Verschärftes Asylrecht: Wer frieren muss, der soll auch leiden
Am November drohen Flüchtlingen auch im Norden unangekündigte Abschiebungen, längere Isolation und eine schlechtere Gesundheitsversorgung
Flüchtlinge aus Albanien, Kosovo und Montenegro, meist Roma, sollen künftig schneller abgeschoben werden. „Überfallartige Abschiebungen werden künftig Pflicht“, sagt Claudius Voigt von der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender. Die Länder hätten da, anders als bisher, „kein Ermessen“ mehr. In Niedersachsen etwa wurden solche Maßnahmen bisher meist angekündigt. Nun gelte: Wer eine Aufforderung zur freiwillige Ausreise verstreichen lasse, dem dürfe seine Abschiebung nicht mehr angekündigt werden, so Voigt, der kürzlich Sachverständiger im Bundestag war. Das niedersächsische Innenministerium wollte sich gestern nicht äußern – wegen der „hohen Anzahl von Anfragen“.
Für die Betroffenen sind solche Abschiebungen oft traumatisierend. „Sie müssen nun wieder jede Nacht panisch einschlafen, sagt Gundula Oerter von der Flüchtlingsinitiative Bremen. Bremen setze weiter auf eine freiwillige Ausreise, sagte Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) dem Weser-Kurier, habe aber „keinen Ermessensspielraum“.
Mäurer mahnte zugleich mehr Personal an, um abschieben zu können, bisher sei die Ausländerbehörde darauf nicht vorbereitet. 2010 hatte Bremens Landtag beschlossen, nicht in den Kosovo abzuschieben. Diese Frage bedürfe nun „einer Neubewertung“, heißt es im Innenressort. In Bremen gingen 2015 bis Ende September 883 Asylanträge aus Albanien oder dem Kosovo ein, 855 Verfahren waren anhängig.
Das neue Asylrecht, dem neben SPD und CDU auch die Grünen in Hamburg und Schleswig-Holstein zustimmten, sei „eine Kampfansage an Schutzbedürftige“, sagt Gundula Oerter von der Flüchtlingsinitiative. „Die Bedingungen werden sich total verschlechtern – dabei sind sie jetzt schon miserabel.“ Sie berichtet von einer jungen Mutter, die mit einem drei Wochen alten Baby derzeit in Bremen lebt. Seit zwei Monaten habe sie kein Geld, nicht mal eine Erstausstattung fürs Kind, so Oerter, und das sei kein Einzelfall.
Versperrte Bleibeperspektive
Bisher gilt in Bremen, dass Flüchtlinge nach drei Monaten in privaten Wohnraum vermittelt werden sollen und einen eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen können. „Dieses Ziel gilt weiter“, heißt es im Bremer Sozialressort. Das verschärfte Asylrecht sieht aber eine sechsmonatige Lagerpflicht vor, zu der ein völliges Arbeitsverbot gehört. „Das ist eine Isolation auf allen Ebenen“, so Voigt.
Menschen aus „sicheren Herkunftsstaaten“ sollen bis zum Abschluss ihres Verfahrens untätig in Sammelunterkünften warten müssen, also oft viel länger als sechs Monate. Doch diese Lager sind schon heute überfüllt. Und: Bisher konnten sich auch Roma aus dem westlichen Balkan durch einen Job hierzulande eine dauerhafte Bleibeperspektive erarbeiten, so Voigt. Damit soll nun Schluss sein.
Gesundheitskarte zweiter Klasse
Gefährdet ist auch die Gesundheitskarte, wie es sie derzeit in Bremen und Hamburg gibt und bald auch in Niedersachsen geben soll. Zwar will der Bund allen Länder erlauben, eine Gesundheitskarte einzuführen, mit der Flüchtlinge direkt zum Arzt gehen können. Doch während man bisher oft akzeptierte, dass Asylbewerber ähnlich behandelt wurden wie deutsche Kassenpatienten, sollen sie nun nur Karten zweiter Klasse bekommen. Der Mindeststandard im Asylbewerberleistungsgesetz liegt deutlich unter dem für Hartz-IV-Bezieher: Er schließt die Behandlung chronischer Krankheiten wie Diabetes, mancher Zahnerkrankungen oder psychotherapeutische Behandlungen aus. Bremen werde an seinem „erfolgreichen System nichts ändern“, erklärt das Sozialressort.
Eine weitere Änderung: Künftig sollen wieder verstärkt Sachleistungen statt Bargeld in der Erstaufnahme ausgegeben werden. Abgelehnte Asylbewerber, die sich der Ausreise verweigern, sollen keine Sozialleistungen erhalten. Hier haben die Länder Ermessensspielraum. Sie können weiter 143 Euro Taschengeld zahlen. Es stehe zu befürchten, dass Bremen vermehrt auf Sachleistungen setze, so Oerter. Das Sozialressort will aber nach eigenen Angaben an der bisherigen Praxis festhalten.
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