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Vermehrte Proteste in RusslandEin neues Gefühl des Erfolgs

Die Freilassung des russischen Journalisten Iwan Golunow zeigt: Präsident Putin muss Unmut ernst nehmen. Das gibt Protesten Auftrieb.

Protestanten versuchen im Mai 2019 im russischen Jekaterinburg einen Zaun niederzurennen Foto: ap

Moskau taz | Iwan Golunow ist in Russland zum Symbol einer neuen Hoffnung geworden. Denn dass der investigative Journalist, der am 6. Juni festgenommen worden war, am Dienstag freigelassen und alle Anklagepunkte fallen gelassen wurden, ist bislang ohne Beispiel. Drogenhandel und -missbrauch wurden ihm unterstellt. Fahnder hatten das Rauschgift in seinem Rucksack deponiert.

Normalerweise gilt: Wer in die Fänge von Polizei und Justiz gerät, hat keine Chance. 99 Prozent der Verdächtigen werden verurteilt, ob sie nun etwas auf dem Kerbholz haben oder nicht. Ein Drittel aller wegen Drogen Einsitzenden soll demnach unschuldig im Gefängnis sitzen. Auch jenen soll der Beweis untergeschoben worden sein.

Im Fall Golunow hatten Journalisten und Zivilgesellschaft sofort Alarm geschlagen. Und diesmal übertraf die Solidarität alles bisher Bekannte. Die Präsidialadministration im Kreml war nicht nur überrascht, berichtet ein Insider. Sie war ratlos, wie sie auf den Protest reagieren sollte.

In dem Aufbegehren entlud sich eine Unzufriedenheit, die sich seit Längerem angestaut hatte. Selbst Politikberater und bestallte Beobachter der öffentlichen Ordnung hatten die Wucht des Widerstands nicht vorausgesehen.

Ein unfreiwilliger Initiator

Der russische Schriftsteller und politische Seismograf Wiktor Jerofejew sprach Iwan Golunow denn auch unmittelbar nach den Ereignissen die Rolle eines nichtsahnenden, unfreiwilligen Initiators zu. Er hätte etwas in Bewegung gesetzt, das die Verhältnisse in Russland maßgeblich verändern werde. Der Zeitplan sei jedoch noch offen. Von einer „Wasserscheide“ zwischen Staat und Gesellschaft spricht auch Waleri Solowei, Politikprofessor an der diplomatischen Kaderschmiede MGIMO in Moskau.

Hoffnungen auf Veränderungen hatten viele Wähler schon vor den russischen Präsidentschaftswahlen 2018.

Hoffnungen auf Veränderungen hatten viele Wähler schon vor den russischen Präsidentschaftswahlen 2018, bei denen Wladimir Putin mit überwältigender Mehrheit ins Amt zurückgewählt wurde. Diese Klientel verband mit dem Kremlchef die Hoffnung, er könnte nach der Inthronisierung neue Wege der gesellschaftlichen Wiederbelebung beschreiten. Die Erwartungen waren noch nicht konkret, dem Präsidenten wurde aber die Rolle des potenziel­len Erneuerers zugeschrieben.

Die Veränderungen kamen am Tag der Eröffnung der Fußball-WM in Russland im Juni letzten Jahres: Das Rentenalter wurde bei Frauen um fünf Jahre auf 60, bei Männern auf 65 Jahre angehoben. Für Russlands angehende Rentner war dies ein Schock. Viele demonstrierten. Bei anschließenden Regionalwahlen kassierte die Kremlpartei krachende Niederlagen.

Und doch gilt für viele Zweifelnde noch bis heute. „Wenn Putin das wüsste …“ Der Wille des guten Zaren Wladimir werde von eigennützigen Bürokraten hintergangen, glauben viele. Dennoch hat der Präsident deutlich an Zustimmung eingebüßt. Vor allem als Hoffnungsträger verlor er an Gewicht.

Widerstand gegen eine Mülldeponie

Proteste im letzten Jahr entzündeten sich zunächst an ökologischen Problemen. In Schies bei Urdoma im Verwaltungsgebiet Archangelsk im hohen russischen Norden wehrten sich im August Einwohner gegen den Bau einer Mülldeponie für den Abfall aus dem 1.200 Kilometer entfernten Moskau.

Die Aktivisten fürchten nicht nur die Vernichtung des Ökosystems, sie gehen davon aus, dass die giftigen Abfälle erst ins Grundwasser und dann bis in die Barentssee gelangen. Und: Die Anwohner waren weder informiert noch gefragt worden. Der übliche Projektantrag war auch nicht eingereicht worden. Abgesandte fuhren nach Moskau, um die Hintergründe des Vorhabens zu klären.

Die Emissäre kehrten unverrichteter Dinge zurück, im Parlament und in der Präsidialadministration wollte sie keiner empfangen. Der Bau wurde fortgesetzt. Bürgerinitiativen überwachen seither den Bauplatz und werden von Ordnungskräften regelmäßig malträtiert.

In Urdoma besitzt Gazprom eine Niederlassung, die Angestellten sind gebildet und im Umgang mit Bürokratie erfahren. Unter den aktiven Gegnern sind ehemalige Bürgermeister, Abgeordnete und Vertreter regio­naler Behörden. Das war einmal die typische Wählerschaft des Kremlchefs.

Angst vor dem Aufstand der Zivilbevölkerung

Etwas erfolgreicher verlief der Widerstand in Jekaterinburg im Ural. Dort verhinderten Demonstranten den Bau einer Kirche in einem städtischen Park. Nach wochenlangem Protest schaltete sich Putin persönlich ein und trug dem Gouverneur auf, in einem Referendum den Willen der Bürger zu klären.

Offiziell versucht Moskau die Anliegen aus dem Weg zu räumen und die Menschen zufriedenzustellen. „Das ändert aber nichts an der sozialen und politischen Unzufriedenheit der Bevölkerung“, meint Waleri Solowei. Moskau fürchtet nichts so sehr wie einen Aufstand der Zivilgesellschaft.

Derartige Proteste finden im ganzen Land statt, auch wenn sie nicht landesweit Widerhall finden. Auffällig ist, dass Themen schnell politischen Charakter annehmen, meint Solowei und weist auf noch ein Novum hin: Ende Mai zog die Zahl der Nutzer sozialer Medien mit traditionellen Fernsehzuschauern gleich.

Das Internet wird von der politischen Führungsschicht jedoch nicht als eigene, andere Welt verstanden, die soziokulturellen Folgen des Wandels sind ihr noch nicht klar. Zurzeit wird für den Ernstfall überlegt, Russland – ähnlich wie in China – einfach aus dem globalen Netz zu nehmen.

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