piwik no script img

Volksbühne in BerlinWie eine Lupe auf das menschliche Tun

Das Theaterduo Vinge/Müller eröffnet mit acht Stunden von Ibsens „Peer Gynt“ die Spielzeit der Berliner Volksbühne. Und das ist nur der erste Akt.

Die Möglichkeit eines Gewaltexzesses liegt konstant in der Luft Foto: Julian Röder

Anders als bei einem neuen Blockbuster bleibt es vor einer Thea­terpremiere meistens bis zum Schluss spannend. Kein Trailer verrät: Wie sieht das Setting aus? Wie die Kostüme? Und vor allem: Wie lange dauert es? Doch die Suspense-Meisterschaft dürfte das norwegisch-deutsche Theaterduo Vinge/Müller gewinnen. Einmal ließen Vegard Vinge und Ida Müller ihr Publikum gar nicht erst in den Saal: Wer etwas erleben wollte, musste wiederkommen.

Ein andermal eröffneten sie eine temporäre Spielstätte in Berlin-Reinickendorf, in der kein Aufführungstag dem anderen glich. Nach Polleschs Tod hieß es dann plötzlich: Vinge und Müller sollten die Volksbühne übernehmen. Das gefiel nicht allen, manch ei­ne*r befürchtete gar eine Demontage des geschichtsträchtigen Hauses. Aber dann wurden die Kulturkürzungen publik und mit ihnen der Rückzug des Duos. Als der volksbühnenerfahrene Matthias Lilienthal die vakante Intendantenstelle annahm, ab 2026, atmete man erleichtert auf in Berliner Kulturkreisen.

Dennoch sind es Vinge und Müller, die die neue Spielzeit eröffnen, die letzte im Interim. Und zwar mit „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen, der so etwas wie der Urvater ihres comichaften Totalkunst-Universums ist. Am Premierentag findet man auf der Homepage der Volksbühne zwar immer noch keine Infos zum Stück, dafür ein Video mit einem Strichmännchen, das schreiend zur Tür hinausläuft und an der Nabelschnur wieder hineingezogen wird. Uff.

Die Aufführung wird so lange gehen, bis der Arbeitsschutz greift, erfährt man am Pressestand. Das sind dann immerhin nur 8 und nicht 48 Stunden, wie Vinge und Müller es eigentlich gerne gehabt hätten – so wird es zumindest kolportiert. Wenigstens darf man zwischendurch rausgehen und Getränke und Snacks mit in den Saal nehmen. Die erste Reizüberflutung gibt es im Foyer.

Es wird Stimmung gemacht

Dort hängen Ida Müllers riesige knallbunte Wimmelbilder. Eine popkulturelle Referenz reiht sich an die nächste: Profifußballer, Pornostars, Schokoriegel, abgeschnittene Gliedmaßen. Nicht weniger überfordernd der Theatersaal.

Dort macht Vegard Vinge nämlich schon mal Stimmung. Wie alle Figuren im Vinge/Müller-Universum steckt er hinter einer karikaturhaften Maske. Seine hat rote abstehende Ohren und Pausbacken, was ihm ein kindliches Aussehen verleiht. Und infantil benimmt sich die Figur auch: Vinge mimt den Künstlergockel, der sich durch einen Wust aus Gemälden wühlt. „Carl ist tot“ jammert er, womit der kürzlich verstorbene Dramaturg Carl Hegemann gemeint sein dürfte.

Wenig später sieht man Vinge per Liveübertragung durch die Gänge hetzen, nur um kurz darauf hinter dem Technikpult Stunk zu machen. Neugier liegt in der Luft, aber auch Adrenalin, weil man sich nie sicher sein kann, was sich dieser Bully als Nächstes ausdenkt. Immerhin hat man gelesen, dass Vinge vor vielen Jahren mal einen Feuerlöscher ins Publikum gehalten haben soll.

Doch erst mal wird es ruhig, fast schon gespenstisch. Aufnahmen von strömendem Regen werden gezeigt, ein Kameraschwenk Richtung Fenster, hinter dem ein Teenager mit Burger-King-Cappy steht. Er hat dasselbe kindlich-aufgedunsene Gesicht wie Vinges Figur. Hinter ihm ein Plakat mit Sylvester Stallone, ein Plattenspieler aus Pappe spielt Madonna.

Für das Bühnebild gab es schon Preise

Ida Müller hat für ihre aufwendigen Kulissen gerade erst den Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis erhalten – und tatsächlich kann man sich an ihren detailliert bemalten Attrappen kaum satt sehen. Links ein Späti mit Obstkisten, rechts eine Kneipe im schummrigen Licht und in der Mitte der piefige Klinkerbau, in dem Peer Gynt mit seiner Mutter haust, den Grabstein des verstorbenen Vaters direkt vor der Tür.

Peer Gynt ist ein Jugendlicher, der aus seinem Umfeld ausbrechen will. Er will so vieles: eine schöne Freundin haben, berühmt werden, Geld. Um die Realität zu ertragen, erfindet er Lügengeschichten, lebt in seiner eigenen Welt. Assoziationen von abgehängten Teenagern werden wach, von Incels und Amokläufern.

Der Junge, die Mutter, das restliche Bühnenpersonal: Sie alle klingen wie kaputtgegangen. Wenn sie etwas sagen, stottern sie, quietschen, grunzen. Aus Ibsens Originaltext benutzen Vinge/Müller vor allem Schlüsselsätze, die von ihren Figuren dann aber so oft wiederholt werden, dass man in aller Ruhe rausgehen, nochmal durch die Ausstellung laufen und sich ein Bier holen kann – und trotzdem kaum etwas verpasst hat.

Jede Hand­greiflichkeit endet im Gewaltexzess

Die entschleunigte Spielweise, und sie ist wirklich extrem langsam und repetitiv, wirkt in den besseren Momenten wie eine Lupe auf das menschliche Tun und passt auch gut: Etwa als Peer Gynts Schwarm minutenlang ihren Namen trällert und die Welt damit praktisch stehen bleibt.

Der Mensch als Ergebnis seiner Sozialisation

Aber sie führt eben auch dazu, dass jede Handgreiflichkeit im Gewaltexzess endet. Keine Frage: Die Handlung ist auch bei Ibsen brutal, aber manche Szene ist selbst für hartgesottene Theatergäste schwer aushaltbar. Jeder Angriff wird bis an die Belastungsgrenze gesteigert: von mütterlichen Schlägen, wo das Blut nur so spritzt, über Polizeigewalt bis zu einer Vergewaltigung. Bei Ibsen gibt es keine Held*innen. Alle Figuren sind Täter und Opfer zugleich.

Wie im echten Leben ist der Mensch das Resultat seiner Umgebung – wenn auch deutlich zugespitzt. In einer der Splatterszenen versucht sich Peer Gynt, der zwischen toxischer Männlichkeit und jugendlicher Verunsicherung hin und her schwankt, seinen Penis abzuschneiden. Als ihm das mit dem Messer nicht gelingen will, probiert er es auf allerhand anderen Wegen. Das wird irgendwann so absurd, dass viele dann doch lachen müssen.

Während der kleine Peer auf der Bühne vom großen Geld träumt, machen die Schönen und Reichen „Big Business“ oder führen Gespräche, bei denen wortwörtlich nichts herauskommt als: „Blabla“. Das ist stellenweise unterhaltsam, dann wird es wieder unterkomplex. Etwa als ein Haufen Geld vom Kultur- in den Pharmabeutel wandert und jemand vielsagend einen Pfizer-Aufkleber auf ein Röhrchen klebt.

Ähnlich unnötig sind die Exkurse in andere Sozialdramen: Ein Ausschnitt aus Fassbinders „Angst essen Seele auf“ gerät zum Sozialkitsch, der in wilder Vögelei endet. Und dann ist da noch Vinges angebliche Fehde mit der Bühnentechnik. Immer wieder unterbricht er die Handlung, provoziert und ist dann wieder weg. Einmal macht er seinen berühmten Lieblingsgag und pinkelt sich im Liegen in den Mund.

Der Abend zieht sich in die Länge

Ob es mit dem Haus wegen solcher Aktio­nen vorher wirklich Stress gegeben hat, wie er fortwährend suggeriert, bleibt unklar. So oder so wirken seine Sticheleien etwas kalkuliert und schnöselig, immerhin machen ja alle Gewerke tapfer mit. Nach den ersten drei Stunden sind die meisten Zu­schaue­r*in­nen noch dabei, ab Stunde vier leeren sich die Reihen und manch einer macht es sich mit den Füßen auf der Vorderlehne bequem.

Irgendwann herrscht munteres Kommen und Gehen, wobei das Wiederkommen vermutlich auch mit den Kompositionen von Trond Reinholdtsen zu tun hat. Die erinnern an Puccini-Arien, aber auch an Cabaret-Musik und Oldschool Hiphop und bringen ein bisschen Leichtigkeit in das düstere Stück.

Ab Stunde sechs ist der Ehrgeiz geweckt. Wenn man es bis hierhin geschafft hat, schafft man auch den Rest. Und überhaupt: Was sollen erst die Schau­spie­le­r*in­nen sagen? Die hier hunderte Kartoffeln aus der Erde wühlen oder mit einer Sexpuppe auf dem Rücken über die Sitzplätze rasen müssen – ohne dafür auch nur einen Funken Ruhm zu kriegen, weil ihre Gesichter hinter den Masken verborgen sind.

Pünktlich um 2 Uhr nachts ist es dann vorbei. Das heißt: Der erste Akt – und ein winzig kleines Stück vom zweiten. Aber waren die 8 Stunden jetzt eine Zumutung? War es ärgerlich – oder grandios? Ja, ja und ja, möchte man antworten. Die Fortsetzung des zweiten Aktes wird man trotzdem skippen, vielleicht ist man ab Akt drei wieder dabei.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare