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Vom Bordstein in den KleiderschrankDas wird noch gebraucht

Aus weggeworfener Kleidung vom Straßenrand macht die Schweizer Künstlerin Barbara Caveng wortwörtlich Streetware. Die kann man kaufen oder ausleihen.

Barbara Caveng und die Kostümbildnerin Alice Fassina in ihrem „Waschsalon Renata“ in Neukölln Foto: Stefanie Loos

„Schaut mal!“, ruft Barbara Caveng. Sie deutet auf eine Parkbank. Um die Bank herum liegen achtlos verteilt Kleider: Spitzenunterwäsche, Schal, Hosen, Shirts, Socken, ein einzelner Schuh. Außerdem Bücher, ein Kissen, Tampons, leere Kippenschachteln und ein ungeöffneter Schokoriegel. „Das ist doch wie ein Tatort, oder?“, fragt Caveng.

Tatsächlich deuten die radikal unterschiedlichen Gegenstände und ihre wilde Anordnung auf ein echte Entsorgungsorgie hin. Caveng streift sich Plastikhandschuhe über und beginnt die Kleidungsstücke zu inspizieren. Schließlich nimmt sie sich einen BH, ein T-Shirt und den Schal. Sie drapiert die Klamotten auf ihrem Gefährt: eine Kreuzung aus Wäscheständer und Kinderwagen, das die Blicke der PassantInnen auf sich zieht.

Zusammen mit Caveng und weiteren TeilnehmerInnen ihres Projekts Streetware: Saved Items habe ich mich zum Lumpensammeln verabredet. Caveng ist eine 57-jährige Künstlerin aus der Schweiz. Ihr Projekt, das seit Anfang des Jahres läuft, macht Mode – und sagt dabei der Fast-Fashion-Industrie den Kampf an. Die Stücke von Streetware sind weggeworfene Kleidung aus den Straßen von Neukölln – gründlich gewaschen, mit eigenem Logo versehen, und wenn nötig, repariert und verschönert.

Vom Hermannplatz geht es los, dann weiter durch den Reuterkiez. PassantInnen gucken. Überraschend ist das nicht: Caveng selbst läuft mit knallorangenem Haar und Schal in der gleichen Farbe energisch voran. Sie hat sich mit einer Sicherheitsnadel ein Stück Stoff mit der Aufschrift „Lumpensammler:in“ angesteckt. Auch der fahrbare Wäscheständer fällt auf. Die Verwunderung ist den KünstlerInnen gerade recht, sie suchen den Austausch mit den AnwohnerInnen und laden zur Partizipation ein.

Klamotten von der Straße

Vestithek Noch bis zum 15. Dezember können Interessierte von den Straßen gerettete Klamotten in der „Vestithek“ in der Helene-Nathan-Bibliothek in den Neukölln-Arcaden ausleihen oder auch zum Behalten mitnehmen. Die Vestithek versteht sich als Teil einer „Bibliothek der Dinge“ – als einen Ort also, an dem neben Büchern auch andere Gebrauchsgegenstände ausgeliehen werden können. Geöffnet ist die Vestithek montags und mittwochs von 13–19 Uhr und samstags von 10–13 Uhr.

Streetware Seinen Sitz hat das Projekt Streetware Saved Item im SocialRaum Renata in der Jansastraße ebenfalls in Neukölln. Der Raum, erkennbar an der Waschmaschine im Fenster, dient als Waschsalon und Treffpunkt: Wer mag, kann dort auf der Straße gefundene Klamotten waschen, mit den vorhandenen Nähmaschinen verändern oder reparieren und sich über Produktionsbedingungen der Modeindustrie informieren. Öffnungszeiten sind dienstags, mittwochs und freitags von 11–18 Uhr. (taz)

Und der Austausch findet statt, wenn auch nicht immer konfliktfrei: Einmal kommt ein Mann vorbei und steigt von seinem Rad. Er ist entrüstet. Wir sollten die Finger von den dreckigen Sachen lassen, sagt er, wer weiß, was da alles für Krankheiten dran seien. Es gebe doch Altkleidercontainer und ähnliches. Das die Klamotten in den Containern auch bei Personen landen, kommt ihm offenbar nicht in den Sinn. „Würden Sie das anziehen?“, fragt er Caveng. Die ist zu seinem Erstaunen von Kopf bis Fuß in Stücken von der Straße gekleidet, und lädt ihn ein, sich die fertigen Streetware-Klamotten mal anzusehen.

Das Lumpensammeln lohnt sich: Fast an jeder Ecke finden wir weggeworfene Kleidungsstücke, das meiste entdeckt Caveng selbst. Viele Sachen lassen wir auch liegen: zum Beispiel Stücke, die in sehr schlechtem Zustand sind. Auch lokale Tauschschränke und Stätten von Obdachlosen rühren die Leute von Streetware nicht an. Stücke, die einfach nicht gefallen, bleiben ebenfalls liegen: „Ich nehme das, was zu mir spricht“, sagt Caveng.

Während die meisten Leute in den zahlreichen Ansammlungen von Klamotten am Straßenrand nichts weiter als Müll sehen, oder sie gar nicht erst bemerken, sucht Caveng nach ihnen. Fast jeden Tag. Sie ist geradezu fasziniert von der „textilen Architektur“, wie sie die Kleiderhaufen am Straßenrand nennt. Denn es sei so vieles, was man an ihnen ablesen könne. Etwa die Geschichte dahinter – wie landet die Kleidung auf der Straße?

„Einmal habe ich sogar die Polizei gerufen, weil die Klamotten so aussahen, als ob da jemand mit Gewalt ausgezogen wurde“, sagt Caveng. Auch könne man vieles über die Gesellschaft erfahren, in der wir leben: „Die Kleider an den Quartieren von Obdachlosen zum Beispiel zeigen Berlins Mietenproblem“, meint sie.

An einer Kreuzung kommen wir an einem Einkaufswagen vorbei, der mit Klamotten überladen ist. „Jede Woche sind da neue Sachen drin“, Caveng findet das besorgniserregend. „Daran sieht man doch, dass die Menschen völlig den Bezug zu ihrem Besitz verloren haben“, sagt sie. „Unglaublich oft finden wir Kleidung in tadellosem Zustand. Wir leben hier im totalen Überfluss, und deswegen müssen andere leiden.“

Die Arbeitsbedingungen in der Produktion von Mode sind prekär und das Geschäft mit Second-Hand-Kleidung ist von kolonialen Strukturen durchzogen

Denn der Konsumüberfluss (nicht nur) im Reuterkiez hat katastrophale Folgen in anderen Teilen der Welt. Die Arbeitsbedingungen in der Produktion von Mode sind prekär, und das Geschäft mit Second-Hand-Kleidung ist von kolonialen Strukturen durchzogen. Neben dem Recyclingalltag will Streetware auf beides aufmerksam machen: etwa mit Paneldiskussionen und Filmdarstellungen.

Heute begleiten auch zwei Gäste aus Uganda die Tour zum Lumpensammeln, der Fotograf Jim Joel Nyakaana und die Schriftstellerin Beatrice Lamwaka. Caveng hat mit beiden bereits in Kampala, der Hauptstadt von Uganda, zusammengearbeitet. Der Umgang mit gebrauchter Kleidung in Europa ist allen dreien eine Herzensangelegenheit. Denn Jahr für Jahr werden tonnenweise Klamotten aus Europas Altkleidercontainern nach Ost- und Westafrika geschifft.

Das heißt einerseits, dass dort viele Zugang zu billiger Kleidung haben. Fast jeder in Kampala kaufe in den Second-Hand-Einkaufszentren ein, die immer größer werden, sagt Nyakaana. Aber Ugandas Textilienmarkt, der früher ein wichtiger Wirtschaftszweig war, sei durch die Importe völlig überflutet worden. Lokale Anbieter hätten gegen die billige Kleidung aus Europa keine Chance. In anderen Teilen Ost- und Westafrikas sei es ähnlich. Letztendlich liege es an der Politik, den Handel zu unterbinden. Den Ansatz des Kunstprojektes fände er trotzdem spannend, sagt der Fotograf. „Es ist wichtig, dass das Problem hier Aufmerksamkeit bekommt“, meint er.

Wir beenden die Tour am U-Bahnhof Leinestraße, der Wäscheständer ist voll. Die KünstlerInnen reinigen die Kleider im eigenen Waschsalon, entfernen das kleine „Made in …“-Zettelchen und nähen das eigene schwarz-weiße Logo „Streetware Saved Item“ drauf. Das prangt dann meist nicht versteckt innen an der Naht, sondern ziert teils auch den Ärmel oder die Kapuze. Kaputte Stücke flicken und verschönern sie.

Und sie freuen sich, wenn die Stücke dann benutzt und wieder auf den Straßen Neuköllns – oder anderswo – getragen werden: Viele kann man in der Helene-Nathan-Bibliothek gegen ein paar Euro Pfand ausleihen (siehe Kasten). Wer eins besonders schön findet, lässt den Pfand einfach da und behält das Kleidungsstück.

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