Volker Weidermann verlässt den „Spiegel“: Glück eines Kritikers
Nach sechs Jahren beim „Spiegel“ kündigt Weidermann. Der ehemalige Moderator des „Literarischen Quartetts“ hat eine Abschiedsmail geschrieben.
„Der Schritt ist mir leichtgefallen.“ Allein für diesen Satz, der cool die gewohnte Floskel des für – wer weiß!? – künftige Verwendung absichernden Abschieds von einem Arbeitgeber zur Kenntlichkeit verzerrt, wäre Volker Weidermann zu preisen und zu beneiden.
Denn nichts lieber als so einen abgezockten Satz möchten ja viele, denen in der Pandemie einmal unverhüllt ihr wahrer Wert als abhängig Beschäftigte vor den Latz geknallt wurde, in die Hallen und Etagen ihrer Arbeitsstätte rausjagen. Haben sie doch letzthin deutlich Bescheid bekommen, etwa von Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, der Sorgfaltspflicht am Arbeitsplatz so definiert hat: „Es gilt nach dem Grundgesetz die Unantastbarkeit der Menschenwürde, aber das Recht auf ewiges Leben nicht.“
Wir alle sollen uns eben nicht fragen, was das System für uns tun kann, sondern was wir für das System tun können. Wir sollen, um aus Volker Weidermanns Abschiedsmail an seine Spiegel-Kolleg:innen zu zitieren, schlicht akzeptieren, wie es eben ist, und nicht „sagen, was nicht ist“, „sagen, was sonst noch so sein könnte“, „sagen, wie es besser wäre“, oder gar „sagen, was niemand sonst sich zu sagen traut“.
Was Weidermann beklagt und was das Medienportal Übermedien öffentlich gemacht hat, geht über Zustände beim Spiegel – „so ein großes, unglaublich einflussreiches Haus“ – hinaus. In einer Zeit, in der Nachrichten einem von jedem Bildschirm kostenlos nachgeworfen werden, ist das augsteinsche „Grundgesetz“ des „Sagens, was ist“, zu einer Weltbeschreibung zerronnen, die in jedem aufgedeckten Skandal nur die Abweichung von einer Normalität sieht, die wiederhergestellt werden muss. Dabei ist eben die Normalität das Problem.
Für ältere Herren
Der Spiegel in seiner gedruckten Form hat ganz haptisch zu kämpfen, weil er ein Gebilde ist, dass sich nicht wie eine in Bücher aufgeteilte Zeitung teilen lässt. Es ist ganz überwiegend der ältere, männliche, berufstätige Leser, der das Magazin zur Hand nimmt, es nach „was ist“-Versorgung ablegen oder weitergeben kann. Wenn Weidermann von „Angst, Misstrauen, Beharrungswillen, Unmut, Kontrollwahn“ schreibt, dann verkennt er möglicherweise, dass eben das Gefühle und Attitüden sind, die ein Großteil der Leserschaft selbst einbringt und gespiegelt sehen will.
Und das ist ja auch kein Wunder, hat doch die Pandemie nur die mindestens zwei Großkrisen und die eine globale Befreiungsideologie zeitweise überdeckt, die unsere Epoche prägen: die Klimakatastrophe, die von ihr mit ausgelöste verzweifelte Fluchtbewegung vieler Menschen und die größte antiautoritäre Bewegung im Westen seit 1968, für deren Kenntlichmachung hier die Schlagworte „Identitätspolitik“ und „Black Lives Matter“ genügen müssen.
In einer solchen Lage ist die von Weidermann beklagte Perspektivlosigkeit des Spiegel-Weltbilds genau das, was verängstigte Boomer kaufen, sozusagen die Wiederauflage von Themen und Sprache der 1980er Jahre in Dauerschleife, mit gelegentlichen Verirrungen in deutlich schlimmere Epochen der deutschen Geschichte. Und selbst das „Sagen, was ist“, gelingt eben durchaus nicht immer – aber so geht es uns natürlich allen.
Oder sollte er es lassen?
Angst macht depressiv oder verwandelt einen in einen Friedrich-Merz-Klon. Nur eine sinnvolle Tätigkeit schafft Glück. Das ist der zweite wichtige Aspekt von Weidermanns Mail: „Ich bin hier nicht glücklich gewesen.“ Zum Glück gehört das Beharren, es auch sein oder zumindest werden zu können, das der Literaturkritiker gegen Einwände verteidigt: „Ich weiß schon, viele sagen: Na, darauf kommt’s doch nicht an. Ich glaube doch, dass es darauf ankommt.“
Und weil wir mit Weidermanns Coolness begonnen haben, die er nicht zuletzt in seinem Kommentar zur Einladung der antisemitischen Possenreißerin Lisa Eckardt in das „Literarische Quartett“ an den Tag legte, hören wir mit ihr auch auf: Zur Coolness gehört nämlich, dass er seine durchaus auch sehr herzliche Abschiedsmail an die Kolleginnen und Kollegen beim Spiegel nicht weiter kommentiert. Und nun sein Glück als Feuilletonchef der Zeit sucht. Ob er das mal lieber gelassen hätte, wird die Zukunft weisen. Immerhin gibt es für ihn jetzt wieder eine.
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