Vorstoß aus Niedersachsen: „Catcalling“ soll verboten werden
Hinterherpfeifen auf der Straße, anzügliche Kommentare: Frauen müssen kein Freiwild sein, meint die niedersächsische Justizministerin.
„Viel zu viele Mädchen und Frauen müssen bislang erleben, dass Männer sie mit Worten oder Gesten zum bloßen Sexualobjekt degradieren“, sagte Wahlmann. Sexuell belästigende Äußerungen und damit vergleichbare nonverbale Verhaltensweisen seien „nicht harmlos – und schon gar kein Kompliment“.
Als „Catcalling“ hat dieses Phänomen in den vergangenen Jahren vermehrt Aufmerksamkeit bekommen: Gemeint sind damit Pfeif- oder Kussgeräusche, aufdringliche Blicke, vermeintliche Komplimente, anzügliche Bemerkungen, Kommentare über das Äußere oder auch sexuelle Belästigung auf Social Media.
Einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zufolge sind 97,2 der Täter*innen männlich. Frauen und diverse Personen dagegen sind deutlich stärker als Männer von Catcalling betroffen. 93,4 Prozent aller Befragten berichteten von nonverbalem Catcalling in Form von Pfeifen, Anstarren oder Anhupen, 75,4 Prozent von anzüglichen Bemerkungen, sexuellen Fragen und obszönen Witzen oder sexuellen Aufforderungen. Verfolgung, sexuelle Annäherungsversuche und Aufdringlichkeit erlebten 72,2 Prozent der Teilnehmer*innen.
Je jünger, desto mehr
Je jünger die Befragten, desto mehr wurden sie zur Zielscheibe. Während 53,6 Prozent der über 45-Jährigen über unterschwellige sexuelle Kommentare oder Gesten klagten, waren es bei den 16- bis 19-Jährigen 82,1 Prozent.
Catcalling findet besonders oft an öffentlichen Plätzen wie Straßen oder Parks und im öffentlichen Nahverkehr statt, in Clubs und Kneipen, aber auch im Internet und an Universitäten. Nur 5 Prozent der Opfer meldeten ihre Catcalling-Erfahrung der Polizei. Das Erlebte sei ihnen zu „trivial“ erschienen, und ihnen hätten die Beweise gefehlt, so die Studie.
Damit sich das ändert, hat die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Salzgitter, Simone Semmler, 2022 eine Meldeplattform für Catcalling einrichten lassen. „Es braucht ein deutliches, sichtbares, rechtliches Zeichen, dass dieses Verhalten unrecht ist“, sagt Semmler, die bei ihrem Vorstoß mit einem Netzwerk aus Frauenbüros und Gleichstellungsbeauftragten zusammengearbeitet hat, die Aktion trug den Namen „#kein Kompliment“.
Sie sei „entzückt“, dass die Aktionen nun Wirkung zeigten, sagt Semmler. Es brauche das Zeichen, um einerseits die Täter in ihre Schranken zu weisen und andererseits zur Bestätigung der Wahrnehmung der Betroffenen, dass nicht tolerierbar ist, was ihnen geschieht.
Mit Zeugen nicht unmöglich
Für eine Strafverfolgung braucht es Beweise, das ist Semmler klar. „Mir ist bewusst, dass das schwierig ist, aber mit Zeugen nicht unmöglich.“ Vor rund 30 Jahren hätten die alten Männer im Bundestag gelacht, als Petra Kelly von den Grünen Vergewaltigung in der Ehe als Strafratsbestand forderte. Heute würde niemand mehr das Unrecht infrage stellen. Warum solle das bei Catcalling anders sein?
„Hast du kurz Bock auf eine Runde Sex?“, „Geiler Arsch, da kann man was machen“: Das sind nur zwei Beispiele von hunderten, die Hannoveranerin Lisanne Richter mit Kreide auf die Straße malt. Richter, die auch den Instagram-Channel „Catcalls of Hannover“ gegründet hat, ist Vorsitzende des Vereins „Chalk Back Deutschland“, der solche Aktionen in vielen Städten durchführt.
Eine Aufnahme von verbaler Belästigung ins Strafgesetzbuch gebe Betroffenen Sicherheit, aber das reiche nicht, sagt sie. „Um dieses Verhalten nachhaltig zu beenden, braucht es gesellschaftliches Umdenken.“ In Hannover habe „Chalk Back“ die Ratsinitiative „Catcalling is over in Hannover“ angestoßen, dabei sei das Ordnungsamt geschult worden.
Im niedersächsischen Vorstoß wird der Begriff „Catcalling“ allerdings bewusst vermieden: Er könne als „unangemessen verniedlichend“ empfunden werden; insbesondere sei es herabwürdigend, „die Betroffenen mit Katzen gleichzusetzen“, heißt es in der Einführung des Gesetzentwurfs.
Weder Belästigung noch Beleidigung
Nötig sei die Ergänzung im Strafgesetzbuch, weil nicht-körperliche sexuelle Belästigung „derzeit grundsätzlich nicht strafbar und in der überwiegenden Anzahl der Fälle auch nicht als Ordnungswidrigkeit geahndet werden“ könne. Weder stellten Sprüche wie „Ich will dich ficken“ den Straftatbestand der sexuellen Belästigung dar noch den der Beleidigung. Ersterer setze eine körperliche Berührung des Opfers voraus; zweitere erfordere den Angriff auf die Ehre der betroffenen Personen. „Du Schlampe“ zum Beispiel gelte als Beleidigung der Ehre, „geiler Arsch“ hingegen nicht. Auch als Ordnungswidrigkeit können diese Taten meistens nicht verfolgt werden.
Dass eben nicht ein „verunglückter Flirtversuch“ zu einer Verurteilung führt, soll gewährleistet sein, indem nur belangt werden kann, wer „erheblich“ belästigt. Wie auch bei anderen Straftatbeständen braucht es für eine Verurteilung hier also schon einen umfassenden Angriff auf das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. In Frankreich, Belgien, Spanien, Portugal und den Niederlanden gibt es bereits entsprechende Tatbestände. Als Strafmaß ist eine Geldstraße oder eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr vorgesehen.
Ob mit dem niedersächsischen Vorstoß tatsächlich das Strafgesetzbuch erweitert wird, ist offen. Mit der Bundesratsinitiative müssen zunächst die anderen Bundesländer überzeugt werden, ehe auch der Bundestag zustimmen kann. Niedersachsen schätze die Erfolgsaussichten aber als gut ein, sagte eine Sprecherin Wahlmanns: „Das ist eine Sache, die über die Parteigrenzen hinweg überzeugt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt