Verklappung und Verpestung: Die im Graphitregen stehen
Die niederländische Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Stahlfabrikanten Tata Steel. Grund: mutmaßliche vorsätzliche Umweltverschmutzung.
Der Fabrikkomplex von Tata Steel, mit 750 Hektar das größte Industriegelände des Landes, hat die höchsten CO2-Emissionen aller in den Niederlanden ansässiger Unternehmen – 12,3 Millionen Tonnen jährlich. Dazu häufen sich seit Jahren ökologische Hiobsbotschaften: Der Ausstoß sogenannter Polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe (PAK) und Stickstoffoxide liegt jenseits zulässiger Werte. Messpunkte in der Nähe weisen stark erhöhte Feinstaubwerte auf, und sogenannter Grafitregen in der Umgebung enthält die vor allem für Kinder gefährlichen Schwermetalle Blei, Mangan und Vanadium.
Anfang 2021 reichte Anwältin Bénédicte Ficq eine Sammelklage ein, der sich bisher rund 1.200 Anwohnende anschlossen. Ficq ist in den Niederlanden mit dem Versuch bekannt geworden, die Tabakindustrie strafrechtlich verfolgen zu lassen. Ihre Klage wurde 2018 jedoch abgewiesen. Als „sehr wichtigen Schritt vorwärts“ begrüßt die Anwältin nun das neue Ermittlungsverfahren. „Wir haben Anzeige wegen einer schweren Straftat erstattet: kriminelle Luftverschmutzung mit Gefahr für die Gesundheit. Hielte die Staatsanwaltschaft das für unbegründet, würde sie diesen Schritt nicht gehen.“
Die Indizienlage scheint tatsächlich deutlich: Eine Studie des staatlichen Gesundheitsamts RIVM aus dem Jahr 2020 beziffert das Lungenkrebsrisiko im Nachbarstädtchen Beverwijk als um 27 Prozent höher als im Landesdurchschnitt. Laut niederländischer Medien haben manche Gebiete der Umgebung sogar 51 Prozent mehr Risiko. Im Januar kam eine weitere RIVM-Untersuchung zu dem Schluss, dass die Emissionen Tata Steels viel höher liegen als die Werte, die das Unternehmen selbst nennt. So wurde sechsmal mehr Blei und 30-mal mehr Vanadium ausgestoßen als angegeben. Die Werte mancher PAK liegen gar bis 1.000-mal höher.
Mehr Krankheiten
Der Ijmuidener Hausarzt Luc Verkouteren ist in seiner Praxis regelmäßig mit den Auswirkungen konfrontiert. „Es gibt in der Region viel mehr Krebserkrankungen, aber auch Herz-, Gefäß- und Lungenkrankheiten wie COPD oder Asthma. Auch Diabetes ist häufig. Hier wird mit der Gesundheit der Anwohnenden und der Belegschaft gespielt.“ Verkouteren sieht das Problem auch in mangelnder behördlicher Aufsicht. Erst in den letzten Jahren verstärkte die zuständige Provinz Noord-Holland – freilich zögerlich – den Druck auf Tata Steel. Mit rund 9.000 Beschäftigten und der Reputation als Ikone der niederländischen Industrie war das als „Königliche Hochöfen“ gegründete Unternehmen lange unantastbar. „Es ist traurig, dass etwas, das eigentlich der Staat tun sollte, nun durch Bürger*innen und Gericht geschieht.“
Eine von ihnen ist Sanne Walvisch, die im stark betroffenen Küstendorf Wijk aan Zee lebt. Sie ist eine der Gründerinnen der Stiftung FrisseWind.nu (Frischer Wind, jetzt), die mit einer Sammelklage mehr Wirkung erzielen möchte als viele einzelne Anzeigen es könnten. Nun will die Stiftung auch den politischen Druck erhöhen. „Es hat sich etwas getan im letzten Jahr“, erklärt Walvisch. „Bis dahin wurde das Thema als lokales Problem gesehen. Landesweite Politik und Medien nahmen es nicht auf. Nun sieht man Tata als den Verschmutzer, der er ist, und auch große Umweltorganisationen beschäftigen sich endlich damit.“
Dazu beigetragen hat nicht nur die Konjunktur von Klima- und Umweltthemen. Speziell in den Niederlanden steht der Fall Tata Steel im Kontext der erfolgreichen Urgenda-Klage, die 2019 den Staat zur umgehenden Reduzierung von Emissionen verpflichtete. 2021 wurde der multinationale Konzern Shell in Den Haag dazu verurteilt, seinen CO2-Ausstoß drastisch zu vermindern. Die damalige Klägerin, die Umweltorganisation Milieudefensie, wandte sich im Januar per Brief an 29 weitere „Großverschmutzer“. Sie sollen bis April einen Klimaplan vorlegen, sonst drohe auch ihnen eine Klage. Tata Steel ist einer der Adressaten.
Das Unternehmen macht derweil erneut Schlagzeilen. Wie die Lokalzeitung Ijmuider Courant enthüllte, lässt es Eisenerzreste und Steinkohle illegal in der Nordsee entsorgen. Ferner zeichnen zwei Webcams, von Anwohnern betrieben, die Emissionen des Stahlwerks auf. Die TV-Sendung „Hart van Nederland“ berichtete von „giftigen Metallwolken“, die ungefiltert aus den Schornsteinen kämen. Laut Anwältin Ficq könnten die Aufnahmen wichtiges Beweismaterial liefern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen