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Wahlen mit 50-50-Ausgang in EuropaDie verdammte andere Hälfte

Nord gegen Süd, Alt gegen Jung, Oben gegen Unten: Wenn das Volk entscheiden darf, ist man sich nur so halb einig. Was tun gegen diese Spaltung?

Immerhin nicht schwarz-weiß: Luftballons vor dem Referendum in Schottland 2014 Foto: dpa

Wer die Fast-Food-Kette Subway aufsucht, ist theoretisch einem Nervenzusammenburch nah: Bei der Zusammenstellung des Sandwiches gilt es zwischen vier Brotsorten, 13 Fleisch- und drei Käsesorten, sieben Saucen und allerlei Tralala-Belägen zu wählen. Davon abgesehen, dass man auch noch aussuchen muss, ­welche Länge das Brot ­haben und ob es ­getoastet sein soll, gebe es genau 1.113.840 Möglichkeiten, ein „Subway-Sandwich“ zusammenzustellen, so steht es ­geschrieben auf der Webseite des Unternehmens. Und auch, dass man 3052 Jahre lang ­jeden Tag zu ­Subway ­gehen müsse, um jede ­mögliche Kombination mal ­gegessen zu ­haben. Will das jemand? ­Offenbar schon, denn Subway ist mittlerweile die größte Fast-Food-Kette der Welt. Differenzierung und ­Komplexizität kommen offen­bar gut an, wenn es um das schnelle Essen geht.

Leider verhält es sich in der ­Politik genau anders herum, denn hier will man nur noch zwischen zwei Belägen entscheiden. ­Belegtes Brot, mit Schinken oder mit Ei? Anders ausgedrückt: Wenn das Volk entscheiden soll, dann gibt es nur ein Ja oder Nein. Fifty-Fifty, das ist die neue magische Formel.

Der Brexit: 52 Prozent der Briten stimmten für den Austritt aus der Europäischen Union und hoffen nun auf eine strahlende Zukunft, 48 Prozent waren dagegen und haben jetzt Angst um das Fortkommen ihrer Nachfahren. Rein oder raus, zumindest bei dieser Frage leuchtet es einigermaßen ein, dass man sich eben für eine der beiden Varianten entscheiden muss – und doch verweisen die Zahlen auf einen Riss, der mitten durch die Gesellschaft Großbritanniens geht.

Ein anderes Beispiel: Die Zustimmungwerte für Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Jahre lang unangefochtenen Konsenskönigin der Deutschen. Seit der „Flüchtlingskrise“ sind ihre Zustimmungswerte ziemlich konstant bei 50 Prozent (zuletzt ermittelt von Infratest Dimap im Juni). Die Kanzlerin ist zum Touchstone geworden, zum Prüfstein einer Geisteshaltung, die nunmehr auf eine einzige Frage heruntergebrochen wird: Bist Du für oder gegen Flüchtlinge? Fifty-Fifty, auch hier.

Der Riss geht quer durch

Österreich: Aber so was von haarscharf wurde Alexander Van der Bellen Bundespräsident. Mit genau 50,3 Prozent schaffte er es in die Wiener Hofburg, der Rechtspopulist Norbert Hofer hatte gerade so das Nachsehen. Österreich hatte sich zu entscheiden zwischen Gut und Böse, grün oder blau, Fifty-Fifty, einmal mehr – auch wenn es unklar ist, ob es dabei bleibt.

Kopf oder Zahl? Sekt oder Selters? Trump oder Clinton? Pest oder Cholera?

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Während die politisch-ökonomisch-soziale Lage ein bedrückendes Grau geworden ist, drängt das Wahlvolk im ­Moment der Entscheidung zu einem ­klaren Schwarz oder Weiß – was des einen Licht ist, ist des anderen Schatten. Und ­wieder der Riss: Nord gegen Süd, Alt ­gegen Jung, Oben gegen Unten.

Wie kann eine Demokratie, die auf eine auf Kompromissen beruhende Mehrheit angewiesen ist, eine andauernde Fifty-Fifty-Spaltung überstehen? Und wie eine fragile Konstruktion wie die Euro­päische Union? Mit einem Fünfzig-Fünfzig-Ergeb­nis ist am Ende niemandem gedient, zwei Parteien ­stehen einander gegenüber, die die jeweilige ­Legitimität des knappen Ergebnisses keineswegs an­zuerkennen bereit sind. Kann man wirklich ­behaupten, dass Großbritannien sich darüber einig ist, die EU zu verlassen? ­Verkörpert Angela ­Merkel wirklich noch den ­deutschen Konsens? Herrscht in Österreich nun tatsächlich Zufrieden­heit mit dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen? Auf einer Arschbacke sitzt es sich schlecht.

Der ­Plebiszit entwickelt sich in der ­modernen, internet-­gestützten Demokra­tie allmählich zu einem Alptraum. Das Volk stimmt über etwas ab, das es erst einmal ­googlen muss. Und bildet sich dann seine Meinung auf der digitalen Agora, die längst eher einer Arena mit wilden Tieren und Gladiatoren gleicht.

Das eine Drittel

Ja oder nein, „Like“ oder nicht „Like“, so ähnlich laufen Diskussionen (!!!!!!!!!!!) schließlich auch in den sozialen Medien. Gut finden bis der Arzt kommt oder so stark hassen, bis die Betroffenen „Herpes im Herzen haben“ (Margarete ­Stokowski). So Fifty-Fifty im Ganzen.

Nun sind lange nicht alle Wahlberechtigten auf Facebook oder in anderen sozialen Medien akkreditiert – so wie nicht alle Wahlberechtigten zur Wahl gehen. Die Wahlbeteiligung beim Brexit: 72 Prozent. Die Wahlbeteiligung bei den österreichischen Präsidentschaftswahlen: 72,7 Prozent. Und bei der letzten Bundestagswahl: 71,5 Prozent.

Zwei-Drittel-Entscheidungen sind der demokratische Idealzustand – und genau ein Drittel fehlt bei den entscheidenden Abstimmungen. Womöglich ist es genau dieses Drittel, das alles retten könnte. So wie zuletzt die Wiener Briefwähler einen rechtspopulistischen österreichischen Bundespräsidenten verhindern konnten. In letzter Sekunde.

TAZ.AM WOCHENENDE

Mutter sein, das muss doch das größte Glück sein. Dachte Karo Weber. Jetzt hat sie einen Sohn, aber nur schön ist das nicht. Warum Mütter mit ihrer Rolle auch hadern können, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 2./3 Juli. Außerdem: Brexit. Vor allem Migranten bekommen die Folgen zu spüren. Wie reagieren sie darauf? Und: Höher als Sopran. Der Countertenor Andreas Scholl über Männerbilder, das Anarchische der Barockmusik und seine Anfänge bei den „Kiedricher Chorbuben“. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Was hat dieses Drittel getrieben, als es um den Brexit ging? Zu Hause geblieben, um Chaucer zu lesen? Nicht vor die Tür gegangen, weil es geregnet hat? Womöglich handelt es sich ja bei diesem mysteriösen Drittel um genau jene BürgerInnen, die in der Lage sind, zu differenzieren. Die wissen, dass eine Organisation wie die Europäische Union von Kompromissen lebt und der Nationalstaat alleine auch keine Lösung ist. Die wissen, das man bestimmte Dinge einfach aushalten muss und auch kann, selbst wenn sie einem auf die Nerven gehen – Minderheiten zum Beispiel. Intelligente Menschen, die keine Angst vor Veränderungen haben, nicht xeno- und homophob sind. Menschen, die nicht ohne weiteres blonden PolitikerInnen mit seltsamen Frisuren auf den Leim gehen (Donald Trump, Geert Wilders, Boris Johnson, Marine Le Pen).

Wer nun die leise Befürchtung hegt, dass es sich bei diesem fehlenden Drittel auch um ganz andere BürgerInnen handeln könnte, hat womöglich Recht. Umso mehr aber wird deutlich, dass in Zukunft Entscheidungen, bei denen es um die Zukunft aller geht, nicht nur von der Hälfte entschieden werden dürfen.

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8 Kommentare

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  • "Während die politisch-ökonomisch-soziale Lage ein bedrückendes Grau geworden ist, drängt das Wahlvolk im Moment der Entscheidung zu einem klaren Schwarz oder Weiß – was des einen Licht ist, ist des anderen Schatten."

     

    Ich habe lange nichts mehr gelesen, dass weniger wahr ist!

     

    Armut und Reichtum gehen immer mehr auseinander, oder, in Ihren Worten: Immer mehr schwarz und weiß.

     

    "It's the economy, stupid" - Clinton wusste das damals schon!

  • 8G
    80576 (Profil gelöscht)

    Am Brexit Votum kann man ablesen, wie segensreich Volksabstimmungen in Einzelfragen sind. Volksentscheide sind immer zugespitzte Ja-Nein- Abstimmungen. Der Komplexität vieler Fragen wird man so kaum gerecht. Stark polarisierende und vereinfachende Kampagnen im Vorfeld solcher Entscheidungen dürften eher die Regel als die Ausnahme sein.

    Es gibt gute Gründe, an repräsentativen Demokratieformen mit Richtungs-/Parteiwahlen festzuhalten.

    • 3G
      32795 (Profil gelöscht)
      @80576 (Profil gelöscht):

      Wenn die repräsentative Demokratie die komplexen Probleme lange Zeit nicht in den Griff bekommt, dann kommt irgendwann die einfache Ja-Nein-Abstimmung.

       

      Man kann nicht ewig auf die Komplexität verweisen und dann nichts tun...

    • @80576 (Profil gelöscht):

      Na, nicht das gewünschte Ergebnis gehabt? Ja, dann sind Volksentscheide natürlich problematisch.

       

      Ach, übrigens: Auch in den Parlamenten wird immer Ja/Nein abgestimmt.

  • Nicht zu vergessen die Schweizer Abstimmung über die sogenannte Masseneinwanderung vom 9. Februar 2014, die bis heute zu schaffen macht... Bei mehr als 5,2 Mio Stimmberechtigten gaben weniger als 10.000 Personen den Ausschlag für die Initiative, die die Verträge mit der EU aufs Spiel gesetzt hat. Der Schweizer Regierung bleiben noch sechs Monate Zeit, die Initiative umzusetzen. Gelingt dies nicht, dann haben wir den Schwexit!

  • 3G
    32795 (Profil gelöscht)

    "Womöglich handelt es sich ja bei diesem mysteriösen Drittel um genau jene BürgerInnen, die in der Lage sind, zu differenzieren."

     

    Der Autor kommt offensichtlich nicht oft mit den Abgehängten in persönlichen Kontakt. Als Demokrat kann man bedauern wenn dieses Drittel nicht zur Wahl geht, als Linker sollte man es dankbar und in Stille hinnehmen.

     

    Die Forderung dernach "die Hälfte" also eine knappe Mehrheit nicht mehr entscheiden dürfe bedeutet eine Minderheit entscheidet. Wer diese Tür öffnet wird sich schnell wundern, es ist so nämlich keine Progression mehr möglich, man kann nur noch den Status Quo gegen Mehrheiten verteidigen, das ist, sorry, dämlich.

  • "Umso mehr aber wird deutlich, dass in Zukunft Entscheidungen, bei denen es um die Zukunft aller geht, nicht nur von der Hälfte entschieden werden dürfen." ?

    Aber irgendwie muß ja entschieden werden. Entweder bleibt Großbrittanien in der Eu oder eben nicht. Entweder nimmt man Flüchtlinge aus Syrien in Deutschland auf oder eben nicht. Was will man denn machen, wenn eine Entscheidung notwendig ist, beide Alternativen aber hoch umstritten sind? Dann kann man nur nach Mehrheit gehen, auch wenn diese Mehrheit noch so knapp ist.

    • 3G
      33324 (Profil gelöscht)
      @yohak yohak:

      So ist es nicht. Es gibt nicht nur ja oder nein, heiß oder kalt, schwarz oder weiß. Z.B. wäre es möglich, dass England und Wales die EU verlassen, aber Schottland und Nordirland sich von GB lösen und in der EU verbleiben. Auch können Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen werden, während Arbeitsmigranten aus Marokko und Algerien derzeit nicht zwingend Aufnahme finden müssen.