Videobeweis im Fußball: Verhasster Kölner Keller
Die Arbeit der Videoassistenten hat sich vom eigentlichen Spiel entkoppelt. Kann die sogenannte Challenge Abhilfe schaffen?
Die gerade zu Ende gegangene zweite Runde des DFB-Pokals hat sich zu einer Art Oase der Puristen und VAR-Skeptiker entwickelt, denn selbst bei Duellen zwischen Bundesligaklubs muss niemand das in die Luft gemalte Bildschirmzeichen der Schiedsrichter fürchten. Der Kölner Keller schweigt.
Es gibt keine Checks, keine Zweifel beim Torjubel, und das Gefühl, dass das ungerecht sein könnte, hat kaum jemand, weil die mehr als sieben Bundesligajahre mit dem Video Assistant Referee (VAR) die Technik vollständig entzaubert haben. „Die Umsetzung des VAR hat mich verloren“, sagt beispielsweise Eintracht Frankfurts Vorstandssprecher Axel Hellmann, „der Videobeweis befindet sich in einer Sackgasse.“
Verwirrung und Russisch-Roulette
Längst beschädigen die vielen Fehler, die immer neuen Auslegungsvorgaben, undurchschaubare Eingriffsschwellen und eine selbst nach so vielen Jahren noch zunehmende Verwirrung die Attraktivität des Spiels. Der ehemalige Weltklasseschiedsrichter Urs Meier zieht einen Vergleich zum Airbag beim Auto: „Wenn der bei zehn Unfällen sieben Mal richtig auslöst und drei Mal falsch, dann kann ich auch Russisch-Roulette spielen.“ Eine derart fehlerhafte Technik „hätte man in der freien Wirtschaft entweder vom Markt genommen oder sie wäre so verbessert worden, dass es funktioniert“, sagt Meier.
Der Schweizer wundert sich nicht mehr über die Dysfunktionalität der Zusammenarbeit zwischen Technik und Mensch, denn so wie der VAR derzeit zur Anwendung kommt, erzeugt er ein verzerrtes Bild der Realität. „Es ist verdammt schwierig, mit diesen Bildern zu arbeiten“, sagt der Schweizer.
„Die Leute im Kölner Keller sind unglaublich unter Druck, die Geschwindigkeit der abgespielten Bilder ist oft verändert, die Distanzen lassen sich nur schwer abschätzen, manchmal sind Situationen unvollständig. Und wenn du es fünf Mal anschaust, dann denkst du anfangs: Nein, das muss man nicht pfeifen, aber man sucht Argumente und dann verfestigt sich etwas.“ Die Arbeit der Videoassistenten hat sich vom eigentlichen Spiel entkoppelt, der Fehler liegt im System.
Die Videoassistenten verfolgen nicht mehr das Spiel und seine Geschichte, was für gute Entscheidungen unerlässlich wäre. Sie stecken fest in der Betrachtung und Überprüfung einzelner Szenen. Peter Knäbel, der frühere Vorstand des FC Schalke, hat die Tätigkeit der VAR einmal mit der Arbeit von Kaufhausdetektiven verglichen, die permanent auf der Suche nach Vergehen sind.
Permanente Suche nach Kleinigkeiten
Getrieben von der Furcht, irgendetwas zu übersehen. Auch deshalb wird neuerdings ernsthaft über eine Revolution nachgedacht: über ein Konzept mit dem sogenannten Video Support (VS), das im September bei der U20-WM der Frauen ausprobiert wurde, das demnächst in der dritten italienischen Liga zum Einsatz kommen soll und damit zu einer ernsthaften Alternative werden könnte.
Wie bei den sogenannten Challenges im Hockey oder American Football haben die Trainer die Möglichkeit, zwei bis drei Szenen pro Partie überprüfen zu lassen. Gecheckt wird also nur noch nach Aufforderung, und es wäre klar, welcher mögliche Regelverstoß untersucht werden soll. „Wenn diese permanente Suche nach Kleinigkeiten aufhört, die auf dem Platz und im Stadion niemand wahrnimmt, wäre das im Sinne des Fußballs“, sagt Meier.
Sollte ein Trainer eine Situation überprüfen lassen, dann würde das zudem ohne Zeitdruck und in aller Ruhe stattfinden – eine enorme Erleichterung. „Die Königsdisziplin wäre dann, wenn die Bilder, die der Schiedsrichter sich am Monitor anschaut, auch auf der Anzeigetafel zu sehen sind und der Schiedsrichter noch erklären würde, aufgrund welcher Argumente jetzt ein Elfmeter gegeben wird oder eben nicht“, sagt Meier.
Zudem hätte der VS in Meiers Augen einen entscheidenden Vorteil: Seit der Einführung des Videobeweises „übernehmen die Schiedsrichter nicht mehr die volle Verantwortung“, sagt er. „Früher sind Schiedsrichter über das Hochseil gelaufen und hatten kein Fangnetz. Heute gehen sie über das Hochseil und wissen: Wenn wir etwas nicht gesehen haben, dann greift der VAR ein.“
Daher fehle „diese absolute Konsequenz“ und auch die Bereitschaft, „die letzten fünf Meter durchzusprinten, zu kämpfen, um die beste Sicht auf alle Szenen zu haben“. Die Schiedsrichterarbeit ist seit der Einführung des VAR von einer Zögerlichkeit geprägt, die sich negativ auf die Leistungen auswirkt.
Inzwischen ist man auch beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) offen für grundlegende Anpassungen. Jochen Drees, der für den Videobeweis zuständige Innovationsleiter im Verband, sagt: „Wenn das Okay von der Fifa käme, dann wären wir hier in Deutschland sehr zügig in der Lage, den Video Support umzusetzen.“ Wobei Drees vor allzu großen Erwartungen warnt: „Die Challenge ist kein Allheilmittel.“
Es gäbe zwar weniger Unterbrechungen, eine größere Transparenz, und auch kleinere Ligen wie die Frauen-Bundesliga könnten teilnehmen, weil die Unparteiischen die Szenen selber am Spielfeldrand anschauen könnten und keine Kollegen im Kölner Keller zu Rate ziehen müssten.
Aber Fehler von Menschen würden weiterhin passieren, und ein anderes großes Ärgernis bliebe ebenfalls: Die Zuschauer im Stadion, deren Jubel durch den VAR fast immer von einem Gefühl des Zweifels begleitet ist, weil jederzeit eine Überprüfung droht, müssten sich auch mit Video Support vor einer Korrektur der ursprünglichen Entscheidung fürchten. Denn die Detektivarbeit, von der der Kölner Keller befreit wäre, würde dann nach jedem Tor auf der Trainerbank stattfinden. In der Hoffnung, irgendeinen Ansatz für eine Challenge zu finden.
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