Verkehrswende in Amsterdam: Im Schattenreich der Fahrradstadt
Im Hafen von Amsterdam liegt einer der unbeliebtesten Orte der Stadt. Tausende falsch geparkte und abgeschleppte Fahrräder stehen im Fietsdepot.
Der Wind kennt keine Gnade. Mit einer neuen Böe nimmt er Anlauf, mich endgültig vom Board zu fegen. An Vorwärtskommen ist kaum zu denken, und so werden all die Vorratshallen, die Logistikzentren, die Zubringerbrücken zum Standbild. Erst als der Wind kurz abflaut, rolle ich weiter durch die Einöde von Westpoort, einem Gewerbegebiet im Amsterdamer Hafen. Noch zwei Kilometer. Ich verfluche den Wind, das Fietsdepot, den Samstagmorgen. Keine Menschenseele scheint hier draußen zu sein, bis auf einen türkischen Lkw-Fahrer, der auf einmal an einer Kreuzung vor mir steht. „Gibt es hier irgendwo etwas zu essen zu kaufen?“, will er wissen. Gibt es nicht.
Was mich bei diesem Wetter hier heraustreibt und das auch noch auf dem Skateboard, ist mein Fahrrad. Das ließ ich vor einigen Tagen durchaus fahrlässig vor der Centraal Station zurück, pünktlich zu Beginn des Parkverbots. In Amsterdam beginnt 2023 die Zukunft der Fahrradmobilität. Zwei neue Parkhäuser wurden zuletzt am Hauptbahnhof eröffnet, weiträumig, unterirdisch und architektonisch ansprechend. Medien überschlagen sich vor Begeisterung, nur: Jede andere Art von Parken ist nun verboten und führt dazu, dass das betreffende Rad auf einem Pick-up der Kommune nach Westpoort transportiert wird, 10 Kilometer vor den Toren der Stadt, ins Fietsdepot.
Das Depot fasst 12.000 Räder auf über 7.500 Quadratmetern. So abgelegen es ist, so zentral ist seine Rolle im Plan der Stadt, ihren Radler*innen Parkmanieren beizubringen. An immer mehr Orten Amsterdams tauchen in den letzten Jahren Beamte auf, um jene Räder, die nicht in Ständern stehen oder längere Zeit nicht vom Platz bewegt wurden, in dieses vom Wind gepeinigte Straflager zu bringen. Bis zum Bahnhof Sloterdijk kann man den Zug nehmen. Für die letzten gut vier Kilometer gibt es keinen öffentlichen Verkehr.
Keine Umerziehungsmaßnahme
Das Rad zurückholen kostet also Zeit. So viel, dass es einem den Tag versauen kann. Wobei eine Sprecherin der Stadt auf Anfrage per E-Mail betont, es habe mit Strafe oder Umerziehung nichts zu tun. Vielmehr seien Areale in dieser Dimension näher an der bewohnten Welt schlicht nicht vorhanden. Da die Kommune einem Interviewwunsch mit Ortstermin nicht entsprechen kann, schickte ich also mein Rad voraus an diesen Ort, der in einer Deutsche-Welle- Reportage einst als „Fahrrad-Fegefeuer“ bezeichnet wurde.
Während ich mich in den Wind lege, denke ich an den Beamten in seiner neongelben Jacke, der mit zwei Kollegen am Bahnhof das neue Parkverbot ausführte. Scannen, Schloss durchtrennen und ab auf die Ladefläche, das ist der Dreischritt ihrer Arbeit. 800 Räder gelte es an diesem Tag zu entfernen, sagte er. Ihre bisher „größte Operation“, denn normal seien 100. In der Stadt werden laut der Gemeindesprecherin pro Jahr rund 70.000 Fahrräder entfernt. Man kann sich vorstellen, dass das Depot bisweilen zu platzen droht.
Unterdessen, denke ich auf dem letzten Kilometer, fotografieren Tourist*innen weiterhin das romantische Motiv der Grachtenbrücken, deren Geländer von angeketteten Hollandrädern übersät sind – nicht wissend, dass diese Art des Parkens immer mehr zum sanktionierten Auslaufmodell wird. Und dass die betreffenden Räder wenig später an einem Ort landen können, der wie das Schattenreich der vermeintlichen Fahrradtraumstadt erscheint, eine Art Gegenentwurf zum Stereotyp der fröhlichen „Alles geht“-Stadt.
22,50 Euro Strafe
Der Eifer, mit dem im Rathaus die Schrauben angezogen werden, irritiert nicht wenige Amsterdamer. Auf Facebook tauschen sich Menschen in einer Gruppe namens „Fietsdepotmaffia“ aus. Außerdem gibt es in der Stadt inzwischen rund 900.000 Fahrräder und damit mehr als Bewohner*innen. Von Letzteren benutzt eine halbe Million täglich das Rad. „Fietsjungle von Amsterdam“ schrieb die Lokalzeitung Het Parool schon 2019. Wenn sich diese Tendenz fortsetzt, müssen wir als Preis für nachhaltige Mobilität dann eine Regulierung unserer sorglos-anarchischen Fahrradkultur hinnehmen?
Die Anpassung an die neue Mentalität fällt offenbar vielen in der Stadt nicht leicht. Während ich endlich in den Hof des Depots einbiege, kommt mir ein Mann um die 30 entgegen. Gemütlich tritt er in die Pedalen, einen Kaffeebecher in der Hand. Thomas ist hierhergejoggt, 11 Kilometer. Auch er ließ sein Rad am Bahnhof zurück, an dem Tag, als das Parkverbot wirksam wurde. Hat er die Schilder nicht gesehen, die es wochenlang ankündigten? „Ich kam einfach frühmorgens an, war noch müde und stellte mein Rad ordentlich in einen Ständer. An das Verbot dachte ich nicht.“
Dass er 22,50 Euro zahlen musste, um es nun zurückzuholen, widerstrebt ihm. Alternativ hätte er es sich auch liefern lassen können – für 35 Euro. Betrachtet man die Dimension von Verkehrsstrafgeldern in diesem Land, mutet beides freilich noch moderat an. Laut einem Beitrag des Lokalsenders AT5 deckt das die Kosten von 70 Euro pro Rad nur ansatzweise. Deshalb wurde die Zeit, in der sie im Depot für ihre Besitzer*innen aufbewahrt werden, drastisch reduziert: von einst drei Monaten auf zwei Wochen. Danach werden jene Räder, die in schlechtem Zustand sind, an Händler verkauft. Die machen sie wieder fahrtauglich. Die übrigen werden für soziale Zwecke gespendet, etwa ukrainischen Geflüchtete, schrieb die Sprecherin des Rathauses.
In schlechtem Zustand sind alle Räder, die sich im Eingangsbereich befinden. Menge und Zustand des Möwenkots, der viele von ihnen überzieht, lassen erahnen, dass sie wohl nicht mehr abgeholt werden. Überhaupt strandet so manches Vehikel hier: von jenen, die die Stadt „verwahrlost“ nennt, werde nur 1 Prozent abgeholt. Von Fahrrädern, die wochenlang in Ständern geparkt waren, ohne abgeholt zu werden, seien es 7 Prozent, von falsch geparkten in gutem Zustand 53 Prozent. Offenbar führt die Summe aus Bußgeld plus Zeitaufwand bei vielen Radler*innen zu dem Schluss, lieber billig ein neues zu erstehen.
Der Schlüssel muss passen
Julia, eine junge Frau, die mit warmem Stirnband und verlorener Mine zwischen all den Räderreihen steht, gehört nicht zu ihnen. Ihr Blick zeugt von der Orientierungslosigkeit, die Bewohner*innen des Stadtzentrums hier im Logistik-Outback des Hafengebiets leicht überkommt. „Ich bin zum ersten Mal hier und hoffentlich auch zum letzten Mal“, sagt sie schnaubend. Ein Stück des Weges legte sie mit dem Bus zurück, den Rest zu Fuß. „Ich verstehe schon, dass sie die Räder so weit rausbringen, sie brauchen natürlich Platz. Aber es wäre schön, wenn es zumindest öffentliche Verkehrsmittel hierhin gäbe.“ Neben dem Unmut ist da allerdings auch etwas Neugier auf das Depot. „Ich will diesen Ort doch einmal sehen.“
Dessen ganzes Panorama entfaltet sich erst eine Ecke weiter. Zwischen Stadtautobahn, Windrädern und Lagerhallen erstrecken sie sich reihenweise, die verwaisten, verwahrlosten und falsch geparkten Räder dieser Stadt. Schilder mit den Buchstaben A bis Q unterteilen das Gelände und vermitteln so etwas wie Orientierung in einem Meer aus Rahmen, Speichen und Lenkstangen, in denen sich das bisschen Licht dieses Tages fängt.
Im Rezeptions-Container muss ich ein paar Angaben zu meinem Rad machen. Doch da es sich nicht um ein Markenfabrikat handelt und es eine vage dunkelblaue Farbe hat, führen diese Angaben nicht direkt zu einem Treffer in der digitalen Kartei. Deswegen begleitet mich ein Mitarbeiter zu dem Abschnitt, wo die vielen Hundert Fahrräder stehen, die am betreffenden Tag hergebracht wurden. Die Suche dauert lange. Als ich es endlich entdeckt habe, folgt der Schlüsseltest: die Schlösser wurden zwar aufgebrochen, hängen aber noch immer an den Rädern. Nur wer seinen Karteiangaben den richtigen Schlüssel hinzufügen kann, fährt auf dem eigenen Sattel nach Hause.
„22,50! Damit hättest du auch was anderes machen können. Zum Beispiel die Wirtschaft ankurbeln“, wirft mir der Mitarbeiter zu, als ich, nachdem ich meine Akte unterschrieben und die Schulden beglichen habe, aus der Rezeption trete. Er selbst, bemerkt er grinsend, musste auch schon zweimal den langen Bußgang nach Westpoort absolvieren. Der Weg zurück in die Stadt zieht sich hin. Immerhin habe ich Rückenwind.
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