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Vor dem Brexit-ReferendumEndspurt in einem gespaltenen Land

Die Argumente sind ausgetauscht. Aber was überzeugt am Ende – die Wirtschaftspros der EU-Befürworter oder die Zuwanderungsängste der Gegner?

Gehen oder bleiben – viele Briten sind noch gespalten Foto: dpa

LONDON taz | Die Argumente sind ausgetauscht, einer der längsten, schrillsten und angespanntesten Wahlkämpfe der britischen Geschichte ist vorbei. „Remain“ oder „Leave“, die EU verlassen oder drinbleiben: Am Donnerstag fällt das britische Wahlvolk eine Entscheidung, die beide Seiten als historisch bezeichnen.

Keiner Seite ist es im Endspurt des Brexit-Streits gelungen, den Diskurs zu beherrschen – das wurde auch bei der abschließenden TV-Debatte am Dienstagabend deutlich, als je drei Wortführer der beiden Lager vor 6.000 Zuschauern in der Londoner Wembley Arena aufeinander losgingen. Die EU-Befürworter bezichtigten ihre Gegner der Lüge, die EU-Gegner konterten mit dem Vorwurf der Angstmache.

„‚Leave‘ hat keine Antworten“, sagte Ruth Davidson, Führerin der schottischen Konservativen, als Wortführerin von „Remain“ in ihrem Schlusswort. „Wir hören auf die Experten. In der EU geht es euch besser“, wandte sie sich an das Publikum.

„Ihr bietet Angst, wir bieten Hoffnung“, antwortete zu tosendem Applaus der konservative Londoner Ex-Bürgermeister und Brexit-Wortführer Boris Johnson. „Ihr sagt, wir können das nicht. Wir sagen, wir können es. Ihr unterschätzt unser Land!“

Rechtlich ist es nicht bindend

Inhaltlich hat jedes Lager seine eigene Stärke, erläutert Ben Page, Leiter des führenden Meinungsforschungsinstituts Ipsos-Mori: Die EU-Befürworter setzen auf das Thema Wirtschaft und sagen, ein EU-Austritt führe zu ökonomischer Unsicherheit und damit in eine Rezession. Die EU-Gegner setzen auf das Thema Migration. Ein EU-Verbleib mache es unmöglich, den Zuzug aus anderen EU-Staaten nach Großbritannien zu steuern.

Auf keines dieser beiden Argumente hat die jeweilige Gegenseite eine überzeugende Antwort. Deswegen, so Page, wird der Ausgang der Volksabstimmung davon abhängen, ob in den Köpfen der Menschen am Wahltag eher Wirtschaft oder eher Zuwanderung das beherrschende Thema ist.

Wer und was?

Das ist die Frage: „Sollte das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen? Man kann „Bleiben“ (Remain) oder „Verlassen“ (Leave) ankreuzen.

Die stimmen ab: 46.499.537 registrierte Wählerinnen und Wähler. Wahlberechtigt sind alle auf britischem Staatsgebiet ansässigen Bürger Großbritanniens, Irlands und der Commonwealth-Nationen. Außerdem Briten im Ausland, die innerhalb der letzten 15 Jahre noch im Wahlregister gestanden haben. Die aktuellen Umfrage-Durchschnittswerte geben „Remain“ 45,3 % und „Leave“ 44,9 %. (d. j.)

Wenn schon der Ausgang des Referendums völlig offen ist, gilt das erst recht für die Frage nach seinen Folgen. Es wird leicht vergessen, dass ein Brexit-Votum nicht die geringste automatische Konsequenz hätte – rechtlich ist es nicht bindend.

Premierminister David Cameron, der vehement für den EU-Verbleib streitet, hat aber immer wieder betont, er werde das Ergebnis respektieren. Er könnte also nach einem Brexit-Votum gemäß Artikel 50 der EU-Verträge handeln und dem EU-Rat die Austrittsabsicht seines Landes mitteilen – dann würde ein vorerst auf zwei Jahre befristeter Verhandlungsprozess über die Modalitäten des Austritts beginnen, der nur einstimmig verlängert werden kann.

Alle EU-Regeln wären ungültig

Die Brexit-Befürworter sind gegen eine Anwendung von Artikel 50, weil sie nicht Cameron, sondern dem britischen Parlament die Initiative überlassen wollen.

Das Unterhaus, so sagen Brexit-Insider, könnte als Erstes das britische EU-Gesetz aus dem Jahr 1972 aufheben, das die britische EU-Mitgliedschaft regelt. Dann würden automatisch alle EU-Regeln ihre Gültigkeit in Großbritannien verlieren, die nicht in eigenen britischen Gesetzen niedergelegt sind.

In weiteren ersten Schritten könnte das Unterhaus die Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger, die nach Großbritannien wollen, aufheben.

Dass solche Schritte aus EU-Sicht Vertragsbruch wären, wäre in der Praxis egal. Das größere Hindernis für dieses Szenario ist, dass es im Parlament keine Brexit-Mehrheit gibt, Volksabstimmung hin oder her.

Suche nach Cameron-Ersatz hat begonnen

Die Brexit-Befürworter müssten also den Premier stürzen und einen ihnen genehmen Partei- und Regierungschef einsetzen, der die Abgeordneten auf Linie bringt. Das erfordert einen parteiinternen Wahlkampf, der nicht vor Herbst zu Ende gehen kann.

So oder so – sollten die Briten den Brexit beschließen, sind unmittelbare Auswirkungen unwahrscheinlich. Deswegen laufen auch die „Remain“-Warnungen vor sofortigen dramatischen negativen Konsequenzen etwas ins Leere, jenseits von kurzlebigen Turbulenzen an den Finanzmärkten. Eher dürften die „Leave“-Anhänger sich irgendwann wundern, warum nichts passiert.

Heftige politische Erschütterungen sind allerdings auch im Falle eines „Remain“-Sieges zu erwarten. Das Referendum hat die regierenden Konservativen tief gespalten, Cameron befindet sich mit großen Teilen der eigenen Partei im Krieg.

Die Suche nach einem neuen Regierungschef, der nach Monaten der Spaltung und Polarisierung für Konsens und Versöhnung steht, hat hinter den Kulissen längst begonnen – und keiner derjenigen, die in diesen Tagen die Schlagzeilen beherrschen, dürfte dafür in Frage kommen.

Durch die Brexit-Nacht führt am Donnerstag unser musikalischer Liveticker unter taz.de/brexit.

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8 Kommentare

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  • Ich halte 50/50 Ergebnisse bei Abstimmungen ohnehin für demokratisch aussagelos. Das ist dasselbe Ergebnis, das man bei rein zufälligem Ankreuzen der Punkte A) oder B) bei genügend Wählern auch erhalten würde. Solche Entscheidungen brauchen eine klare Mehrheit, um tatsächlich politisch tragbar zu sein. 51% sind aber keine klare Mehrheit der Bevölkerung, das heißt eigentlich nur "wir wissen auch nicht weiter". Wie soll man damit regieren? Wie auch immer das ausgeht, die Umsetzung wird politisch nur auf einem Bein stehen, weil die Hälfte der Bevölkerung dagegen ist. Das ist eine Volksbefragung mit der Ergebnis "mehr uneinig könnte das Volk sich gar nicht sein", übrigens auch eine politische Bankrotterklärung des "Gesunden Menschenverstands". Das Volk will mitreden und dann zuckt es nur mit den Schultern. Irgendwie eine sehr britische Art, nach einem Führer zu rufen.

    • @Mustardman:

      Wer kappe Mehrheiten infrage stellt, hat bestimmt auch Lösungen parat, die sogar nach einem Führer schreien. Demokratie ist die Macht der Mehrheit, uneingeschränkt.

      • @lions:

        Sie verstehen nicht, was ich meine. Wenn man so weitreichende politische Entscheidungen mit einer Mehrheit von 51% oder so durchziehen will, dann sollte man sich nicht wundern, wenn nach einem halben Jahr ein paar Prozent ihre Meinung ändern und man plötzlich Politik gegen die Mehrheit machen muss. Sollte der Brexit z.B. mit 49% scheitern, wird dieses Thema eben NICHT erledigt sein. Zu Recht. Das ist keine Demokratie, das ist Würfeln mit dem Schicksal.

    • @Mustardman:

      Politiker haben es echt schwer mit diesen doofen Wählern, die keine "klare" mehrheit produzieren. Ja, wie war das früher schön im real existierenden Sozialismus. Da mussten alle mit A) stimmen, und es herrschte eitel Sonnenschein.

  • Also ich als Brite hätte nicht wegen des Zuzugs von Ausländern, sondern wegen der undemokratischen Exzesse der EU-Kommission meine Probleme, für den Verbleib zu stimmen.

    Wenn z.B. CETA und TTIP ohne Parlamentszustimmung durchgedrückt werden, wäre ein Austritt vielleicht wirklich das kleinere Übel...

    • @XXX:

      Die Brexit-Befürworter wollen aber CETA und TTIP für GB, unabhängig von Europa. - also nix mit "kleineres Übel".

      • @LiebeSonneScheine:

        Jau, die Verhandlungsposition bei Abkommen mit den USA, China etc. wird für einzelne Länder garantiert nicht besser sein als für die ganze EU gemeinsam. Ich verstehe ja die ganze Aufregung, aber mit Realitätsverweigerung wird das nicht besser.

  • Stünde ich als deutscher Bürger vor dieser Entscheidung, würde ich auf jeden Fall alles unterstützen, was das Ende dieser EU befördern könnte. Beim Abwägen aller Vor- und Nachteile dieses Konstruktes überwiegen die negativen Aspekte derartig, dass die wenigen positiven schlichtweg zu vernachlässigbar sind.

     

    Unabhängig davon, ob nun also morgen die Briten den ersten Dominostein zum Fallen bringen oder nicht, werden sich immer mehr Bürger in allen Staaten der EU von diesem zutiefst undemokratischen und exzessiv neoliberalen Experiment abwenden. Auf welchem Wege auch immer: Dieses technokratische Europa der Banken und der oberen Zehntausend muss zum Einsturz gebracht werden. Vielleicht wäre dann endlich der Weg frei für ein Europa der Bürger, das auf demokratischer Basis eine wirklich gerechte Gesellschaft anstreben könnte.