Versöhnlichkeit ritualisieren: Unrecht entschuldigen
Grundlegende Gedanken zu den Begriffen Versöhnung, Vergebung und Reue anlässlich des jüdischen Feiertags Jom Kippur.
W as 2019 geschah, wäre nicht passiert, wenn es mehr Versöhnung gäbe“, meinte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff (CDU) in seiner Rede zu Jom Kippur in der Synagoge in Halle. Ein Jahr nach dem Anschlag auf dieses Gotteshaus scheint die Politik immer noch nicht verstanden zu haben, dass es mit Rechtsextremen keine „Versöhnung“ geben kann. Es befremdet stark, dass die Aufforderung „Versöhnt euch!“ an die Überlebenden des Angriffs gerichtet wird – auch mit Verweis auf die jüdische Tradition. Im Sinne von Jom Kippur möchte ich dennoch versöhnlich mit Reiner Haseloffs Fehltritt umgehen.
Der Grundgedanke des Festes ist, dass jeder Mensch Fehler begeht. Deshalb steht in seinem Zentrum die Entschuldigung bei den Mitmenschen. In der Woche vor Jom Kippur sollen die Gläubigen ihr Gewissen erforschen und prüfen, welche Handlungen des vergangenen Jahres sie am meisten bereuen: Wem habe ich Unrecht getan? Diese Personen müssen aufrichtig um Verzeihung gebeten werden. Wenn die Entschuldigung nicht angenommen wird, empfiehlt der Philosoph Maimonides, es noch einmal zu versuchen und dann ein drittes Mal – im Beisein von Freund*innen, die die ehrliche Zerknirschung bezeugen.
Diese jahrtausendealte Praxis ritualisierter Reue und Vergebung strahlt momentan große Anziehungskraft aus. Fastfood-Entschuldigungen werden genauso leichtfertig und berechnend produziert wie die Skandale, die sie notwendig machen. Der RBB entschuldigt sich für Witze von Serdar Somuncu, Christian Lindner entschuldigt sich bei Linda Teuteberg für sexistische Bemerkungen, sogar Attila Hildmann hat für seine Chatgruppe eine „Entschuldigung“ bei Volker Beck verfasst, nicht ohne ihn weiter zu beleidigen.
Bierdeckeldiskurs von Friedrich Merz
Paradigmatisch für diese Gratisentschuldigungen ist die von Friedrich Merz, der Homosexualität zuvor als „Lebensentwurf“ bezeichnet hatte: „Wenn sich irgendjemand davon persönlich getroffen gefühlt hat, bedauere ich das wirklich sehr.“ Nach dem Motto, Selber schuld, wenn ihr euch schlecht fühlt!
Im Deutschen ist „sich entschuldigen“ eine besondere linguistische Konstruktion. Im Kurs „Deutsch als Fremdsprache“ lernte ich, die Vorsilbe „ent-“ bringt zum Ausdruck, dass etwas in seinen Ausgangszustand gebracht wird. Eigentlich kann man nur um Entschuldigung bitten, „entschuldigen“ kann nur die geschädigte Person. „Ich entschuldige mich“ ist hingegen eine autoritäre Selbstbefreiung, bei der die Vergebung der anderen Person vorausgesetzt wird; von ihr wird nur mehr erwartet, dem Selbstvergebungsritual zu applaudieren.
Meron Mendel ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main.
Wer das nicht tut, gilt als Spielverderber*in. Hier kommt die deutsche Sprache dem Trend zu Fastfood-Entschuldigungen entgegen: Oft werden Entschuldigungen von Jurist*innen und Marketing-Fachleuten diktiert; sie sind selbst schon Teil einer Image-Kampagne, genauso kalkuliert wie die Grenzüberschreitung zuvor. Sie sind schließlich auch die billigste Methode, sich aus der Affäre zu ziehen: sich entschuldigen kostet nichts. Für meinen Geschmack verstärken derart zynische, rein der Form halber vorgetragene Entschuldigungen noch das begangene Unrecht.
Entschuldigungen machen niemanden wieder lebendig. Gerade in Auseinandersetzungen um rassistische und sexistische Äußerungen in der Öffentlichkeit scheinen mir Entschuldigungen einen viel zu hohen Stellenwert einzunehmen. Sie sorgen dafür, dass Entgleisungen oft auf einer rein emotionalen Ebene diskutiert werden: Gefühle wurden verletzt, aber durch eine Entschuldigung kann diese Verletzung wieder aufgehoben werden – damit ist die Debatte meist wieder beendet. Die intellektuelle und politische Dimension bleibt dabei völlig unreflektiert.
Man müsste sich hier stärker am Jom Kippur orientieren: Alle Entschuldigungen eines Jahres wären künftig an einem einzigen Tag abzuhandeln – dafür müsste man es aber ernst damit meinen. Der Vorteil wäre: Alle falschen, sinnlosen oder heuchlerischen Entschuldigungen blieben uns fürs restliche Jahr erspart.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“