Völkermord-Gedenken in Holodomor-Museum: Als Stalin die Ukraine aushungerte
Am Samstag gedenken die Ukrainer:innen der Millionen Opfer der sowjetischen „Tötung durch Hunger“. Ein Besuch im Holodomor-Museum.
Die Gedenkstätte widmet sich einer menschengemachten Katastrophe: „Tötung durch Hunger“ bedeutet das ukrainische Wort Holodomor. Es bezeichnet eine Hungersnot mit mehreren Millionen Todesopfern in einem Land, in dem es eigentlich keine Hungersnot geben kann. Die Ukraine verfügt mit ihren großen Gebieten mit Schwarzerde über ausgezeichnete Böden und kann ein Mehrfaches ihrer eigenen Bevölkerung ernähren. Nicht umsonst haften dem Land Begriffe wie Kornkammer oder Brotkorb an.
Die meisten Holodomor-Opfer starben in den Jahren 1932 und 1933 vor allem in ländlichen Gebieten. Verantwortlich war die vom sowjetischen Machthaber Josef Stalin angeordnete Kollektivierung. Stalin ließ damals massenhaft Getreide, Vieh und Lebensmittel konfiszieren. Weite Gebiete wurden abgeriegelt. Menschen, die sich auf der Suche nach Nahrung in andere Orte begaben, wurden erschossen. Parallel wurden Hunderttausende verhaftet und in Zwangsarbeitslager deportiert, die intellektuelle Elite wurde ermordet.
Es gibt Historiker, die sagen, der Begriff Genozid sei dafür nicht angemessen, weil damals auch Millionen Kasachen und Russen den Zwangskollektivierungen zum Opfer fielen. Andere argumentieren, dass der Hunger auch ein Mittel war, um die Bauernschaft in der damals ländlich geprägten Ukraine als Träger der ukrainischen Kultur zu schwächen. Schon Raphael Lemkin, der den Begriff „Völkermord“ prägte, hatte den Holodomor als Beispiel für einen sowjetischen Völkermord und als Versuch der Ausrottung der ukrainischen Nation bezeichnet.
Erst spät als Genozid anerkannt
2006 hatte das ukrainische Parlament den Holodomor als Völkermord anerkannt. Am vierten Samstag im November wird in der Ukraine der entsprechende Gedenktag begangen. Inzwischen sehen 34 weitere Staaten die Hungersnot als Völkermord. Auch der Deutsche Bundestag hat 2022 mit breiter Mehrheit dafür gestimmt, sie als Genozid einzuordnen.
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Das Holodomor-Museum befindet sich auf dem westlichen Dnipro-Ufer auf den Hügeln zwischen dem Regierungsviertel und dem berühmten Höhlenkloster Lawra. Wer zur Gedenkstätte will, kommt zunächst an einer Skulptur vorbei. Die Figur eines Mädchens, abgemagert, barfuß, hält eine Hand voll Ähren und presst sie an ihre Brust. Im Kreis um die Skulptur sind Mühlsteine angeordnet. Der Boden ist mit Steinen in langen Reihen gepflastert. „Sie symbolisieren die Furchen eines Ackers“, erklärt die Museumsführerin Daria.
Hinter der Skulptur führt der Weg auf eine weiße Betonstele zu, die eine Kerze symbolisieren soll. Vor der Stele führt eine Treppe zwischen schwarzen Steinen in die Tiefe, zum Eingang. Mit jedem Schritt hinab wird die Atmosphäre bedrückender. Der unterirdische Ausstellungsraum ist kreisrund und spärlich beleuchtet. Eine Frauenstimme ist zu hören. Sie gehört zu einem Video, das an die Wand projiziert wird.
Der Zeitzeugenbericht einer Überlebenden, die mit ansehen musste, wie in ihrer Familie einer nach dem anderen stirbt. Im Halbdunkel fallen die wenigen angestrahlten Exponate umso mehr ins Auge. Für jede der ukrainischen Regionen gibt es ein Podest. Darauf liegen jeweils ein bis zwei Bücher mit den Namen der Hungeropfer. Manche so dick, dass man sie kaum heben kann.
Raum für Trauer lassen
Etwa ein Dutzend Besucher sind an diesem frühen Sonntagnachmittag in der Ausstellung. Eine ältere Frau ist mit einem Jugendlichen gekommen. Sie zeigt auf landwirtschaftliche Geräte wie zeitgenössische Pflüge und Eggen, die seinerzeit konfisziert wurden. Dann legt sie ihren Arm um den Jungen.
In der Gedenkstätte will man sich dem Thema mit einem emotionalen Zugang nähern. Raum für Trauer lassen. „Fast jede Familie im Land hat im Holodomor jemanden verloren“, erzählt Museumsführerin Daria. Allein die Liste der bekannten Namen zähle drei Millionen Opfer. Doch nicht alle Toten wurden dokumentiert. Teils war einfach niemand mehr da, um das zu tun. Oder die kommunistische Diktatur wünschte keine Spuren. Die Ergebnisse der Volkszählung von 1937 wurden zum Staatsgeheimnis erklärt.
Direktorin Lesia Hasydzhak empfängt an einem Schließtag in der Gedenkstätte, die halb in den Hang über dem Ufer des Dnipro hineingebaut ist. Die 42-Jährige ist seit anderthalb Jahren die geschäftsführende Direktorin der Gedenkstätte. „Die Verbrechen sind 90 Jahre her“, sagt sie. Es gebe kaum noch lebende Zeitzeugen. In den meisten ukrainischen Familien wisse man noch, wer seinerzeit Eltern oder Geschwister verloren habe. „Als Historikern weiß ich, je mehr Zeit vergeht, um so wichtiger wird die Dokumentation.“ Deshalb sei es wichtig, dass die Gedenkstätte um ein richtiges Museum erweitert werde.
Die Zukunft sieht man einige Meter weiter unten am Hang. Dort entsteht das große Museum, der Rohbau ist schon fertig. Die Dachkonstruktion erinnert an ausgebreitete Flügel. Darunter soll die neue Dauerausstellung unterkommen. Sie soll sich damit auseinandersetzen, wie der Völkermord möglich wurde, wie er ablief, wie Menschen überleben konnten. „Zu Beginn und am Ende der Ausstellung werden die Stimmen der Zeitzeugen und ihrer Nachkommen einen Dialog erzeugen“, steht im Konzept.
Auch heute geht es um Korn
„Es geht nicht um eine Opfergeschichte, sondern darum, aus der Geschichte zu lernen und zu zeigen, was sie für unsere heutige Unabhängigkeit bedeutet“, sagt Hasydzhak. Ihre Schlussfolgerung mit Blick auf den russischen Angriffskrieg ist klar: „Wir haben leider keinen anderen Weg, als uns zu wehren und zu siegen.“ Nach dem Krieg wünsche sie sich ein internationales Tribunal, denn „Straflosigkeit führt zu Wiederholung“. Die Sowjetunion habe Millionen von Leben ruiniert, nicht nur in der Ukraine. „Die Deportationen von Tataren, Tschetschenen, Balten. Die Invasionen in Ungarn, der Tschechoslowakei und Afghanistan“, zählt Hasydzhak auf. „Die Liste ist lang.“
Wie genau es mit dem Neubau weitergeht ist allerdings umstritten. Es geht ums Geld. Ende Juli hatte Präsident Selenski eine Haushaltsvorlage des Parlaments zurückgewiesen und damit umgerechnet 15 Millionen Euro blockiert, die für die Fertigstellung vorgesehen waren. Die Armee brauche das Geld derzeit dringender. Eine Lösung gibt es noch nicht. Die Armee sei wichtig, sagt Hasydzhak, aber die Kultur eben auch.
Die Arbeiten am Museum hatten bereits 2008 begonnen. Seinerzeit regierte in Kyjiw Präsident Viktor Juschtschenko, der nach der Orangenen Revolution gewählt worden war. Seine Außenpolitik richtete sich gen Europa, weg von Russland. Das Gedenken an den Holodomor bekam einen größeren Stellenwert. Unter seinem prorussischen Nachfolger Wiktor Janukowitsch wurden die Arbeiten gestoppt. Erst 2017 ging es weiter.
Korn spielt auch im aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine eine Rolle. Die russische Armee blockierte monatelang die Ausfuhr von Getreide durch die ukrainischen Häfen. Damit löste sie zwar keine Hungersnot aus, sorgte aber für weltweit steigende Preise, die besonders Menschen in armen Ländern bedrohen. Gleichzeitig raubt Russland Getreide in den besetzten Gebieten und exportiert es. „Da gibt es Parallelen“, sagt Hasydzhak. Damals wie heute brauche Russland das Getreide nicht für die eigene Bevölkerung.
In den 1930er Jahren wurde Getreide exportiert, um mit den Deviseneinnahmen den Aufbau der Schwerindustrie zu finanzieren. „Aber vor allem ging und geht es um den politischen Druck“, sagt Hasydzhak. „Damals wurde den Menschen in der Ukraine direkt physisch geschadet.“ Heute sorge die Zerstörung von Infrastruktur und Vorratslagern für wirtschaftlichen Schaden.
Über die Webseite des Holodomor-Museums in Kyjiw kann man sich für eine Online-Führung und ein anschließendes Gespräch mit Museumsmitarbeitenden anmelden: holodomormuseum.org.ua
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