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Vorwürfe gegen RammsteinDas „lyrische Ich“ und die Realität

Gegen die Band Rammstein gibt es Vorwürfe der sexualisierten Gewalt. Zuvor schon hatte Sänger Till Lindemann mit einem Gedicht zum Thema kokettiert.

Till Lindemann von Rammstein, Volksparkstadion Hamburg, 2022 Foto: Jens Koch/dpa/picture alliance

J etzt also Till Lindemann. Eine Frau namens Shelby Lynn, die nach eigenen Angaben ein Rammstein-Konzert in Vilnius besucht hat, sagt online, sie sei backstage unter Drogen gesetzt worden, der Sänger habe sie zum Sex aufgefordert und wäre sauer geworden, als sie ablehnte. Dazu postete sie Fotos von Verletzungen mit der Angabe, sie könne sich nicht daran erinnern, wie diese zustande gekommen seien. Die Band dementierte den Vorfall per Twitter. Gleichzeitig gibt es immer mehr Frauen, die von Gewalterfahrungen mit Rammstein berichten. Als Journalistin muss ich sagen: Lindemann und seine Leute sind mutmaßliche Täter, weil sie nicht verurteilt sind, sondern bisher nur beschuldigt werden. Als Kolumnistin sage ich, dass ich den mutmaßlichen Opfern glaube.

Ich glaube ihnen, weil falsche Vergewaltigungsvorwürfe sehr selten sind, die Anschuldigungen glaubhaft klingen, seit Jahren derartige Geschichten kursieren und immer mehr Frauen (meist anonym) von ähnlichen Erfahrungen berichten. Und ich habe noch einen weiteren Grund: Erstaunlich oft gehen (mutmaßliche) Täter mit ihren (mutmaßlichen) Taten hausieren, weil sie, gerade wenn sie Stars sind, wissen, dass sie fast unberührbar sind. Damit meine ich nicht nur das übermaskuline Gehabe, das Rammstein seit Jahrzehnten zur Schau trägt (gepaart mit Fascho-Ästhetik, aber das ist ein anderes Thema).

Vor allem spreche ich vom Buch „100 Gedichte“ von Till Lindemann, das der KiWi Verlag vor drei Jahren veröffentlichte; aus lyrischer Sicht ziemlich unterdurchschnittliche Gedichte. Relevant ist aber nicht ihre Literarizität, sondern der Inhalt. Unter anderem schildert er darin Vergewaltigungsfantasien wie „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst/Wenn du dich überhaupt nicht regst“, die sehr nah an dem sind, was der Band jetzt vorgeworfen wird. Marilyn Manson wird Vergleichbares vorgeworfen. Und auch er hat schon über sexuelle Übergriffe auf bewusstlose Frauen geschrieben, 1998 in seiner Autobiografie „The Long Hard Road Out Of Hell“.

Als die „100 Gedichte“ publiziert wurden, gab es einige Use­r*in­nen auf Twitter (auch ich gehörte dazu), die den Verlag kritisierten. Daraufhin sprangen viele Lindemann zur Seite, mit der Begründung, es handele sich um sein lyrisches Ich, Dichterin Nora Gomringer sprach von einer „Hypermoralisierung“, und auch Helge Malchow, Editor-at-Large bei KiWi, beklagte die „moralische Empörung“ und „Diffamierung des Autors“. Selbst wenn es sich doch „nur“ um Lindemanns lyrisches Ich handelt: Muss man Vergewaltigungsfantasien veröffentlichen?

Jahrelang kamen Leute wie Lindemann und Manson problemlos damit durch, mit ihren Gewaltfantasien zu kokettieren, und seien sie verpackt in lyrische Ichs. Teils wurden sie sogar verteidigt. Es sagt viel über unsere Rape Culture aus, dass so was überhaupt durchgeht.

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Isabella Caldart
... arbeitet als freie Journalistin mit Schwerpunkt auf Kultur und Gesellschaft für diverse Medien und macht auch sonst allerhand Jux und Tollerei mit dem geschriebenen Wort. Frankfurt/Barcelona
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22 Kommentare

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  • Käptn Blaubär , Moderator*in

    Vielen Dank für Eure Beiträge, wir haben die Kommentarfunktion nun geschlossen.

  • Erschreckend, wieviel Deutsche hier Vergewaltigung klein reden.

    Und wieviele dieses "Gedicht" als Kunst hinstellen wollen.



    Inhaltlich sind es Vergewaltigungsfantasien von einem Vergewaltiger.

    Die Literarizität dieses Unfalls schwingt auf dem Level eines 6.Klässlers.

    Wie sich dabei Frauen fühlen, wenn sie so einen menschenverachtenden Dreck lesen müssen, und mit lesen müssen, dass sowas als "Kunst" verkauft werden soll, das ist Vielen hier egal.

    Ein AGARACK setzt diesen Dreck vom Lindemann tatsächlich mit dem "Erlkönig" gleich, ohne ihn selbst gelesen zu haben.

    Das bringt die Bigotterie hier gänzlich auf den Punkt.

    Ihr solltet euch alle mal was schämen.

  • 8G
    80410 (Profil gelöscht)

    Ahja. Kunstfreiheit ist mal wieder nur dann geil, wenns um die eigene Kunst geht. Ansonsten ist sie Verrohung/Verherrlichung/Anstiftung/Gewalt/undDenktEigentlichMalEinerAnDieKinder und gehört weg, am besten verboten, denn Leute die sowas produzieren müssen ja irgendwie irre sein oder Dreck am Stecken haben.

    Früher nur in der Welt, heute auch in der taz.

  • Ein schlechtes Gedicht von vor Jahren als Schuldbeweis?

    Muss man noch darüber reden, dass das völliger Unsinn ist?

    • @Rudolf Fissner:

      Sieht ganz so aus. Diesen "Goethe" sollte man übrigens auch dringend reevaluieren. Habe da ein Gedicht namens "Erlkönig" oder so gelesen, in dem es ziemlich klar um Kindesmisshandlung geht. Ich glaube, es sagt viel über unsere Rape Culture aus, dass wir so jemanden noch verherrlichen.

  • Das Shelby Lynn gerade auf Twitter klagestellt hat, keineswegs behauptet zu haben, von Lindemann vergewaltigt worden zu sein, läßt den Artikel zu einer weiteren spekulativen Peinlichkeit (Gibson, Amber Heard etc.) werden.

  • Interessant, wie hier (leider wie zu erwarten) Vergewaltigung verharmlost wird und Möchtegern-Prosa, die deutlich aufzeigt, was das für einer ist, als "Kunstfreiheit" verteidigt wird.

    Aber das ist die deutsche Gesellschaft von 2023.



    Die hat sich komplett abgeschafft. #rapeculture

  • Also, diesem Kommentar kann ich wirklich in keiner Form zustimmen. Bei allem Respekt: "Es sagt viel über unsere Rape Culture aus, dass so was überhaupt durchgeht." ist eine Argumentationskette, wie ich sie sonst vor allem von z.B. evangelikalen Christen kenne. Wenn Kunst sich scheuen muss, unappetitliche Blickwinkel oder auch inakzeptable Taten zu besingen, dann ist die Kunst nicht frei. Kunst, die nicht direkt zu Straftaten aufruft oder offen gegen andere Gesetze verstößt (Holocaustleugnung etc.) darf und soll besingen, was immer sie möchte. Es muss einem ja nicht gefallen. Wer denkt, Kunstfreiheit würde nur für Kunst gelten, die nicht radikal gegen die eigene (persönliche) Schmerzgrenze verstößt, der ist im Grunde gegen Kunstfreiheit.

    • @Agarack:

      Geschenkt. Verbieten muss man diese "Maus-Haus-Schüttelreime" tasächlich nicht.



      Der wesentliche Punkt der Kolumne ist aber (zumindest aus meiner Sicht)



      dass Herr Lindemann und sein "lyrisches Ich" mutmaßlich deckungsgleich sind.

      • @Zecke:

        ...was ja angesichts der aktuellen Beweislage ("Jemand hat etwas behauptet") eine ziemlich steile These ist.

        • @Agarack:

          Deshalb "mutmaßlich".

          Lesen Sie gerne die Kommentare unter dem Tweet der Frau, das dürfte Sie für den Schreck entschädigen, dass es hier Menschen gibt, die ihr erstmal glauben.

    • @Agarack:

      und deine "Argumentations"kette ist also die Verteidigung der Verherrlichung von Vergewaltigungen?

      ABer immer wieder interessant, wie Deutsche Vergewaltiger schön reden.



      (siehe Merz)

      • @Tyramizou:

        Ich verteidige nicht die Verherrlichung von Vergewaltigung, sondern die Kunstfreiheit. Diese beinhaltet auch Werke, die aus mancher Sicht eine Verherrlichung von Vergewaltigung oder anderen Verbrechen darstellen könnten. Das nennt sich gemeinhin "Auseinandersetzung". Siehe auch "Jeanny" von Falco oder diverse Heavy-Metal-Werke; oder aktuelle Serien wie "Dahmer". Sie müssen das ja nicht gut finden, ich persönlich halte einige der genannten Werke auch für geschmacklos. Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen "geschmacklos" und "verbotswürdig", und dieser Unterschied fehlt in der Kolumne.

    • @Agarack:

      Wenn Kunst Straftaten schönredet, ist das unter Umständen der erste Schritt, andere zu animieren, sie zu begehen.

      Ich habe die Autorin nicht so verstanden, dass sie ein Verbot will.

      Ich habe sie so verstanden, dass sie schon zufrieden wäre, wenn diese Personenn Lindemann nicht zur Seite gesprungen wären.

      Dem Satz "Es sagt viel über unsere Rape Culture aus, ..." kann ich auch nicht zustimmen, aber aus einem anderen Grund:

      Bei mir geht das auf keinen Fall durch, und meine Rape Culture ist das nicht.

      • @rero:

        Zitat aus dem Artikel: "Selbst wenn es sich doch „nur“ um Lindemanns lyrisches Ich handelt: Muss man Vergewaltigungsfantasien veröffentlichen?"



        Kombiniert mit dem oben zitierten Satz "Es sagt viel [...] aus, dass so was überhaupt durchgeht" kann ich aus diesen Äußerungen nur schließen, dass sich die Autorin wünscht, "so etwas" solle nicht veröffentlicht werden. Das ist eine Verbotsforderung. Das es reichen würde, dies nicht aktiv gut zu finden, gibt der Text so schlicht nicht her, das ist ihre Ansicht, aber nicht die in diesem Text dargelegte Sichtweise. Die in anderen Absätzen mitschwingende Unterstellung, solche Texte würden nur Leute veröffentlichen, die die dargestellten Dinge auch im echten Leben praktizieren (möchten), tut da ihr übriges.

  • Ich denke, die Kolumnistin hat hier zwei Themen vermischt, die getrennt betrachtet werden sollten. Das erste sind die Handlungen und Vorwürfe der sexuellen Gewalt, die geklärt werden müssen. Das zweite ist Poesie und Kunst: Kann Poesie ein Spiegel der Seele und der Taten des Autors sein? Ja, aber sie ist kein Beweis dafür, dass der Autor sexuelle Gewalt und Vergewaltigung gegen Frauen oder vielmehr gegen Menschen begangen hat. Mit anderen Worten: Das künstlerische Schaffen beweist nichts. Was passieren sollte, ist, dass Anschuldigungen wegen sexueller Gewalt untersucht werden und nicht wegen der Gedichte, die der Beschuldigte geschrieben hat. Der andere Punkt ist, sollten Veröffentlichungen, die Gedichte mit einem hohen Anteil an sexueller Gewalt enthalten, nicht zugelassen werden? Meine Antwort ist nein, genauso wie ich gegen die Zensur von Reggaeton bin, auch wenn es sich um frauenfeindliche und sehr geschmacklose Musik handelt, denn sie ist Teil des freien Ausdrucks von Kunst und kann sehr schlechte Kunst sein, aber wir sollten sie nicht zensieren, sondern darüber diskutieren. Zensur führt nur zu noch mehr Zensur, und das gilt für alle. Wichtig ist, dass die Vorwürfe der sexuellen Gewalt untersucht werden und dass es einen Prozess gibt und nicht nur Anekdoten.

    • @alf...:

      Das Problem ist allerdings, dass "frauenfeindliche und sehr geschmacklose Musik" einen - insbesondere für Frauen und Queers - sehr messbaren negativen Effekt auf die Lebenswirklichkeit vieler Menschen hat, siehe deutscher Gangsta-Rap.



      Die angestrebten "Diskussionen" finden größtenteils ohne die Produzenten und Konsumenten dieses Schunds statt, weil auf dieser Seite zynisch Gewinn gemacht werden will und/oder weil die kognitiven Kapazitäten dafür überhaupt nicht ausreichen.



      ich behaupte mal, eine Zensur und Ächtung von Bushidos Ouvre wäre kulturell gesehen ein Fortschritt.

      • @Kabelbrand Höllenfeuer:

        "ich behaupte mal, eine Zensur und Ächtung von Bushidos Ouvre wäre kulturell gesehen ein Fortschritt."



        Ich behaupte mal, die Messung kulturellen Fortschritts ist sehr schwierig, vermutlich verdammt subjektiv und zu sehr großen Teilen Geschmackssache.



        Dafür Meinungs- und Kunstfreiheit zu opfern...

      • @Kabelbrand Höllenfeuer:

        Wir müssen Bushido nicht zensiert, wir müssen uns bilden, sodass wir als Gesellschaft verstehen, was nicht gut ist an Buschido. Zensur ist kein Fortschritt, es kann kein Fortschritt sein. Die andre Seite wird auch dasselbe sagen, "wenn die queere Literatur zensiert, wäre kulturell gesehen ein Fortschritt" und ich sage NEIN, es ist kein Fortschritt, es macht uns als Menschheit ärmer.

    • @alf...:

      Blubb.

      Es ist ja nicht nur das superschlechte Gedicht, was deutlich macht, auf was der Sänger steht.

      Es ist seit der allerersten Scheibe von Rammstein klar.

      Die Frage ist:

      Muss man Vergewaltigungsfantasien (die genau das darstellen, was im Übrigen passiert ist) wirklich drucken, vor allem, wenn es superschlecht geschrieben ist?



      Muss man davon echt ein Buch machen?



      Sagt viel über diesen Sänger aus, auch sehr viel über den Verlag.

      "darüber diskutieren" - selten soviel Schwachsinn in einem einzigen Kommentar gelesen.

      Man muss keinen Vergewaltigern ne Bühne geben, genauso wie man Nazis keine Bühne geben sollte.

      "Rechte für Frauen" ist in diesem weißen Patriarchat eh schon ein riesengroßes Problem, dass die Opfer bei der Polizei keine Hilfe finden das nächste Problem.

      Aber du willst ja darüber "diskutieren"

      Du hast den Schuss nicht gehört!

  • Danke, Isabella.

    Du bringst das kurz und knapp auf den Punkt.

    Und du sagst Alles, was dazu gesagt werden muss.

    Danke.

  • Kunstfreiheit gilt bekanntermaßen nur wenn uns die Kunst passt, anderenfalls ist sie - links wie rechts - ein Symptom des Sittenverfalls.

    Und wenn "Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt" im Radio läuft singen wir den Refrain mit.