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Vom Kinderbuch zum ErwachsenseinFrederick, ADHS oder man nennt es auch Intuition

Die Mutter unserer Autorin setzte Hoffnungen in Leo Lionnis Geschichte der Kreativmaus Frederick. Aber kann sie tatsächlich helfen im Kapitalismus?

Den Sonnenschein einfangen kann nicht jeder Foto: fhm/Moment RF/getty images

A ls ich klein war, hatte meine Mutter eine Phase, da empfahl sie allen um sich herum das Bilderbuch „Frederick“ von Leo Lionni. Sie selbst hatte es nicht gelesen, aber man hatte ihr davon erzählt, und die Message war genau die, die sie spreaden wollte. Die Geschichte erinnert zunächst an die Fabel von der Grille und der Ameise: Den ganzen Sommer über hängt die Maus Frederick auf der faulen Haut herum und denkt gar nicht daran, mit den anderen Vorräte zu sammeln. Doch anders als bei der Grille, die am Ende mit dem Hungertod dafür bestraft wird, dass sie nur feiern war, lassen die anderen Frederick nicht hängen, sondern teilen ihre Vorräte solidarisch mit ihm.

Aber jetzt kommt’s: Als es draußen am kältesten ist, das Korn zur Neige geht und die Mäuse kurz vor der Winterdepression sind, da fängt Frederick an, von den Farben des Sommers zu erzählen, die er beim Chillen in sich aufgenommen hat. Und die Mäuse wärmen sich an seinen Geschichten über die Sonnenstrahlen und überstehen so am Ende den Winter auch dank Frederick. Meine Mutter fand in der Geschichte Trost und wollte wohl auch mich damit trösten: Auch ich würde, selbst wenn man es noch nicht absehen könne, eines Tages zu etwas nutze sein.

Meine Mutter hat ADHS und fühlte lange den typischen gesellschaftlichen Anpassungsdruck, bis sie sich im Alter in einen Zustand jenseits von Gute und Böse flüchtete. Davor gab sie mir aber implizit noch den Auftrag mit: „Streng dich an, anders zu sein, damit sie dich akzeptieren!“ – ein Auftrag, den sie selbst nie hatte ausführen können. Aber Selbstverleugnung schien der beste Weg, um im konformitätsgeilen Hurra-Kapitalismus der Ära Kohl nicht aufzufallen. Und überzeugend war letztlich auch für sie die marktwirtschaftlich unterfütterte Logik, dass Chaos nutzlos, weil ineffizient sei.

Nonkonformes Verhalten wurde deshalb von Lehrerinnen, Sporttrainern, Eltern und selbst von Kindern mit den Mitteln moralischer Ächtung bestraft. Ich war zu egoistisch, um pünktlich zu sein. Zu faul, um gescheit für die Schule zu lernen. Zu unachtsam, um meine Sachen nicht zu verlieren. Zu unhöflich, um andere ausreden zu lassen.

Flexibel auf Neues reagieren

Heute weiß man: Das Gehirn von AD(H)Slern funktioniert schlicht anders. Es hat die Gabe – und das Problem –, so ziemlich jeden Reiz wahrzunehmen, der auch nur annähernd in Sicht- und Hörweite ist. Und zwar gleichzeitig.

Das macht uns extrem ablenkbar, hilft aber, flexibel auf Neues reagieren und in Sekundenschnelle relativ sinnvolle Entscheidungen treffen zu können. Man nennt es auch Intuition. Die hilft auch im Zwischenmenschlichen. Es heißt, AD(H)Sler kommen in einen Raum und spüren sofort, wie es jeder einzelnen Person darin geht. Zugleich aber kann für uns selbst ein einziges falsches Wort, eine winzige Nuance im Tonfall, die nur wir bemerken, dazu führen, dass alte Muster der Abwertung kicken und wir uns als nutzlose Grille, die den Hungertod verdient hat, abgelehnt fühlen.

Das Problem ist nicht AD(H)S. Sondern dass das, was wir beitragen, von neurotypischen Leuten oft nicht bemerkt wird. Und es deshalb auf der Rechnung am Ende nicht auftaucht. Und wir müssen dann weiterhin hoffen, dass die anderen Mäuse uns aus purer Güte mitessen lassen.

Ich glaube, meine Mutter hatte gehofft, dass durch Fredericks Geschichte auch meine unsichtbaren Fähigkeiten erkannt und anerkannt würden. Denn den Sonnenschein einfangen kann ja auch nicht jeder.

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Sunny Riedel
Redakteurin taz1
Seit 2011 bei der taz. Leitet gemeinsam mit Anna Klöpper das Ressort taz.eins. Hier entstehen die ersten fünf Seiten der Tageszeitung. Themen: Latein, Amerika und Lateinamerika. An der DJS gelernt.
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