70 Prozent der Bevölkerung, dass er auf sein Bundestagsmandat verzichten möge. Da geht Angela Merkel eben wieder auf Distanz. Zu einer so anpassungsfähigen, geschmeidigen Vorsitzenden kann man ihrer Partei nur gratulieren.

Aber die CDU ist auch in anderer Hinsicht vom Glück begünstigt. Fast unmittelbar nach den jüngsten Enthüllungen über umfangreiche Aktenmanipulationen im Kanzleramt wurde bekannt, dass sich Andreas Schmidt, CDU-Obmann des Untersuchungsausschusses, und mehrere seiner Kollegen regelmäßig vor den Sitzungen des Gremiums mit Helmut Kohl getroffen haben. Politische Gegner und moralisierende Leitartikler befanden sich allesamt in heller Aufregung angesichts der Erkenntnis, dass alte Seilschaften weiterhin funktionieren. Dieses Skandälchen überdeckte den Skandal. Etwas Besseres hätte der Union kaum passieren können.

Nein, die Gespräche, die Schmidt und andere CDU-Abgeordnete mit dem Zeugen Helmut Kohl geführt haben, sind nicht zu billigen. Sie können durchaus als Missachtung des Untersuchungsausschusses gewertet werden. Aber für die Missachtung parlamentarischer Gremien gibt es viele Beispiele. Politische Absprachen, die am Bundestag und seinen Institutionen vorbei getroffen werden, sind fester Bestandteil des Systems der Bundesrepublik. Gelegentlich dienen sie nicht einmal ausschließlich dem Wohl des Landes, sondern in erster Linie dem Wohl der eigenen Partei. Skandal? Alltag.

Es gehöre sich einfach nicht, was Schmidt getan hat, argumentieren diejenigen, die derzeit ihre fassungslose Empörung kaum zu zügeln vermögen. Das ist wahr. Aber viele Leute tun nicht immer nur das, was sich gehört. Deshalb muss eine neue gesetzliche Regelung dafür sorgen, dass sich Vergleichbares nicht wiederholen kann. Die Aufregung über die Begegnungen des Altkanzlers mit Parteifreunden sollte aber nicht den Blick auf das Wesentliche verstellen.

Hand aufs Herz: Wen hat welche Nachricht überrascht? Erstaunlich an der Tatsache, dass Kohl sich mit Ausschussmitgliedern aus den eigenen Reihen getroffen hat, war doch allenfalls, dass es herausgekommen ist. Die gezielte Vernichtung von Datenmaterial im Bundeskanzleramt aber ist für sich genommen ungeheuerlich. Dabei handelt es sich nicht um eine lässliche Sünde. Hier blicken wir in den Abgrund von Regierungskriminalität.

Die CDU behauptet jetzt, auch in Hessen und im Saarland seien beim Regierungswechsel zahlreiche Unterlagen verschwunden. Diese Angabe wurde auch von seriösen Medien als Tatsache verbreitet. Dabei hat in den Ländern, anders als im Kanzleramt, bisher keine entsprechende Untersuchung stattgefunden. Die sollte schleunigst nachgeholt werden. Derartige Vorwürfe lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen.

Eine Straftat wird nicht akzeptabel, wenn sie mehrfach begangen wird. Regierungszentralen sind nicht das Eigentum von Parteien, und sie wechseln auch nicht gelegentlich den Besitzer. Sollten Teile der politischen Klasse das anders sehen, dann dürfen das weder Justiz noch Öffentlichkeit hinnehmen und sich auch nicht vom Terminkalender der Büroleiterin von Helmut Kohl ablenken lassen. Erfreulich wenigstens, dass im Bundestag gestern die aktuelle Stunde über nebensächliche Termine von Andreas Schmidt abgesagt wurde. Die Klärung der Hauptsache bleibt dringlich: War die alte Regierung kriminell? BETTINA GAUS

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