Videoinstallation von Marianna Simnett: Die Dämonen des Fußballs

Alternativ zum Public Viewing: Marianna Simnett erkundet in der Videoinstallation „Winner“ im Hamburger Bahnhof Gewaltmomente im Fußball.

Auf einem Fußballfeld breitet ein Mann seine Arme aus, eine Trillerpfeife baumelt an seiner Brust, das T-Shirt hat er sich über den Kopf gezogen

Film Still aus Marianna Simnetts Filminstallation „Winner“ Foto: Courtesy Marianna Simnett und Socit Berlin

Der Sieger ist am Ende die maximale Zerstörung. So lässt sich Marianna Simnetts Videoinstallation „Winner“ zusammenfassen, die der Hamburger Bahnhof passgenau zur Fußball-EM präsentiert. „Winner“ thematisiert Fußball – ganz besonders aber die damit verbundenen Machtssysteme und Grausamkeitsexzesse.

Kenner der Welt des runden Leders werden spektakuläre Foulspiele erkennen, die die seit einiger Zeit in Berlin lebende britische Künstlerin eine Gruppe von Tän­ze­r*in­nen nachstellen ließ. Der von Stollen aufgeschlitzte Oberschenkel von Ewald Lienen aus dem fernen Bundesligajahr 1981 etwa oder auch der in der Luft angesetzte Ellenbogenhieb an den Kopf, den der spätere italienische Fußballweltmeister Daniele de Rossi 2006 ausführte. Das Blut spritzt dabei, als hätten Altmeister des Splatterfilms wie George A. Romero oder Peter Jackson auf dem Regiestuhl Platz genommen.

Simnett dekliniert bei ihren Gewaltfantasien aber auch die anderen Akteursgruppen im Fußball durch. Auf den Rängen lässt sie mehrere Reihen Babys Platz nehmen, die freudig, lustig und manchmal auch erschreckt die Szenen unten auf dem Spielfeld verfolgen.

So chorisch, wie sie mitunter singen, muten sie als KI-generierte Babyschar an. Das darf man als Ausblick auf in nicht ganz so ferner Zukunft liegende Übertragungen von Großevents deuten. Schon jetzt werden dem Fernsehpublikum gelegentlich virtuelle Werbebanden eingeblendet, die im Stadion selbst gar nicht zu sehen sind.

Marianna Simnett: „Winner“, Hamburger Bahnhof in Berlin, bis 3. November

Da liegt es auch für Veranstalter und Promoter nahe, Bilder von missliebigem Fanverhalten – politische Botschaften etwa, Pyrotechnik oder Randale – von vornherein zu vermeiden und stattdessen mithilfe generativer Video-KI-Tools wie Runway, Midjourney oder Peech die jeweiligen Lieblingsfanhorden zu erzeugen.

Einsturz schwarz-rot-goldenes Kartenhaus

Eines der Babys wiederum wird in den Kampf von sehr ambivalenten Gestalten gegen das große Entertainmentsystem verstrickt. Es schnappt sich einen Schnuller und läuft auf und davon. Durch ein mit dem Schnuller verbundenes Seil bringt es dabei unfreiwillig eine gewaltige Pyramide aus Roten und Gelben Karten zum Einsturz. Als Verweis auf das Gastgeberland der Europameisterschaft ist die eine oder andere Kartenrückseite auch schwarz, sodass hier ein schwarz-rot-goldenes Kartenhaus in sich zusammenpurzelt. Tja, welches Kind wird in Zukunft Deutschland zerstören?

Vielleicht imaginieren sie sich als Kämpfer gegen die Großevents

Bei der Gruppe jedenfalls, die den Schnuller abgelegt hat, kann es sich um klassische Hooligans handeln. Sie tanzen zuvor selbst einige Gewaltsequenzen aus und lassen dabei aus kreisenden Bierflaschen schöne Fontänen schießen. Vielleicht imaginieren sie sich aber auch als Untergrundkämpfer gegen die Eventgroßmächte. Es könnte sogar eine Racheaktion nichtmenschlicher Spezies sein, denn den Gestalten kleben noch ein paar Federn im Gesicht. Ganz am Ende zieht ein Vogelschwarm am Stadiondach vorbei, vertrieben offenbar von den menschlichen Großevents.

In den Ecken des Ausstellungsraums sieht man ganze Haufen solcher Federn. Das Material erinnert an einen anderen Großen der ­Aktions- und Installationskunst: Joseph Beuys, dessen Arbeiten nur ein paar Räume weiter zu sehen sind. Als hilflose Ordnungsmacht taucht auch noch eine betagte Schiedsrichterin auf, die eifrig Rote und Gelbe Karten verteilt, dem Unheil damit aber keinesfalls Einhalt gebieten kann.

Als Alternativprogramm zum Public Viewing ist „Winner“ unbedingt zu empfehlen. Und Simnett, die in der Vergangenheit schon mit anderen tief ins Bewusstsein dringenden Inszenierungen von Gewalt aufgefallen ist – etwa dem surreal anmutenden Trip eines Ferkels, dem in „The Severed Tail“ der Schwanz abgeschnitten wird –, ist eine so überraschende wie gleichzeitig einleuchtende Position im offiziellen Kulturprogramm dieser EM.

Überraschend, weil die glattgebügelten Bilder von derartigen Großevents Gewalt eher ausschließen. Einleuchtend, weil Gewalt, Ekstase und Grenzüberschreitung ganz fundamental zum Balltreter-Universum gehören.

Simnett hat mit „Winner“ ein vielschichtiges dystopisches Märchen kreiert, das noch über den Horizont dieser EM hinausreichen dürfte. Wann kann man das schon mal von einem Begleitprogramm sagen?

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