Vor 75 Jahren wurde Bonn Hauptstadt: Im Schatten schön
Dass Bonn Bundeshauptstadt werden konnte, wäre für die Provinzstadt am Rhein ohne die große Schwester Köln nicht möglich gewesen. Bonn verdankt ihr viel.
V om Bonner Kreuzberg aus lässt sich der Kölner Dom meist ganz gut sehen. Sogar bei mittelprächtigem Wetter: ein düster-schwarzes Irgendwas am Horizont im Norden, rund 30 Kilometer Luftlinie entfernt, davor die Schornsteine von Wesseling, davor auch die sanften Hügel des schlicht „Vorgebirge“ benannten Höhenzugs, wo der Bornheimer Spargel wächst und man das Rebellenblut keltert – Rebellenblut ist ein Brombeerwein.
Sein Erfinder, Wilhelm Maucher, wollte mit dem Rebellenblut gegen Ludwig Erhards Wirtschaftspolitik protestieren, durch die er die Obst- und Gemüsebauern des Vorgebirges benachteiligt sah. Maucher war, wie man im Rheinland halt so ist, streng katholisch. Noch mehr aber war er ein Rebell.
Schon gegen die Nazis hatte er Flugblätter verfasst und verteilt. Im Versteck in Roisdorf hatte er den Krieg überlebt. Mit den Grünen hatte Maucher Anfang der 1980er auf dem Bonner Hofgarten gegen den Nato-Doppelbeschluss demonstriert – um dann später auch sie im Streit zu verlassen.
Wer aus Bonn kommt und seinen Bekannten und Freunden eine Spezialität aus der Heimat schenken will, die beiläufig an die politische Vergangenheit der Stadt erinnert, kann also durchaus auf Rebellenblut verfallen, auch wenn es manchen Kopfweh bereitet: Bonn und das Vorgebirge, das geht gut nachbarschaftlich ineinander über.
Bonn besteht nun mal im Wesentlichen aus zusammengewachsenen Dörfern mit ulkigen Namen. So lagern rund um den Kreuzberg: Endenich, Ippen-, Lengs- und Poppelsdorf. Aus diesen und anderen Käffern hat man zunächst die drei Städtchen Bonn, Bad Godesberg und, rechtsrheinisch, also op d’r schäl Sick, Beuel [bœːjəɭ] zusammengepuzzelt, um dann einzusehen, dass sich daraus bequem und auch eins machen lässt.
Kölns Versuch hingegen, sich das Vorgebirgsstädtchen Wesseling einzuverleiben, ist vor 49 Jahren kläglich am Widerstand der Kolonisierten gescheitert: Als am Nikolaustag 1975 das Verfassungsgericht die einjährige Fremdherrschaft beendet hatte, läuteten in Wesseling alle Glocken. Vor Bonn hat keiner Angst. Klare Grenzen, das ist etwas, was es zwischen Bonn und seinem Umland nicht braucht. Bei Köln hingegen fürchtet man, unterworfen, gefressen und verdaut zu werden.
Wer aus Köln ein Mitbringsel sucht, wird, weil Kölnisch Wasser nun wirklich nicht mehr geht, mit Kölsch vorliebnehmen müssen. Das ist ein obergäriges Getränk. Manche nennen’s boshaft Pferdepisse, andere, noch boshafter, Bier. Es wird in 0,5-Liter-Flaschen verkauft, aber in 0,2-Liter-Gläsern ausgeschenkt, damit es schneller weg ist und man mehr davon trinken kann, um schneller zu vergessen, dass man es trinkt.
In Bonn gab es auch mal eine Kölschbrauerei, Kurfürsten hieß die und warb damit, dass sie den Brunnen im eigenen Hause habe. Weil dieses direkt neben dem Zentralfriedhof lag, war das Kurfürsten in Bonn selbst so populär nicht, und echten Freunden hat man es nicht geschenkt. Dass sie erst im Jahr 2011 dichtgemacht hat, gehört zu den größten von vielen Wundern, die sich im Rheinland ereignet haben.
Napoleon auf dem Kreuzberg
Ein anderes, das aber vielleicht nur eine Legende ist, trug sich zu, als Napoleon I. hier auf dem Kreuzberg verunglückt ist und sich ein Bein gebrochen hat, und zwar aus Strafe. Weil er nämlich die vom Barockarchitekten Balthasar Neumann entworfene Nachbildung der Heiligen Stiege aus Rom versucht haben soll, mit seinem Schimmel hochzureiten, ein Sakrileg, schließlich darf man die Stuckmarmorstufen nur im Gebet auf den Knien rutschend erklimmen.
Die Stadt
Bonn, rund 27 Kilometer südlich von Köln auf beiden Rheinseiten gelegen, hat gegenwärtig 335.789 Einwohner*innen und damit ungefähr ein Drittel so viel wie Köln (1.087.353). Ab 1597 war Bonn offizielle Haupt- und Residenzstadt des Erzbistums Köln.
Die Bewerbung
Ab September 1948 nutzt Bonn seine Rolle als Sitz des Parlamentarischen Rates, um sich auch als Regierungssitz für die noch als provisorisch verstandene BRD ins Spiel zu bringen. Mitkonkurrent Frankfurt hat das Problem, dass dort die amerikanisch-britische Militärverwaltung sitzt, was, so der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU), den Eindruck einer Abhängigkeit befördern würde. Bonn dagegen hat nur das belgische Hauptquartier, das im Oktober 1949 auszieht. Die Stadt wird damit „besatzungsfrei“.
Die Argumente
Bonn hat sich gnadenlos billig gerechnet. So beziffert es die „laufenden Kosten“ einer ihm übertragenen Hauptstadtfunktion auf 37.000 Deutsche Mark, Frankfurt kalkuliert realistischer mit knapp dem Dreißigfachen: 970.000 DM. Die Ehrlichen sind auch hier die Dummen. Am 3. November 1949 stimmt der Bundestag ab: 200 Abgeordnete sind für Bonn, 176 für Frankfurt.
Die Zeit danach
Die Zeit der „Bonner Republik“ endet am 20. Juni 1991, als der Bundestag für Berlin als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands votiert – allerdings recht knapp, mit 338 zu 320 Stimmen. Bundestag und Bundesregierung ziehen 1999 nach Berlin um. Von den 16 Ministerien bleiben aber 6, darunter das Verteidigungsministerium, in Bonn, das zum Ausgleich viele Bundesbehörden bekommt.
Wahr ist: Bonaparte hat 1804 in Bonn Station gemacht, und er wäre auch fast gestürzt, als sein kleinwüchsiger Araberhengst Marengo strauchelte, aber in Wirklichkeit passierte das nicht hier oben, sondern dicht am Rhein, in der durch und durch säkularen Vogtsgasse, weshalb Bonn dann, der Kaiser hielt es für ein Vorzeichen, nicht zur Festung ausgebaut wurde und, in dem Fall ganz wie Köln, nicht von der Franzosenzeit profitieren konnte.
Manchmal ähneln die eigenen Erfahrungen denen der bewunderten großen Schwester eben doch, die zu sein ein heimliches Ziel ist und deren Anerkennung zu ernten so schön wäre, ach, nur einmal so urban sein wie Köln! So selbstverständlich und unverschämt selbstgewiss. So ordinär, schmutzig und wundervoll verrucht! Ach Köln, liebes Köln, jetzt schau doch mal, wie schön Bonn sich schon gemacht hat! Und wie groß es geworden ist! Das hättest du nicht gedacht, nicht wahr? Deine kleine Schwester!
Zwecklos. Es gibt in ganz Köln keinen einzigen Punkt, von dem aus Bonn wahrnehmbar wäre, selbst bei strahlendem Sonnenschein und blauem Himmel nicht. Höchstens mit viel Mühe von den Domtürmen aus. Aber da gehen nur Touris rauf.
Bonn macht das nichts. Bonn kann damit leben, gut leben sogar: Das Verhältnis zu Köln ist total entspannt. Ein paar Sachen macht man sogar gemeinsam, den Köln-Bonner-Flughafen etwa, und früher gab’s auch eine Köln-Bonner-Eisenbahn, weil eine Eisenbahn nur für Köln, das wäre ja Quatsch gewesen.
Meist schaut Bonn voll Bewunderung, ja ehrfürchtig, aber auch stets mit der beruhigenden Gewissheit auf Köln, nicht demselben Anspruch der Größe verpflichtet zu sein und ständig in der Champions League mitspielen zu müssen. Also gefühlt.
Bonn ist halt einfach so eine Stadt mit hübschem Rathaus, schönem Marktplatz und aparten Schlössern. Aus Bonn stammt Robert Nikolic, der torungefährlichste Fußballer, der je in der Bundesliga gespielt hat. Köln dagegen lebt im Dauerstress, Groß- und Weltstadt sein zu müssen, fiebrige Metropole wie New York, London, Paris, Tokio oder Hamburg.
Der Weg in den Größenwahn
Die Kölnstraße ist dementsprechend für Bonner der Weg in den Größenwahn. An der – damals hieß sie Cölner Chaussee, aber das ändert ja nichts – sie 1873 ihre Psychiatrie errichteten. In einer Bonner Kindheit bis zur Jahrhundertwende diente der Spruch „dich bringense in die Kölnstraße“ dazu, jemandem auf Hochdeutsch, also unfreundlich, zu sagen, dass er einen Ratsch im Kappes habe, also eine mentale Störung aufweise. Ein salopper Spruch mit bedrohlichem Unterton. Mit Jugendpsychiater Hans Aloys Schmitz hatte 1937 ein Vordenker der Euthanasie die ärztliche Leitung der Kinderanstalt übernommen, die Otto Löwenstein 1926 als weltweit erste ihrer Art eingerichtet hatte. An diese humanen Anfänge anzuknüpfen wurde nach dem Krieg nicht als dringlich empfunden. Schmitz wirkte dort unbehelligt noch bis 1965 und lehrte als Professor an der Universität.
Die Uni. Die ist Bonns Stolz und der historische Moment, in dem die Stadt einmal mit Köln wirklich konkurriert hatte. Und gewonnen – eben weil man nicht konkurrenzfähig war, weil man nicht wie Köln seit dem Mittelalter Stützpunkt der Dunkelmänner war, ein finsterer Leuchtturm der katholischen Lehre.
Da wollte das protestantische Preußen seine Universität in der Rheinprovinz – das Gebiet hatten sich die Friedrich-Wilhelms beim Wiener Kongress geschnappt – dann doch lieber nicht hinsetzen. Also wurde es Bonn, das zwar genauso katholisch, aber dafür nicht so berühmt war.
Möglich war aber eben auch das nur, weil Bonn Aufgaben zugefallen waren, die von der Stadt Köln nicht mehr wahrgenommen wurden. Die weltliche Herrschaft ihres Erzbischofs hatten die Kölner Bürger Ende des 13. Jahrhunderts abgeschüttelt. Zum Beten, Segnen, Messelesen durften ihre Obergeistlichen noch nach Köln rein. Zum Predigen: wenn’s denn sein muss. Aber mehr dann auch nicht. Sodass sie, kürzen wir mal ab, Bonn zur kurfürstlichen Haupt- und Residenzstadt des Erzbistums Köln gemacht hatten.
Ohne die tollen Kölner gäbe es die schöne kastanienbestandene Prachtstraße nicht, die einen Kilometer lang und sicher 60 Meter breit von der Altstadt zum Poppelsdorfer Schloss führt, dem Lustschluss der Kurfürsten. Das hat Joseph Cotte entworfen, der Leibarchitekt des französischen Sonnenkönigs Louis XIV. Diese 60 Meter breite Poppelsdorfer Allee, muss man wissen, hat nie den Autos gehört. Die werden hier glücklich an den Rand gedrängt, seit es sie gibt. Stattdessen findet sich dort die beste Kinderkick- und Hundekack-Rasenfläche – mittlerweile ist der Köterkot allerdings geächtet –, die sich in einer deutschen Großstadt nur denken lässt.
Der Grund für Beethoven
Ohne die Residenz wäre Ludwig van Beethoven nicht hier geboren. Ohne Hofhaltung keine Hofkapelle und kein Bedarf daran, 1733 seinen Großvater aus Mechelen als Sänger anzuheuern. Ohne Schlösser auch keine räumliche Infrastruktur für die Universitätsgründung 1819. Ohne Uni hätte Eierforscher Alexander Koenig sich nicht in Bonn habilitiert und auch sein zoologisches Museum wäre nicht gebaut worden.
In dem konnte dann, nachdem die Oberpostdirektion Köln in Rekordzeit solidarisch 50 Telefonleitungen gelegt hatte, das Grundgesetz ausgebrütet werden. Und dass der Parlamentarische Rat, auf den Köln keine Lust gehabt hatte, hier tagte, war ein entscheidender Schritt, um sich 1949 als Regierungssitz des ehemaligen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer zu qualifizieren, der kurz zuvor Bundeskanzler geworden war.
Um im Rennen um den Sitz der Regierung gegen Mitbewerberin Frankfurt zu bestehen, nutzte Bonn die im Umgang mit Köln erlernte und schon in der Uni-Frage erfolgreich erprobte ostentative demütige Bescheidenheit, historisch ja doch nur ein unbeschriebenes Blatt, also unbelastet zu sein.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Etwas anderes als ein Provisorium könnte wie ein Verrat an Berlin wirken, warnte die Rheinlandlobby: „Die Wahl einer großen Stadt mit bestimmter politischer oder geschichtlicher Prägung könnte leicht als unausgesprochene Vorbestimmung dieser Stadt zum endgültigen Sitz der zukünftigen Bundesregierung, auch nach Anschluß der Ostzone, ausgelegt werden.“
Das selbstbewusste Frankfurt hatte zuvor versucht, damit zu überzeugen, dass es ja ohnehin traditionell Deutschlands heimliche Hauptstadt sei. Falsche Taktik. Denn mit Berlin musste man ja einfach solidarisch sein, nach der Blockade. Und „wenn Frankfurt Hauptstadt wird, wird es Berlin nie wieder“, hatte Ernst Reuter (SPD) seinen Befürchtungen Ausdruck verliehen. Reuter war damals Oberbürgermeister von Berlin.
Seinem Auftritt auf der Weltbühne als Bundeshauptstadt hatte Bonn von 1949 bis 1999. Ihm verdankt die Stadt kulturelle Infrastruktur wie das Haus der Geschichte und die Bundeskunsthalle sowie den Langen Eugen, das höchste Stahlgebäude Deutschlands. Das einstige Abgeordnetenhochhaus ist heute Herzstück des Campus der Vereinten Nationen. Es wirkt ein bisschen wie ein peinlicher Finger. Aber seit 70 Jahren macht es die Silhouette Bonns unverwechselbar, als echtes Wahrzeichen. Also auch dafür herzlichen Dank an Köln.
Bundeshauptdorf Ohne Nennenswertes Nachtleben, B-O-N-N, das war seinerzeit so ’n Schmäh, und sischer datt: Um in der Bonner Republik Skandal zu machen, musste der Militärische Abschirmdienst das Gerücht streuen, ein General sei im Kölner Tom Tom gesehen worden. Weil, dass es in Bonn auch schon eine Schwulen- und Lesbenkneipe gab, sogar direkt in der City, das hätte dem Geheimdienst einfach niemand geglaubt.
Wer von oben auf Bonn schaut, merkt schnell: ohne Nachtleben, mag sein, vor allem aber gilt: ohne nennenswerte Industrie. Die gibt’s hier nicht. Nicht mal ruinierte. Und während das arme Köln seit Jahrzehnten ein geeignetes und finanzierbares Konzept sucht für seine vom Verfall bedrohten monumentalen, architektur- und technikhistorisch bedeutenden Produktionsstätten von Motoren, Gummifäden, Bleiweiß, gab’s in Bonn vielleicht mal eine Aktenordner- und eine stinkende Fruchtgummi- und Lakritzfabrik.
Sonst hat man, so ähnlich wie bei der Poppelsdorfer Allee mit den Autos, alle schmutzigen Sachen hier kleingehalten. So ein bisschen, als hätte da schon früher eine grüne Oberbürgermeisterin das Sagen gehabt. Die Stadt ist genau mit diesem Rezept hübsch, aber auch reich geworden, erstaunlicherweise.
Als Modell zur Nachahmung wird das kaum taugen. Aber als Beweis: dass es ein echter Vorteil sein kann, eine große Schwester zu haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut