Versäumnisse in der Coronaforschung: Es fehlen die Daten
Über ein Jahr schon versetzt uns Covid-19 in den Ausnahmezustand. Viele Fragen hätte die Wissenschaft schon längst beantworten können.
An diesem Mittwoch war es wieder so weit: Forschungsministerin Anja Karliczek trat mit ihrem Kabinettskollegen aus dem Gesundheitsressort Jens Spahn vor die Bundespressekonferenz, um ein neues, 300 Millionen Euro schweres Förderprogramm für die Entwicklung von Coronamedikamenten zu verkünden. Dabei geht es um Patienten, die bereits erkrankt sind und in einer Klinik behandelt werden müssen. Die neuen Arzneimittel sind seit Anfang des Jahres bereits in den klinischen Testphasen I und II geprüft worden. „Ich freue mich, dass wir nun die Forschung und Entwicklung auch auf die finale Testphase und die Herstellungskapazitäten ausdehnen können“, sagte Karliczek. Ziel sei es, dass „damit wirksame und sichere Arzneimittel gegen Covid-19 möglichst rasch bei den Patientinnen und Patienten ankommen“.
Leider müsse damit gerechnet werden, dass selbst bei einer hohen Impfrate Menschen weiter an Covid-19 erkrankten, für die dringend neue Therapieoptionen bereitgestellt werden müssten. Mit dem neuen Programm sollen auch bereits für andere Krankheiten zugelassene Arzneimittel darauf geprüft werden, ob sie gegen Covid-19 wirken.
Das neue BMBF-Programm ist auch eine Reaktion auf die Kritik des Wissenschaftsrats (pdf-Datei), der im Januar bemängelt hatte, dass in Deutschland bei klinischen Studien das „Potenzial für die Verbesserung der Versorgung hierzulande nicht ausgeschöpft wird“. Insbesondere bei Studien zu Wirkstoffen und Therapieverfahren für Covid-19 spiele die universitäre und außeruniversitäre Gesundheitsforschung in Deutschland „jedenfalls zu Beginn der Pandemie keine führende Rolle“, stellte der Wissenschaftsrat fest. In anderen europäischen Staaten wie den Niederlanden, Großbritannien und der Schweiz liege die Anzahl öffentlich finanzierter Studien zu Covid-19 deutlich höher.
Wo ist das Infektionsrisiko hoch?
Eine weitere Leerstelle deutscher Forschung zeigte sich beim Auftreten erster Mutanten von SARS-CoV-2. „Gefährliche Mutationen erkennt man nur dann rechtzeitig, wenn man die Virusgenome aus Infizierten durch engmaschige Überwachung (Surveillance) via Komplett-Sequenzierung überprüft“, stellte das Fachmagazin Laborjournal Anfang des Jahres fest. Dies sei „ein Aspekt, der in Deutschland bisher auf fahrlässige Weise vernachlässigt wurde“. Überschrift des Fachartikels: „Deutschland blamabel bei Corona-Sequenzierung“.
Keine Verbesserung gibt es auch auf der epidemiologischen Seite, wo es um die infektiöse Verbreitung des Virus geht. So schreibt das Robert Koch-Institut (RKI) in einem aktuellen Lagebericht über Covid-19-bedingte Ausbrüche: „Beim Großteil der Fälle ist der Infektionsort nicht bekannt.“ Betroffen seien insbesondere private Haushalte, aber auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld, wird vage mitgeteilt. Warum hat die Infektionsschutzbehörde nach über einem Jahr nicht eine präzisere Sicht auf die Verbreitung?
Auch die Schwachstelle der Datenvernetzung und des Datenmanagements im Gesundheitsbereich, wo es „zahlreiche Mängel“ gebe, hatte der Wissenschaftsrat angeschnitten. So fehle „ein standortübergreifender Zugang zu standardisierten Daten aus medizinischer Forschung und Versorgung“. Als noch gravierender stellt sich mittlerweile die generell unzureichende Erhebung von Daten über die Covid-19-Verbreitung heraus.
„Seit Beginn der Pandemie erleben wir ein Versagen der Fachgesellschaften von der Statistik über die Epidemiologie bis zur Soziologie“, sagt der Datenerhebungsexperte Rainer Schnell von der Universität Duisburg-Essen. Keine wissenschaftliche Organisation habe die, wie er es nennt, „Datenerhebungskatastrophe“ kritisiert.
„Deutschland läuft englischsprachigen Ländern hinterher“
„Deutschland läuft der Datenerhebungsqualität der englischsprachigen Länder meilenweit hinterher“, ergänzt der Medizinstatistiker Gerd Antes, Mitbegründer des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Am schlimmsten sei, dass es „weder in der Politik noch in der Wissenschaft vielversprechende Anstrengungen gebe, das Empirie-Defizit zu beheben“, wird Antes im Wissenschaftsblog des Berliner Fachjournalisten Jan-Martin Wiarda zitiert: „Da herrscht eine Mischung aus Inkompetenz, Arroganz und Interessenkonflikten.“
Wiarda ist in einer ausführlichen Recherche der Frage nachgegangen, warum es in der deutschen Forschung kein „Corona-Panel“ gibt, das die Verbreitung des Virus repräsentativ misst. „50.000 bis 100.000 Stichprobentests alle ein bis zwei Wochen würden genügen“, so seine Einschätzung. Stattdessen herrsche ein Datenflickwerk, das keine valide Grundlage für politische Entscheidungen von großer Tragweite darstellen könne.
Ein Anlauf des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) zusammen mit dem Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) in Bremen hatte keinen Erfolg, fand Wiarda heraus. Die Idee war, das Corona-Panel an das wissenschaftliche Datengroßprojekt „NAKO – Nationale Gesundheitskohorte“ anzudocken, bei dem 200.000 Deutsche zwischen 20 und 69 Jahren kontinuierlich Auskunft über Lebensumstände und Krankheitsgeschichte geben. Das Konzept habe auch die Zustimmung des RKI gefunden. Doch das BMBF habe die Bedeutung des Vorhabens nicht erkannt und eine Finanzierung verweigert, kritisieren die Forscher. Als wenig kooperativ habe sich zudem die NAKO-Leitung gezeigt: „Die saßen auf ihrer Studie und wollten nicht teilen.“
Jenseits von Eifersüchteleien verhindert ein gesundheitswissenschaftliches Strukturproblem eine Besserung. „Die Pleiten, Pech und Pannen der deutschen Coronapolitik haben eine gemeinsame Ursache“, so Wiardas Analyse. „Das Zusammenspiel von Politik, Administration und Wissenschaft wird nicht funktionieren, solange ‚Public Health‘ nicht zu einer Leitdisziplin in Deutschland wird.“ Die gesellschaftliche Gesundheitsversorgung ist ein Stiefkind des patientenzentrierten Medizinsystems.
Welchen Weg nimmt das Virus? Unbekannt
Weil weiterhin unbekannt ist, welche Wege das Virus genau nimmt, kommen die politischen Präventionsmaßnahmen vielfach einem Stochern im Nebel gleich. Ganze Bevölkerungsgruppen wie Migranten oder sozial Benachteiligte fallen mit ihrer besonderen Belastungssituation aus dem Blick. Andere Gruppen wie Schüler und Studierende werden mit ihrem Infektionspotenzial wahrscheinlich falsch eingeschätzt. Das Ergebnis sind „Notbremsen“, die nicht geringen Kollateralschaden produzieren, etwa über die strikten Inzidenzwerte.
Ein Leser des viel kommentierten Wiarda-Blogs schrieb, dass der Frust unter Schulrektoren, Lehrern und Eltern steige. „Bei uns im Landkreis wurden alle Schulen geschlossen, nachdem Infektionen in sechs Betrieben und einer einzigen Kita den Inzidenzwert nach oben katapultiert haben.“ In den ihm bekannten Schulen wurden drei Reihentests die Woche durchgeführt – ohne Funde. Ein Rektor meinte verzweifelt: „Wir testen wie blöde, aber keiner interessiert sich für unsere Zahlen.“
Bildungspolitische Langzeitschäden durch Corona sind ebenfalls ein Forschungsthema. Aber dieses Großexperiment mit zehn Millionen Teilnehmern läuft noch eine Weile.
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