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Tatort Spielplatz: Hier in Berlin-Pankow fand die Polizei den blutenden Neonazi Foto: Erik Irmer

Voreingenommene Ermittlungen?Bis aufs Messer

Ein Neonazi, zwei Antifas, drei Schwerverletzte. Bald stehen die beiden Linken vor Gericht, dabei gibt es noch eine Version jenes Abends im April 2024.

A m Ende ist da Blut, viel Blut. Eine Lache im Hausflur des graugetünchten Mietshauses im Nordberliner Stadtteil Pankow. Eine Blutspur von rund 200 Metern, die sich bis auf die Straße zieht, über einen Spielplatz hinweg, um eine weitere Ecke bis zu einer Brücke. Am 18. April 2024, ein Donnerstag, kurz nach 20 Uhr, liegen dort zwei Schwerverletzte, beide Antifaschisten. Auch sie umgibt eine Blutlache, sie haben tiefe, bis zu 15 Zentimeter lange Messerstiche in der Brust, im Oberschenkel und am Handrücken. Ein weiterer Schwerverletzter sitzt auf dem Spielplatz, ein Neonazi von der Splitterpartei III. Weg. Auch er mit Verletzungen, darunter einer klaffenden Schnittwunde am linken Unterschenkel.

An jenem Abend waren es alarmierte Polizisten, die den drei Verletzten Druckverbände anlegten und sie so wohl vor dem Verbluten retteten. Alle drei Männer mussten operiert werden. Polizisten fanden im Flur des Pankower Mietshauses die Waffe, die das Blutbad verursachte: ein schwarzes Klappmesser, blutverschmiert.

Sicherheitsbehörden und Medien ordneten die Auseinandersetzung schnell als neuen Höhepunkt linksextremer Gewalt ein. Ein Angriff militanter Antifaschisten auf einen Rechtsextremen. Eine Eskalation. Das Boulevard-Blatt BZ schrieb, es seien drei Linke gewesen, die auf den Neonazi „eingestochen“ haben sollen, einer sei flüchtig. Die Bild spekulierte über einen Angriff der linken „Hammerbande“, weil nahe des Tatorts auch ein Stoffbeutel mit einem Hammer gefunden worden sei. Als „Hammerbande“ wird die frühere Antifa-Gruppe um die Leipzigerin Lina E. bezeichnet, die mehrere schwere Angriffe auf Neonazis verübte, teils auch mit Hämmern.

Und auch die Parteifreunde des Neonazis vom III. Weg reihten sich ein und sprachen von „politischem Terror“. Dann hörte man lange nichts.

Die Ermitt­lungen wurden so vorein­genommen und so zu Lasten der Ange­klagten geführt, wie ich es selten erlebt habe

Lukas Theune, Anwalt der beschuldigten Antifaschisten

wochentaz

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Umsetzung einer rechten Strategie?

Am 8. Dezember wird nun aber vor dem Amtsgericht Tiergarten ein Prozess zu der Attacke von Pankow beginnen. Und die Anklage schließt sich dem ersten Eindruck der Medien und des Neonazis an: Sie richtet sich laut Gericht und Staatsanwaltschaft ausschließlich gegen die beiden Antifaschisten.

Doch vieles spricht dafür, dass sich die Situation auch anders zugetragen haben könnte, als es Boulevardmedien und Staatsanwaltschaft verbreiten. Die taz hat die Ermittlungen nachvollzogen, mit Zeugen gesprochen und sich vor Ort in der Nachbarschaft kundig gemacht. Demnach gibt es Hinweise darauf, dass an jenem Abend der Neonazi das Messer geführt und zugestochen haben könnte – und nicht die Antifaschisten.

Am Tatmesser gibt es nach taz-Informationen keine Fingerabdruckspuren, von keinem der Beteiligten. Es waren die Anwälte der angeklagten Antifaschisten, die auf eine Untersuchung des Messers in den Ermittlungen drängten – um zu zeigen, dass es dem Neonazi gehört habe. Der wiederum war am Tatabend den Antifaschisten noch bis auf einen Spielplatz hinterhergejagt. Fragen der Ermittler, wem das Tatmesser gehörte und wer es einsetzte, ließ er unbeantwortet. Seine Wohnung wurde bis heute, anders als bei den Antifaschisten, nicht durchsucht. Nach Willen der Anklage soll er straffrei bleiben, weil er in Notwehr gehandelt habe.

Dabei spricht einiges dafür, dass der Neonazi nicht unvorbereitet in diesen Abend ging. Die schweren Stichverletzungen könnten auch Umsetzung einer Strategie sein, welche die Neonaziszene seit einiger Zeit explizit ausgibt: einen tödlichen Ausgang bei Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner – unter Ausnutzung von Notwehrsituationen – herbeizuführen.

Rechtsanwalt Lukas Theune Foto: dts Nachrichtenagentur/imago

Die Ermittlungsarbeit? „Ein Skandal“

Lukas Theune und Martina Arndt, die An­wäl­t*in­nen der Antifaschisten, sehen es genau so. „Die Ermittlungen wurden so voreingenommen und so zu Lasten der Angeklagten geführt, wie ich es selten erlebt habe“, kritisiert Theune. „Unsere Mandanten hatten nichts mit dem Messer zu tun.“ Die Ermittlungsarbeit sei „ein Skandal“.

Die Berliner Staatsanwaltschaft sieht es anders. Sie wirft den beiden Antifaschisten eine gemeinschaftliche, schwere Körperverletzung vor. Zusammen mit einem geflüchteten und bis heute unbekannten Mittäter hätten die beiden Männer, Anfang dreißig, politisch motiviert, den Neonazi an besagtem 18. April 2024 im Flur seines Hauses aufgelauert, unvermittelt auf den 24-Jährigen eingeprügelt und mit einem Messer auf ihn eingestochen. Dann habe sich die Auseinandersetzung vor die Haustür verlagert, auf den benachbarten Spielplatz. Selbst als der Neonazi schon am Boden lag, sei er noch mit einer Glasflasche auf den Hinterkopf geschlagen und mit Reizgas besprüht worden, so die Anklage.

Die Verletzungen der Antifaschisten – darunter ein potentiell lebensgefährlicher Stich in die Brust und ein Schnitt in den Oberschenkel – und wie es zu diesen kam, erwähnt die Anklage nach taz-Informationen dagegen nicht. Als Opfer wird der Rechtsextremist geführt, der im Prozess auch als Nebenkläger teilnehmen wird. Die Anklage hält fest: Sofern er es war, der die beiden Antifaschisten so schwer verletzte, habe er dies aus Notwehr getan – und bleibe damit straffrei.

Der Neonazi, ein Bauarbeiter, ist schon seit Jahren in der rechtsextremen Szene aktiv. Fotos zeigen ihn zwischen 2019 und 2021 bei Aktionen der „Jungen Nationalisten“, dem Jugendverband der NPD, die heute als „Heimat“ firmiert. Später tauchte er bei Aufmärschen des III. Wegs auf, teils im grünen Pullover der Partei – nicht nur in Berlin, sondern auch in Sachsen, Thüringen, Bayern. Er zählt zu den Umtriebigsten der Partei. Bilder zeigen ihn immer wieder bei Kampfsporttrainings, auch in öffentlichen Parks und Sportanlagen, teils mit Jugendlichen.

Es bleibt nicht beim Training

Das ist beim III. Weg Strategie. Die Partei zielt auf jugendlichen Nachwuchs – und auf Drill mittels Kampfsport. Sie gehört zu den extremsten in Deutschland, wurde 2013 von einstigen Kameradschaftlern gegründet, um Verbote zu umgehen. Das Programm des III. Wegs lehnt sich an die NSDAP an. Ein Leitbegriff ist dabei immer wieder: der politische Kampf. Die „deutsche Kultur“ werde „auch mit der Faust“ verteidigt, eine eigene Arbeitsgemeinschaft heißt „Körper und Geist“. Auf Zeltlagern veranstaltet die Partei frühmorgendliche Appelle und Boxkämpfe. Vor allem der Parteinachwuchs, die „Nationalrevolutionäre Jugend“ (NRJ), wird hier gedrillt. Es sind diese Kreise, in denen sich der 24-Jährige aus Pankow bewegt.

Und es bleibt nicht beim Training. Immer wieder fallen Mitglieder des III. Wegs und der NRJ mit Gewalt auf der Straße auf. In Berlin attackierten Parteianhänger im Juli 2024 am Bahnhof Ostkreuz junge Linke mit Schlagstöcken, Holzknüppeln und Pfefferspray auf dem Weg zu einer Demo gegen rechts. Zwei Opfer, 15 und 39 Jahre alt, mussten ins Krankenhaus.

Ende Mai dann versuchten laut Zeugen acht Vermummte mit Bezug zum III. Weg in eine linke Kneipe mitten im Berliner Szenekiez Friedrichshain, in der Rigaer Straße, einzudringen – bewaffnet mit Hämmern und Schlagstöcken. Und im Juni überfielen Vermummte ein Vielfalts-Fest in Bad Freienwalde in Brandenburg, hier wurden zwei Menschen verletzt. Der einzige Beschuldigte, den die Staatsanwaltschaft bisher ermitteln konnte: ein Aktivist vom III. Weg.

Auch der Verfassungsschutz in Brandenburg attestiert der Partei und ihrem Nachwuchs in seinem Bericht für 2024: „Unter dem Vorwand der Selbstverteidigung befürwortet die ‚NRJ‘ Gewalt gegen politische Gegner.“ Bundesweit falle vor allem die Parteijugend in Berlin und Brandenburg „durch ihr aggressives Auftreten“ und „wiederholt provokative Aktionen gegen (vermeintliche) politische Gegner“ auf. In mehreren Fällen sei sie „an gewaltsamen Auseinandersetzungen“ beteiligt gewesen.

Mehrfach tatverdächtig

Nach taz-Informationen war auch der 24-jährige Neonazi aus Pankow bereits bei mehreren Vorfällen Tatverdächtiger. Er soll mit anderen vom III. Weg im Juli 2023 Teilnehmende eines CSDs in Berlin bedroht haben, teils mit Flaschen in den Händen, wie es auf dem antifaschistischen Recherche-Blog „Aus dem Weg“ heißt. Fotos des Vorfalls lassen für Außenstehende keine eindeutige Identifizierung zu.

Ein Jahr später wurde ein öffentliches Kampftraining von ihm und Parteifreunden in Berlin-Lichtenberg von der Polizei beendet – beschlagnahmt wurde ein Springmesser. Und im Mai erwischte die Polizei den 24-Jährigen dann mit einem unerlaubten Tierabwehrspray. Einen Strafbefehl von 40 Tagessätzen zu je 50 Euro bekam er dafür, also 2.000 Euro. Eine Anfrage zu den Vorwürfen ließ sein Anwalt unbeantwortet.

Auch am Abend des 18. April 2024 kam der Mann offenbar vom Kampfsport. Nach taz-Informationen trug er einen Rucksack, darin Boxhandschuhe und III. Weg-Bekleidung. Wie die Antifaschisten auf ihn aufmerksam wurden, woher sie seine Adresse kannten, ist ungeklärt. Schon länger aber veröffentlichten antifaschistische Recherche-Blogs Fotos von Aktivitäten des III. Wegs, auch von dem 24-Jährigen, der dort als „Kader“ der Szene bezeichnet wird. Die beiden Antifaschisten werden von Behörden der linksradikalen Szene zugerechnet. Einer soll an einer Besetzungsaktion beteiligt gewesen sein, der andere Boxerfahrung haben. Klar ist nur – anhand der Blutspuren und ihrer Verletzungen –, dass sie schließlich im Flur des Wohnhauses des Neonazis standen.

Die Stiche könnten auch die Umsetzung einer Strategie sein, welche die Neonazi­szene seit einiger Zeit explizit ausgibt

Warum und was genau dort geschah, dazu schweigen die beiden Antifaschisten bisher. Zeugen zu der Situation im Hausflur gibt es offenbar nicht. Deshalb gibt es bisher nur eine Version der Vorgänge: die des Neonazis. Nach taz-Informationen schilderte er den Ermittlern über eine schriftliche Erklärung seines Anwalts den Tatverlauf – genau so, wie er nun in der Anklage steht. Die Angreifer hätten sich in seinem Haus hinter einer Ecke versteckt, es seien sogar vier bis sechs Personen gewesen. Dann sei alles schnell gegangen. Ohne eine Äußerung seien sie auf ihn losgegangen, es habe einen längeren Kampf gegeben, bis jemand „Abbruch“ gerufen und Pfefferspray gesprüht habe. Dann habe sich der Kampf vor die Haustür und auf den Spielplatz verlagert. Er habe versucht, einen Täter festzuhalten, habe aber weiter Schläge und Tritte eingesteckt. Die Angreifer seien dann geflüchtet, er habe sich auf eine Bank gesetzt. Alles sei sehr chaotisch gewesen.

Wer führte das Messer?

Auf die explizite Frage der Ermittler aber, wer das Messer führte und wem es gehörte, dazu sollen er und sein Anwalt nichts geantwortet haben.

Auch die Ermittlungen konnten das nicht klären. Zwar fanden sich an dem Messer Blutspuren von allen drei Beteiligten. Wem die Tatwaffe aber letztendlich gehörte, blieb offen. Erst nachdem die Verteidiger der Antifaschisten mehrmals darauf gedrängt hätten, sei das Messer auf Fingerabdrücke untersucht worden. Entsprechende Spuren konnten da aber nicht mehr festgestellt werden.

Nach taz-Recherchen gibt es aber Zeugen, die zumindest das Ende der Auseinandersetzung auf dem Spielplatz beobachteten. Ein Anwohner filmte sogar das Geschehen von seinem Balkon aus. In dem kurzen Video ist zuerst ein Gerangel zwischen dem Neonazi und drei schwarz Gekleideten zu sehen. Dann rennen die Vermummten, teils humpelnd, davon – und der Neonazi hinterher. Er verfolgt die Vermummten durch ein Zauntor bis auf einen Spielplatz, wirft irgendwann seinen Rucksack ab, so, als würde er sie noch schneller einholen wollen. Ein weiterer Zeuge habe einen Ausruf gehört: „Ich werde dich töten.“ Unklar, von wem.

Der Anwalt des Neonazis, Matthias Bauerfeind, reagierte nicht auf Anfragen der taz. Auch Bauerfeind ist indes kein Unbekannter: Der Anwalt aus Bayern ist selbst Teil des III. Wegs, stand dort auch schon hinterm Rednerpult, war früher bei der NPD aktiv.

Für Lukas Theune, der einen der Angeklagten verteidigt, spreche nach Aktenlagen dagegen viel dafür, dass es der Neonazi war, der das Messer eingesetzt habe. „Es war wohl sein Messer. Es gibt daran keine Fingerabdrücke unserer Mandanten.“ Warum aber waren die Angeklagten in dem Hausflur? Das werde der Prozess klären müssen, sagte Theune der taz. „Aber selbst wenn sie einem der gefährlichsten Neonazis von Berlin eine Ansage hätten machen wollen, rechtfertigt das keinen lebensgefährlichen Angriff mit einem Messer.“ Und die schwere Verletzung des Neonazis? Die, so Theune, dürfte er sich selbst bei seinem Angriff zugefügt haben. Theune weist darauf hin, dass die rechtsextreme Szene sich genau auf ein solches Szenario wie in Pankow lange vorbereitet hatte. „Der eine Stich erfolgte wie trainiert in den Oberschenkel, wo eine Hauptarterie verläuft. Unsere Mandanten hätten sterben können.“

Eine Blutspur führte damals durch Pankow Foto: Erik Irmer

Rechte Pläne, Linke zu töten

Ob sich der Neonazi auch selbst verletzt haben könnte, ist aus medizinischer Sicht offen. Als übliches Tatmittel militanter An­ti­fa­schis­t*in­nen galten Messer bisher jedenfalls nicht – anders als bei Neonazis. Dafür setzten Autonome zuletzt aber durchaus Schlagstöcke oder auch Hämmer ein. Ein Hammer soll in einem Beutel in der Nähe der verletzten Antifaschisten gefunden worden sein.

Zwischenzeitlich rekonstruierten die Ermittler nach taz-Informationen eine weitere Version des Ablaufs, nach der die Antifaschisten den Neonazi mit einem Hammer und Fäusten im Hausflur attackiert hätten. Worauf der Neonazi es gewesen sei, der ein Messer zog und damit die Antifaschisten verletzt habe. Einem der Angeklagten sei es dann gelungen, dem Neonazi das Messer zu entreißen, meinen die Ermittler. Er habe den nach ihm tretenden Neonazi damit am Unterschenkel verletzt und das Messer fallen lassen. In der finalen Anklage aber ist nur noch die Rede davon, dass die beiden Antifaschisten das Messer besaßen und einsetzten.

Wofür es Belege gibt: In der rechtsextremen Szene wurde sich schon länger auf solche Angriffe von Linksradikalen vorbereitet, auch mit Plänen, in solch einem Fall Linke zu töten.

2016 hatten Rechtsextreme in Leipzig-Connewitz die Wolfgang-Heinze-Straße gestürmt und dort Geschäfte und Passanten angegriffen. Eine Gruppe Linksradikaler um die Leipziger Lina E. und Johann G. antworteten ab 2018 mit militanten Überfällen auf Neonazis in Thüringen und Sachsen. Lina E. und drei Mitangeklagte wurden dafür im Jahr 2023 zu bis zu gut fünf Jahren Haft verurteilt. Johann G. war da noch flüchtig – in Kürze wird er nun in Dresden vor Gericht stehen. Im Februar 2023 gab es zudem Attacken auf Rechtsextreme in Budapest, wo sich alljährlich Neonazis aus Europa zu einem Großaufmarsch versammeln. Eine in dem Fall Beschuldigte, Hanna S., wurde zuletzt in München zu fünf Jahren Haft verurteilt. Gegen eine weitere beschuldigte Person, Maja T., läuft in Ungarn ein Prozess. Bis zu 24 Jahre Haft drohen T.

Das Szenemagazin heißt NS Heute

In der rechtsextremen Szene wurde nach den Angriffen Rache geschworen. Schon 2021 äußerte sich etwa der Thüringer Szenekader Thorsten Heise, damals wie heute Bundesvizechef der NPD/Heimat, ebenso wie der damalige Thüringer NPD/Heimat-Funktionär Patrick Wieschke, der forderte: „Deutschland braucht jetzt keine Tastaturkrieger mehr, sondern Männer.“

Tatsächlich hatte der Eisenacher Neonazi Leon R. bereits bei einem der Angriffe durch die Gruppe um Lina E. ein Messer gezogen. Die Antifas ließen daraufhin von ihm ab, griffen aber noch drei Rechtsextreme an, die Leon R. zu Hilfe eilen wollten. Später standen Leon R. und seine Kampfsportgruppe „Knockout51“ selbst vor Gericht. Die Bundesanwaltschaft warf ihnen vor, gewaltsame Auseinandersetzungen mit Linken gesucht zu haben. Im Herbst 2021 habe die Neonazi-Gruppe auch über die Möglichkeit eines weiteren Angriffs auf Leon R. sinniert – mit dem Plan, einen solchen „für einen tödlichen Gegenangriff zu nutzen“.

Der Messereinsatz von Leon R. wurde in der Neonaziszene rege diskutiert. Ende 2022 sprach etwa der langjährige Berliner NPD/Heimat-Aktivist Sebastian Schmidtke in einem Video-Interview im Zusammenhang mit Angriffen von An­ti­fa­schis­t*in­nen darüber, dass Messer etwas seien, vor dem es einen gewissen Respekt gebe. „Was jeder jetzt daraus macht, muss jeder selber wissen“, sagt Schmidtke dazu. An anderer Stelle erklärte er, ein Messer sei eine Sache, „die zumindest erst mal für jeden einzelnen interessant sein könnte, für seine Umgangsformen, wie er nach draußen geht“.

Noch weiter angeheizt wurde die Szenedebatte im Neonazimagazin NS Heute. Das Blatt ist subkulturell und organisationsübergreifend ausgerichtet und gilt als Stichwortgeber der deutschen Neonaziszene. Auch Parteimitglieder des III. Wegs treten als Autoren auf, die Partei veröffentlicht Schriften im gleichen Verlag. In Beiträgen aus den Jahren 2021 und 2023 hieß es in dem Magazin: Man müsse dafür sorgen, dass aus jedem weiteren Angriff von links „ein Desaster“ werde. Und damit, so der Autor, sei „sicherlich nicht die kurzzeitige Festnahme durch die Polizei gemeint, sondern ein richtiges Desaster“. Es war ein Aufruf, wie er so unverhohlen lange nicht mehr in der Szene verkündet wurde. Versehen wurde er mit einem expliziten Hinweis: Man müsse schauen, „wie das Notwehr- und Nothilferecht bei konkreten Überfällen am effektivsten anzuwenden ist“. Es sei dieser gesetzliche Rahmen, „den wir ausschöpfen können und sollten“.

„Wie ein Löwe“

Das liest sich wie eine Anleitung für das, was am Abend des 18. April 2024 in Pankow passiert sein könnte.

Ob sich der 24-jährige Neonazi aus Pankow auf einen möglichen Angriff vorbereitete, auch dazu lässt sein Anwalt eine taz-Anfrage unbeantwortet. Aber klar ist, dass er an jenem Aprilabend auf seine Kampfsporterfahrung bauen konnte. Die Neonazi-Partei III. Weg schlachtete dies nach der blutigen Auseinandersetzung direkt aus. Bei ihm seien die Angreifer „an den Falschen geraten“, verlautbarte die Partei. Er habe sich „wie ein Löwe gegen die rote Bande verteidigt“. Und die Partei kündigte Rache an: „Die Reaktionen darauf werden die Entsprechenden sein.“

Dass es zu dieser Rache bisher nicht kam, hat wohl auch mit der Polizei zu tun. Schon kurz nach der Tat sollen Beamte nach taz-Informationen den Neonazi ermahnt haben, keine Vergeltung zu üben. Die gleiche Ansage soll es auch für mindestens einen engen Parteifreund gegeben haben.

Verteidiger Lukas Theune dagegen kritisiert scharf, dass gar nicht geprüft worden sei, ob der Neonazi in Notwehr gehandelt habe. „Das wird einfach behauptet.“ Ein Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft sagte der taz, wer bei der Tat wann welche Verletzungen verursachte und ob der 24-Jährige dabei in Notwehr handelte, sei letztlich „durch die Hauptverhandlung zu klären“. Zudem verwies der Sprecher darauf, dass es parallel auch noch ein Verfahren gegen den 24-Jährigen wegen der Auseinandersetzung gebe – das noch offen sei und dessen Ausgang ebenfalls vom Prozessausgang abhängig sei. Übersetzt heißt das: In dem Verfahren gegen den Neonazi passiert derzeit nicht viel – es wird nur relevant, sofern im Prozess festgestellt würde, dass er nicht in Notwehr handelte.

Einen Rückschlag aber verzeichnete die Staatsanwaltschaft bereits. Ursprünglich wollte sie den Prozess vor dem höherrangigen Landgericht Berlin führen. Dieses aber verwies die Anklage an das Amtsgericht Tiergarten, wo nun demnächst verhandelt wird – weil keine Straferwartung von mehr als vier Jahren Haft bestehe, so das Gericht.

Es kommt auf das Gericht an

Der Neonazi scheint derweil von den Geschehnissen am 18. April 2024 nicht sonderlich beeindruckt. Schon einen Monat danach war er in Pankow bei einem Kampfsporttraining dabei, unweit seiner Wohnung, wieder öffentlich auf einem Sportplatz – zusammen mit rund 20 anderen Neonazis, einige demonstrativ in Shirts des III. Wegs. Später tauchte er auch bei weiteren Aktionen seiner Partei in Berlin, Thüringen, Brandenburg und sogar Paris auf. Und seine Partei schmähte zuletzt in einem Text direkt die angeklagten Antifaschisten als „Kreaturen“, welche ihre „Bewegung“ attackieren würden. Davon werde man sich aber „nicht aus der Ruhe bringen lassen“, so der III. Weg. „Die Zeiten werden sich ändern.“ Das klang nach einer Drohung.

Es wird nun das Amtsgericht sein, vor dem die Beteiligten erstmals wieder aufeinandertreffen. Für die beiden Antifaschisten dürfte die Anspannung groß sein. Der Abend des 18. April lasse sie bis heute nicht los, sagt ihr Verteidiger Theune.

Das Gericht wird entscheiden, ob die beiden für mehrere Jahre in Haft wandern. Und ob der Neonazi seinem Treiben weiter folgenlos nachgehen kann.

Aus rechtlichen Gründen hat die taz in diesem Text auf die Nennung der Namen aller Beteiligten verzichtet.

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